II.2.8.2 Essay

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Von Georg StanitzekRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Stanitzek

2.8.2 Essay

In der deutschen literaturwissenschaftlichen Diskussion bildet der Begriff des Essays einen wichtigen Ansatzpunkt zur Diskussion primär expositorischer und begrifflich argumentierender Prosa183, die einem empirischen Autor zuzurechnen ist. Wenn man den Essay einmal unter dem Titel ›vierte literarische Gattung‹ verhandelt hat, dann insofern mit Recht, als damit auf eine gewisse Selbstvergessenheit der aristotelisierenden Literaturkonzeption hingewiesen wird, die auf die Gattungstrias von Epik, Lyrik und Dramatik setzt. Für die Literaturwissenschaft selbst kann man von einer doppelten Angewiesenheit auf den Essay sprechen: einer methodischen und einer operativen. In methodischer Hinsicht kommt üblicherweise dem Rekurs auf essayistische Texte des jeweiligen Objektbereichs eine bedeutende Rolle zu: Man liest sie oft (nur), um andere Texte zu verstehen. Und operativ wird das Genre von der wissenschaftlichen Metasprache selbst in Anspruch genommen. Trotz – oder eben gerade wegen – dieser Doppelrolle des Genres scheint dessen Konzeptualisierung von Unsicherheiten geprägt.

Essay als Quelle

Methodisch dienen Essays sowohl im Rahmen der Literaturinterpretation als auch dem der Literaturgeschichte als privilegierter Zugang zur Ermittlung und Beschreibung literarischen Sinns und literarischer Verfahren, sofern Autoren ihre ›dichterischliterarischen‹ Texte in essayistischer Form selbst kommentiert haben. Konventionell erfahren in dieser Hinsicht insbesondere poetologische Essays oder poetologisch-essayistische Abschnitte sonstiger Texte große Aufmerksamkeit seitens der Literaturwissenschaft. Gehört es nämlich zu deren Leitdifferenzen, primäre von sekundärer Literatur zu unterscheiden, so ist der poetologisch-essayistische ›Dichter‹-Text hierauf bezogen in besonderer Weise positioniert: Auf dem Gebiet des Primären stellt er eine Form sekundärer Rede zur Verfügung – es ließe sich daher auch formulieren: eine Form des maßgeblichen, des ›Primär-Sekundären‹ –, an die sich literaturwissenschaftlich, also ›sekundär-sekundär‹ auf bequeme Weise anschließen lässt. Im Sinne dieses gut eingespielten literaturwissenschaftlichen Vorgehens wird man Goethes Metamorphose der Pflanzen (1790) Begriffe abgewinnen, die sich für ein Verständnis des Bildungsromans mobilisieren lassen; man verwendet Hofmannsthals »Brief des Lord Chandos« (1902) als Begriffsspender für die Charakteristik einer ganzen literaturhistorischen Epoche – oder liest Elfriede Jelineks Essay »Die endlose Unschuldigkeit« (1970) als Programmschrift, der ein Schlüssel für die Interpretation ihrer übrigen Werke abzugewinnen ist. Eine dementsprechende Essayanalyse beschränkt sich auf die Extraktion begrifflich verfassten Sinns. In dieser Weise genutzt, erscheint der je betreffende Essay dann freilich nur in hermeneutisch supplementärer Funktion, eben als privilegierte Passage ins ›eigentlich‹ literarische Werk. So sah es etwa Schleiermachers Hermeneutik für die Genres ›freier Mitteilung‹, beispielsweise den Brief, vor: Ihr Wert leitet sich daraus ab, dass sie als poetologische ›Nebenwerke‹ zum Verständnis von ›Hauptwerken‹ beitragen.

Vermutlich hat es mit dem hier implizierten Wertgefälle zu tun, dass die germanistische Literaturwissenschaft sich schwertut oder auch überfordert sein mag, literarische Autoren, deren OEuvre sich auf Essays und vergleichbare Schriften be- schränkt, wahrzunehmen und als solche anzuerkennen. […]

Leseprobe aus  dem Handbuch Literaturwissenschaft. Sie können den Handbuch-Artikel nach Anklicken der Zeile „Leserbrief schreiben“ rechts unten auf dieser Seite kommentieren.