I.4. Textwelten

Leseprobe

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

4.1. Vorbemerkungen und Textbeispiele

Literarische Texte können zur Welt- und Bedeutungsleere tendieren. Das ist dann der Fall, wenn die sprachlichen Zeichen in einem Text primär visuelle oder akustische Eindrücke vermitteln, wenn mit ihnen also gleichsam abstrakt gemalt wird (vgl. Abb.) oder wenn sie, was häufiger vorkommt, sinnfreie Zeichen für musikähnliche Tonfolgen sind, die beim lauten Lesen zu hören, beim leisen mit dem ›inneren Ohr‹ wahrzunehmen sind.

Das »Bildgedicht« (s. Abbildung) von Kurt Schwitters oder Christian Morgensterns Refrain »Lalu lalu lalu lalu la!« gehören zu den konsequentesten Beispielen dafür. Sie sind relativ selten. Wo mit sprachlichen Zeichen ›gemalt‹ oder ›musiziert‹ wird, sind diese meist zugleich auch gegenstandsbezogen, zumindest rudimentär. Und auch die ›poetische Funktion‹ sprachlicher Zeichenfolgen in literarischen Texten, die darin besteht, dass sie durch ihre artifiziellen Besonderheiten auf sich selbst und auf ihre eigenwillige Machart aufmerksam machen, und die aus guten Gründen als konstitutives Literarizitätsmerkmal gilt, ist so gut wie nie die einzige Funktion, in der Regel nicht einmal die dominante. Die weitaus meisten literarischen Texte stellen etwas dar, genauer: Sie artikulieren oder evozieren Vorstellun- gen von etwas. Sie sind gegenständliche Kunst, und das heißt: Mit den verwendeten sprachlichen Zeichen werden auf der Basis von Funktionsmechanismen verbaler Sprachen mentale Repräsentationen von Sachverhalten vermittelt, die denen mehr oder weniger ähnlich sind, die Autoren wie Leser literarischer Texte auch aus der Wahrnehmung ihrer nichtliterarischen Lebenswelt kennen.

Was die Textlinguistik, von der die Literaturwissenschaft einiges lernen kann und die ihrerseits von der Literaturwissenschaft viel gelernt hat (vgl. II.6.3), gerne ›Textwelt‹ nennt, ist ein mentaler Vorstellungszusammenhang, der durch einen Text ausgedrückt oder aktiviert wird. Literarische Texte, aber nicht nur literarische, können als Aufforderung verstanden werden, sich etwas vorzustellen. Man könnte auch sagen: Literarische Texte stellen keine Sachverhalte oder Ereignisse, sondern sprachliche Äußerungen dar, die dazu anhalten, sich etwas vorzustellen. Dieses ›etwas‹ sei hier als ›Text- welt‹ bezeichnet. Sie umfasst einerseits weniger als die ›reale‹ bzw. als ›real‹ vorgestellte Welt. Denn die von einem Text ausgedrückten oder beim Lesen aktivierten Vorstellungszusammenhänge sind immer nur ein Ausschnitt aus dem, was Autoren oder Leser an Vorstellungen über die Welt haben. Andererseits beinhaltet die Textwelt mehr als die ›reale‹ Welt, die Autoren und Leser kennen. Denn in den von literarischen Texten aktivierten Vorstellungszusammenhängen können auch Sachverhalte repräsentiert werden, die in der realen Welt nicht existieren oder deren Existenz zumindest als unwahrscheinlich gilt. »Und wie es [das Mädchen] so stand, und gar nichts mehr hatte, fielen auf einmal die Sterne vom Himmel, und waren lauter harte blanke Taler«.3 Leser des Grimm’schen Märchens »Die Sterntaler« werden zwar einzelne Vorstellungsbestandteile (in der Textlinguistik auch als ›Begriffe‹ oder ›Konzepte‹ bezeichnet) als mit den eigenen Realitätsvorstellungen vereinbar einschätzen – Mädchen, Sterne, Himmel, Taler –, nicht jedoch den gesamten Vorstellungszusammenhang (die ›Sinnkontinuität‹ in der ›Textwelt‹) (vgl. Vater 2001, 37 f.).

Die Kategorien und sprachlichen Ausdrücke, mit denen kommunizierende Subjekte sich einerseits in Textwelten, andererseits in realen Umwelten orientieren und über die sie sich verständigen, gleichen sich weitgehend oder werden, wenn sie differieren, miteinander verglichen. Die Hauptbereiche, auf die sprachliche Ausdrücke ›referieren‹ und die einen Teil ihrer Bedeutung ausmachen, sind (in geringfügiger Modifikation von Vater 2001, 88 f.) (1) Gegenstände (incl. Personen), auf die sich fast ausschließlich Nomina (Sterne, Himmel), Pronomina (es) oder komplexere Nominalphrasen (blanke Taler) beziehen, (2) diverse Gegenstände und Gegenstandskonstellationen umfassende Situationen und Ereignisse (Vorgänge, Handlungen), auf die sich ganze Sätze oder Satzfolgen beziehen (Situation: Das Mädchen stand da und hatte nichts mehr; Ereignis: Die Sterne fallen vom Himmel), (3) zeitliche Beziehungen zwischen Situationen (Das Mädchen ist arm, wenig später reich), (4) räumliche Positionierungen und Bewegungen von Gegenständen (Die Sterne fallen vom Himmel auf die Erde). [...]

Leseprobe aus  dem Handbuch Literaturwissenschaft. Sie können den Handbuch-Artikel nach Anklicken der Zeile „Leserbrief schreiben“ rechts unten auf dieser Seite kommentieren.