I.9.8 Recht

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9.8 Recht

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Tendenzen der Forschung

Neu erwacht ist das Interesse an Zusammenhängen zwischen Literatur und Recht in Deutschland seit Anfang der 1980er Jahre. Ein Grund hierfür ist die Wahrnehmung der US-amerikanischen Strömung des sog. ›Law-and-Literature-Movements‹, einer Mode, die sich als Reflex auf die ökonomische Analyse des Rechts (›Law and Economics‹) entwickelte und die mittlerweile sogar schon so verbreitet ist, dass an der Mehrzahl der US-amerikanischen juristischen Fakultäten Kurse in ›Law and Literature‹ angeboten werden. ›Law and Literature‹ meint im ›klassischen‹ Sinne zweierlei: Zum einen ›law in literature‹, also die Analyse des in der Literatur dargestellten Rechts, und zum anderen ›law as literature‹, die Anwendung literaturwissenschaftlicher Methoden zur Interpretation juristischer Texte.

Obzwar der transatlantische Trend noch zu keinen wesentlichen Veränderungen in der deutschen Juristenausbildung geführt hat, beeinflusste er doch die Literatur-und-Recht-Forschung. Damit ist nicht allein das neu entfachte Interesse gemeint, sondern vor allem die neue Qualität, die die Auseinandersetzung mit dem Thema gewonnen hat. Seitens der Rechtswissenschaft fällt auf, dass sich nun unversehens auch solche Foren, die eigentlich für fachinterne Dispute reserviert waren, für die Beschäftigung mit Literatur öffnen. Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang insbesondere auf die seit 1982 jährlich erscheinenden ›Literaturhefte‹ der Neuen Juristischen Wochenschrift, eines juristischen Pflichtorgans. Während es sich dabei weitestgehend um einen exklusiven Kreis von Wissenschaftspersonal handelt – juristisch geschulte Interpreten schreiben für ebenso geschulte Rezipienten –, hat sich seitens der geisteswissenschaftlichen Forschung zu ›Literatur und Recht‹ ein neues Interesse am Dialog mit den Vertretern der juristischen Disziplin und anderer tangierter Wissenschaften entwickelt. Von diesen Fachvertretern wird im Rahmen einer neuen interdisziplinären Zusammenarbeit nicht verlangt, dass sie schlicht die für das Verständnis erforderlichen juristischen Hintergründe beisteuern, sondern es soll eine neue Form der Kooperation entwickelt werden, und zwar auch aus kulturwissenschaftlichen Perspektiven, indem etwa bestimmte Rituale ins Blickfeld gerückt werden, deren Kräften es über die Grenzen der Disziplinen hinaus nachzuspüren gilt.

Der neue, sowohl auf rechts- wie auf geisteswissenschaftlicher Seite mancherorts nicht zu verkennende Trend, eine neue Liaison zwischen Literatur und Recht zu entdecken, scheint jedoch dann problematisch, wenn die Grenzen der Fachdisziplinen in einer nicht zu verantwortenden Weise aufgeweicht werden. Es kann nicht darum gehen, Literatur als Quelle der Erkenntnis für die Lösung aktueller Rechtsfragen zu missbrauchen, sondern darum, historische Texte zu verstehen, die rechtliche Themen ihrer Zeit aufnehmen und auf spezifische Weise gestalten. Für dieses Verständnis bedarf es zum einen rechtswissenschaftlicher Kenntnisse, um die juristischen Zusammenhänge im Rahmen ihres genuinen Kontextes zu erhellen, und zum anderen literaturwissenschaftlicher Kenntnisse, um die Spezifika, die sie im Rahmen ihres neuen, literarischen Kontextes erhalten, analysieren zu können. In dieser Hinsicht bietet sich eine interdisziplinäre Zusammenarbeit natürlich an, und wie fruchtbar sich diese gestalten kann, das zeigen beispielsweise die von dem Literaturwissenschaftler Jörg Schönert initiierten Kolloquien, denen die jüngere Literatur-und-Recht-Forschung maßgebliche Impulse verdankt. Solche Forschungen beabsichtigen jedoch nicht, Literatur und Recht wieder in das ›gemeinsame Bett‹ zurückzulegen, aus dem sie laut Grimm einmal aufgestanden waren.

Leseprobe aus  dem Handbuch Literaturwissenschaft. Sie können den Handbuch-Artikel nach Anklicken der Zeile „Leserbrief schreiben“ rechts unten auf dieser Seite kommentieren.