II.2.5 Erzähltextanalyse

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2.5 Erzähltextanalyse

Narrativität und Mittelbarkeit

Erzähltexte unterscheiden sich von anderen Textarten (beschreibenden, belehrenden, erbauenden, argumentierenden Texten) dadurch, dass sie eine Geschichte darstellen. Eine Geschichte wird konstituiert durch Figuren, eine Situation, in der sie sich befinden, und die Veränderung dieser Situation, wobei die Veränderung das spezifische Merkmal des Erzähltextes bildet. Die Minimalform einer Geschichte wird bereits durch eine einzige Zustandsveränderung gebildet. Diese Minimalbedingung wird schon durch den Satz »The king died« erfüllt, mit dem Gérard Genette das bekannte Beispiel unterbietet, das E.M. Forster für eine Geschichte gegeben hatte: »The king died and then the queen died.« Der König, der gestorben ist, bildet die Figur der Geschichte, die Situation, in der er sich befunden hat, ist sein Lebendigsein, die Zustandsveränderung der Übergang vom Leben zum Tode, der mit dem Verb ›sterben‹ bezeichnet wird.

Die Repräsentation von Zustandsveränderungen gilt in der neueren Narratologie etwa seit der strukturalistischen Wende der 1960er Jahre als das grundlegende Merkmal der Narrativität. Die Narrativität hat als Kriterium für narrative Repräsentationen die ›Mittelbarkeit‹ und die Vermittlung der Geschichte durch ein Erzählmedium verdrängt, die in der älteren Erzählforschung von Käte Friedemann (1910) bis Franz Stanzel (1979) als das Konstituens des Erzähltextes galten.

Narrative Repräsentationen scheiden wir in Darstellungen von Geschichten mit und ohne Erzähler (»diegetic« vs. »mimetic narratives«; Chatman 1990, 115). Zu Letzteren, den mimetischen narrativen Texten, gehört das Drama, der Film, das Ballett, die Pantomime, der Comicstrip und alle narrativen Gattungen der bildenden Kunst. Erzähltexte im engeren Sinne, um die es in diesem Abschnitt geht, stellen eine Geschichte und zugleich einen die se Geschichte präsentierenden Erzähler und sein Erzählen dar. Dieser Doppelaspekt des Erzähltextes, der in der traditionellen Scheidung von histoire (erzähltes Geschehen) und discours (Erzählung) seinen Ausdruck gefunden hat, macht eine zweifache Annäherung an diesen Texttyp in der Analyse erforderlich. Zum einen ist die erzählte Geschichte und der Charakter der in ihr dargestellten Zustandsveränderungen zu betrachten, zum anderen muss das Augenmerk den Aspekten der Mittelbarkeit gelten, der Kommunikationsstruktur und den Manifestationen der Perspektive.

Geschichte und Ereignis

Für die Erzähltextanalyse ist die Frage relevant, wie die erzählte Geschichte aufgebaut ist und durch welche Zustandsveränderungen sie gebildet wird.

Zustandsveränderungen, die die Geschichte eines Erzähltextes konstituieren, haben charakteristischerweise eine besondere Erzählwürdigkeit, eine Eigenschaft, die in der aktuellen Narratologie mit dem Terminus ›tellability‹ bezeichnet wird. Immer wiederkehrende, prozessuale Vorgänge oder triviale Veränderungen gelten in der Regel nicht als erzählwürdig. Zustandsveränderungen mit einer hohen Erzählwürdigkeit werden in der Narratologie als Ereignisse bezeichnet. Im Sprachgebrauch vieler Sprachen ist ein Ereignis ein besonderer, nicht alltäglicher Vorfall. Die Narratologie gebraucht den Begriff des Ereignisses in einem emphatischen Sinne, im Sinne der »ereigneten unerhörten Begebenheit «, mit der Goethe (zu Eckermann am 25.1.1827) den Inhalt der Novelle definiert.

Jurij Lotman, der führende Theoretiker der Moskau- Tartu-Schule, hat Definitionen des Ereignisses als einer Einheit des Sujetbaus gegeben, die in der westlichen Diskussion aufgegriffen und weiterentwickelt wurden. So bestimmt er das Ereignis als »die Versetzung einer Person über die Grenze eines semantischen Feldes« und im selben Zusammenhang als »bedeutsame Abweichung von der Norm«, als ein »revolutionäres Element«. In einer anderen Abhandlung definiert er das Ereignis als das »Überschreiten einer Verbotsgrenze«. Diese Grenze kann in Lotmans Konzeption eine topografische sein (wie im Märchen die Grenze zwischen Wiese und Wald), aber auch eine pragmatische, ethische, psychologische oder kognitive. Das Ereignis besteht demnach in der Abweichung von dem in einer gegebenen narrativen Welt Gesetzmäßigen, Normativen, dessen Vollzug die Ordnung dieser Welt aufrechterhält. Den ›Sujettexten‹, in denen sich eine Grenzüberschreitung ereignet, stellt Lotman die ›sujetlosen‹ oder ›mythologischen‹ Texte gegenüber, die nicht von den Neuigkeiten einer sich wandelnden Welt erzählen, sondern die zyklischen Iterationen und die Isomorphien eines geschlossenen Kosmos abbilden, dessen Ordnungen grundsätzlich affirmiert werden.

Jedes Ereignis impliziert eine Zustandsveränderung, aber nicht jede Zustandsveränderung bildet ein Ereignis. [...]

Leseprobe aus  dem Handbuch Literaturwissenschaft. Sie können den Handbuch-Artikel nach Anklicken der Zeile „Leserbrief schreiben“ rechts unten auf dieser Seite kommentieren.