II.6.10 Geschichtswissenschaft

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Von Daniel FuldaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Fulda

6.10 Geschichtswissenschaft

Gesellschaftliche Funktion – Überblick

Unter den an der Philosophischen Fakultät vertretenen Fächern haben Literatur- und Geschichtswissenschaft ein besonders hohes Öffentlichkeitspotenzial. Sie können als die wichtigsten wissenschaftlichen Gestalter des ›kollektiven Gedächtnisses‹ gelten; indem sie Lehrer ausbilden, verbreiten sie ihre – historisch wechselnden – Bilderreihen von der Genese der Gesellschaft und ihres Symbolhaushalts bis in den staatlichen Schulunterricht. Dabei hat die Geschichtswissenschaft den ursprünglich gemeinsamen Bezugsrahmen ›Nation‹ stärker bewahrt, obwohl ihr Gegenstandsfeld globaler ist als das der vorwiegend auf einzelne Sprachen bezogenen Philologien. Auch den Bezug zum nicht-professionellen Publikum hat die Geschichtswissenschaft besser zu halten vermocht.

Weil sie mit dem Nationalsozialismus und seinen Verbrechen ein Thema von unbestrittenem Erinnerungsbedarf betreut, ist ihre Informations- und Reflexionsfunktion für das gesellschaftliche Selbstbewusstsein heute weit selbstverständlicher als die gesellschaftliche Funktion der Literaturwissenschaft. Von dem ursprünglich gemeinsamen Anspruch auf eine Weltdeutungs- oder sogar Sinngebungsfunktion hat sie sich weniger distanziert als die Germanistik, die ihn zuletzt in den 1970er Jahren, mit dem Programm einer ›kritischen‹ Gesellschaftsanalyse, vertrat. Unter den Begriffen ›kollektives‹ oder ›kulturelles‹ Gedächtnis sind solche gesellschaftlichen Funktionen in beiden Wissenschaften zum eigenen Forschungsgegenstand geworden, an dem zugleich disziplinäre Selbstreflexion betrieben wird.

Die Erwartungen der Öffentlichkeit an beide Disziplinen sind noch weitgehend von der im 19. Jh. etablierten Arbeitsteilung bestimmt: Von der Geschichtswissenschaft wird erwartet, »zu sagen, wie es eigentlich gewesen« ist (Leopold Ranke), und dies deutend auf die eigene Gegenwart zu beziehen, während die Erklärung der darüber geschriebenen »Phantasievariationen« (vgl. Ricoeur 1988–1991, Bd. 3, 201–221) als Aufgabe der Literaturwissenschaft gilt. An der Logik der beiden disziplinären Praxen orientiert sich hingegen die im Folgenden entwickelte Verhältnisbestimmung: Wie Literatur- und Geschichtswissenschaft zueinander stehen – was sie verbindet und was sie unterscheidet –, wird zunächst in einer idealtypisierenden Profilierung ihrer spezifischen Forschungsperspektiven umrissen, einschließlich des daraus folgenden Stellenwerts der Texte, die beide Wissenschaften interpretieren und produzieren. Nach einem Rückblick auf Interferenzen beider Disziplinen in ihrer Formierungsphase werden sodann neuere Forschungstendenzen vorgestellt, die grundsätzliche Bedeutung für das Verhältnis von Literatur- und Geschichtswissenschaft haben: das gestiegene Textualitätsbewusstsein in der Geschichtswissenschaft sowie die Entdeckung der Narrativität nicht nur einiger historiografischer Texte, sondern der spezifisch geschichtswissenschaftlichen Erklärung sowie des Begriffs der Geschichte. Beides hat die Geschichtswissenschaft der Literaturwissenschaft angenähert, weil es die Aufmerksamkeit für die Form der Quellen- wie Darstellungstexte steigert, aus bzw. in denen Geschichte geschrieben wird, und weil es für die entsprechenden Formanalysen literaturwissenschaftliche Kompetenz verlangt. Historiografie, Geschichtsbilder oder Phänomene der Geschichtskultur mit literaturwissenschaftlichen Methoden zu analysieren heißt jedoch nicht, diese Gegenstände der Literatur oder Fiktion zuzuordnen. Wie zuletzt am Beispiel des New Historicism skizziert wird, hebt auch das neuerdings verstärkte Kontextinteresse der Literaturwissenschaft die grundsätzliche Perspektivenverschiedenheit beider Disziplinen nicht auf.

Mit ›der‹ Literatur- und ›der‹ Geschichtswissenschaft sind Disziplinen bzw. Disziplingruppen von einer internen Pluralität angesprochen, die sich nicht allein durch Pluralendungen (Literatur-/Geschichtswissenschaften) abbilden lässt. […]

Leseprobe aus  dem Handbuch Literaturwissenschaft. Sie können den Handbuch-Artikel nach Anklicken der Zeile „Leserbrief schreiben“ rechts unten auf dieser Seite kommentieren.