I.6.3 Textwirkungen

Leseprobe

Von Margrit SchreierRSS-Newsfeed neuer Artikel von Margrit Schreier

6.3 Textwirkungen

Einleitung und Überblick

Diskussionen über die Wirkungen literarischer Texte umfassen ein breites Spektrum, das von der These der gesellschaftlichen Funktionslosigkeit von Literatur bis hin zur Annahme weitreichender persönlichkeitsbildender und – vor allem in moralischer Hinsicht – erzieherischer Funktionen reicht. Gerade diese letztere wirkungsoptimistische Position hat in jüngerer Zeit viel Zuspruch erfahren. So argumentiert beispielsweise der Moralphilosoph Richard Rorty, dass literarisches Lesen das Gefühl zwischenmenschlicher Solidarität stärken kann, und Martha Nussbaum führt aus, wie literarisches Lesen universelle psychologische Prinzipien vermitteln und die Fähigkeit der Leserinnen und Leser zur ›narrativen Imagination‹ fördern kann (im Überblick Hakemulder 2000, Kap. 1). In den USA macht zu Beginn des 21. Jh.s sogar ein Resozialisierungsprogramm namens »Changing Lives through Literature« Furore, das ausgewählten Häftlingen die Möglichkeit bietet, einen Teil ihrer Gefängnisstrafe durch die Lektüre und Diskussion ausgewählter literarischer Texte zu ersetzen (wie beispielsweise Einer flog über das Kuckucksnest oder Ein Tag im Leben des Ivan Denissovitsch) – angeblich, bei einer Rückfallquote von unter 20%, durchaus mit Erfolg!

Aussagen über die Funktionen und Wirkungen literarischen Lesens gehen über die Beschreibung und Interpretation der literarischen Texte selbst hinaus. Sie beziehen sich auf die Leser dieser Texte, auf den ›realen Leser‹ also (vgl. I.6.2.). Die Frage, ob dem literarischen Lesen im Allgemeinen oder dem Lesen ausgewählter literarischer Texte tatsächlich die angenommenen Funktionen und Wirkungen zukommen, lässt sich nur durch die empi- rische Untersuchung von Lektüreprozessen und ihren Wirkungen beantworten. Auch methodisch wird bei der Untersuchung von Textwirkungen somit der traditionelle Gegenstandsbereich der Literaturwissenschaft verlassen, und zwar in Richtung auf die Adaptation und Anwendung empirischer Forschungsmethoden aus den Sozialwissenschaften.

Die Untersuchung von Textwirkungen bewegt sich somit im interdisziplinären Bereich zwischen Literaturwissenschaft einerseits und den Sozialwissenschaften andererseits, insbesondere der Psychologie, die sich bereits seit Längerem intensiv mit der Untersuchung der Wirkungen von Informationstexten befasst (vgl. Groeben/Vorderer 1988; Green/ Brock 2005). Der Vielzahl an Vermutungen über die Wirkungen literarischen Lesens auf literaturwissenschaftlicher Seite und der Vielzahl empirisch- psychologischer Befunde zur Wirkung von Informationstexten steht allerdings bisher nur eine vergleichsweise geringe Anzahl von Untersuchungen und Ergebnissen zur Wirkung literarischer Texte und literarischen Lesens gegenüber. Durchgeführt wurden solche Untersuchungen in erster Linie im Rahmen der Empirischen Literaturwissenschaft31, der Lese(r)forschung (im Überblick Groeben/Vorderer 1988) sowie in jüngerer Zeit auch in der Textwirkungsforschung innerhalb der Psychologie (auch: Persuasionsforschung; im Überblick Green/Brock 2005). […]

Leseprobe aus  dem Handbuch Literaturwissenschaft. Sie können den Handbuch-Artikel nach Anklicken der Zeile „Leserbrief schreiben“ rechts unten auf dieser Seite kommentieren.