II.2.1 Erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Grundlagen

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Von Harald FrickeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Harald Fricke

2.1 Erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Grundlagen

In welcher Weise kann es so etwas wie ›Erkenntnis der Literatur‹ überhaupt geben? Der polnische Literaturtheoretiker Roman Ingarden hat seine lebenslange Arbeit an dieser Frage 1968 in einem eigenen Buch zusammengefasst (Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, 1968). Aber seine spezielle Fundierung in der phänomenologischen Philosophie Edmund Husserls hat sich unter Literaturwissenschaftlern nie recht durchsetzen können.

Und die Einsichten der weltweit erfolgreicheren Analytischen Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie – vom ›Wiener Kreis‹ aus durch emigrierte Protagonisten wie Rudolf Carnap, Carl G. Hempel oder Karl Popper besonders in die angelsächsische Welt hinein ausgebreitet – haben bei Ingarden, wie noch immer in erheblichen Teilen literarhistorischer Alltagsforschung, kaum Berücksichtigung erfahren.

Die wichtigste und weitreichendste dieser Einsichten ist die in den engen Zusammenhang von Theorie und Empirie. Gerade bei einem so vielschichtigen Vorgang wie dem Lesen dichterischer Texte gibt es keine ›unmittelbare Wahrnehmung‹, keine naive Erfahrung von intersubjektiv gleichbleibenden ›Textfakten‹. Schon ganz normales Lesen als Zeichenidentifikation und -interpretation, erst recht die Imagination einer fiktiven Geschichte oder das Mitvollziehen eines gespielten Handlungsablaufs im Theater sind in hohem Maße von gelernten Erwartungen und unbewusst wirkenden theoretischen Vorannahmen gesteuert. Es gibt kein literarisches Lesen ohne Theorie im Kopf.

Solche Theorien aber durch Klärung ihrer Grundbegriffe und leitenden Hypothesen explizit zu machen (vgl. Aschenbrenner 1974; Timm 1992; Wagenknecht 1988) und auf ihre wissenschaftlich verallgemeinerungsfähige Geltung zu prüfen (vgl. Freundlieb 1978; Finke 1982; Göttner/Jakobs 1978), verlangt eine ständige Kontrolle an der Erfahrung – an gespeicherter Leseerfahrung wie an gezielter empirischer Überprüfung. So wie nach Kant Anschauungen ohne Begriffe blind, Begriffe ohne Anschauungen leer sind, so gilt auch in unserem Fach: Literaturwissenschaftlich relevante Erfahrung braucht reflektierte und schlüssige Konzepte; literaturtheoretische Reflexion braucht eine triftige und vielfältige Erfahrungsbasis. Nicht zufällig hat Carl G. Hempel, der Begründer des in vielen Wissenschaften maßgeblichen ›Hempel-Oppenheim- Schemas‹ der deduktiv-nomologischen Erklärung, seine Arbeit in die ewig wiederkehrenden beiden Grundfragen zusammengefasst: »What do you mean? And how do you know?« Auf literaturwissenschaftliche Erkenntnis angewendet also: (1) Was genau ›meinen‹ wir mit unseren theoriegestützten Fachbegriffen, in denen wir Literaturforschung betreiben? Und: (2) Auf welche Weise können wir sicherstellen, dass dabei – im Sinne von Platons Gegensatz von dóxa und epistéme – mehr als subjektive ›Meinungen‹ über Literatur herauskommen, nämlich so etwas wie an Erfahrungen kontrollierbares, intersubjektiv diskutierbares und vermittelbares ›Wissen‹? […]

Leseprobe aus  dem Handbuch Literaturwissenschaft. Sie können den Handbuch-Artikel nach Anklicken der Zeile „Leserbrief schreiben“ rechts unten auf dieser Seite kommentieren.