III.1.2 Literaturwiss. in Nationalphilologien

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Von Wolfgang HöppnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wolfgang Höppner

1.2 Literaturwissenschaft in den Nationalphilologien

Von einer disziplinär eigenständigen Literaturwissenschaft kann dem Begriff nach im frühen 19. Jh. nicht die Rede sein, wenngleich professionalisierte Textumgangsformen im Sinne wissenschaftlicher Beschreibung und Erklärung durchaus vorhanden waren. Noch im Jahre 1846, als die erste Germanistenversammlung in Frankfurt am Main mit über 200 Gelehrten aus allen Staaten des Deutschen Bundes und von nahezu allen deutschen Universitäten abgehalten wurde, trafen sich dort gemäß der ergangenen Einladung die Vertreter von Forschungen zum deutschen Recht, zur deutschen Geschichte und zur deutschen Sprache. Jacob Grimm, der von den Versammelten einstimmig zu ihrem Vorsitzenden gewählt worden war, hielt am letzten Tag der Beratungen einen kurzen Vortrag, in dem er die Repräsentanten dieser drei Wissenschaften unter dem Namen »Germanisten« zusammengefasst hat, deren einigendes Band »der begriff ihrer deutschheit« sei. Die Bezeichnung ›Germanist‹, deren ältester Beleg allerdings schon aus dem Jahre 1840 (in einem Brief Gustav Freytags und einem Artikel Karl Magers) stammt, macht in dem Grimm’schen Sinne zweierlei deutlich: Zum einen verweist sie auf die relative Weite des Gegenstandsbereiches (Recht, Geschichte, Sprache), für den sich die Germanisten zuständig fühlten, andererseits ist auffällig, dass in ihr die (deutsche) Literatur bzw. Dichtung keine exponierte Stellung einnahm und deshalb in der Begriffsbestimmung, wie Grimm sie vornahm, fehlte.

Wissenschaftliche Studien zur Literatur waren entweder integriert in ein weit abgestecktes Feld zur Erforschung der nationalen Kulturgeschichte, Bestandteil der sog. Textkritik oder historisch-vergleichender Untersuchungen sprachlicher und kulturgeschichtlicher Entwicklungen im indoeuropäischen Kontext. Literaturgeschichtsdarstellungen philologischer Provenienz blieben in diesem Zeitabschnitt eher marginal. Dies änderte sich im letzten Drittel des 19. Jh.s grundlegend, als Wilhelm Scherer und seine Anhänger den folgenreichen Versuch unternahmen, im Rahmen der ›modernen‹ Philologie nicht nur das theoretisch-methodische Instrumentarium der Literaturbetrachtung zu erneuern, sondern auch die Basis für die Emanzipation der neuphilologischen Studien von der Altphilologie zu schaffen.

In den fremdsprachlichen Philologien (vornehmlich Nordistik, Romanistik, Anglistik und Slawistik) verlief die konzeptgeschichtliche Entwicklung in vielerlei Hinsicht ähnlich wie in der Germanistik, wenngleich einige markante disziplinspezifische Besonderheiten (wie z. B. in Hinsicht auf die Konzepte der ›Romania‹ oder des ›Panslawismus‹) zu beachten sind. Letzteres trifft auch auf die Institutionsgeschichte der Germanistik sowie der fremdsprachlichen Philologien zu, die nicht nur zeitlich versetzt verlief, sondern auch im Hinblick auf die Gründung von Seminaren und die Ausbildung ihrer Binnenstrukturen sowie die Denomination der Professuren ihre je eigene Ausprägung hatte.

Die Entwicklung in den Nationalphilologien in der ersten Hälfte des 20. Jh.s soll vornehmlich vor dem Hintergrund der sog. ›geistesgeschichtlichen Wende‹ betrachtet werden, die einen mehr oder weniger starken Einfluss auf alle Neuphilologien hatte. Es ist der Frage nachzugehen, auf welche je spezifische Weise das Kapital der philologischen Konzepte des 19. Jh.s gewahrt, verändert oder sogar vermehrt wurde. [...]

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