Am Ende des tosenden Schneesturms

Urs Heftrich und Michael Špirit geben in ihrer Auswahl moderner tschechischer Lyrik unerwartete wie ungewöhnliche Blicke frei

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit einem Paukenschlag schließt diese Sammlung die dreibändige Serie tschechischer Lyrik von den Anfängen bis heute, die Teil der auf insgesamt 33 Bände angelegten "Tschechischen Bibliothek" ist. Furchtlos können die Herausgeber Urs Heftrich und Michael Špirit ihr Ergebnis an allen bislang vorliegenden Anthologien tschechischer Dichtung messen lassen.

Die gewaltige Vielfalt an Strömungen und Stilen, aber auch an Begabungen und Begebenheiten tschechischer Literatur im zwanzigsten Jahrhundert bis heute wurde von den Herausgebern in sechs nachvollziehbare Zeitabschnitte aufgeteilt: Erste Republik, Protektoratszeit, Nachkrieg und Stalinismus, Tauwetter und Entstalinisierung, "Normalisierung" sowie die Jahre nach dem Ende des "realen Sozialismus".

Die Vertrautheit mit der tschechischen Literatur ermöglicht es den Herausgebern, in Ihrer Auswahl sowohl die anerkannten Größen zu präsentieren, als auch jene Vertreter, die lediglich einem eingeweihtem Kreis von Lyrikliebhabern oder Literaturwissenschaftlern bekannt sind. So finden sich neben Vladimír Holan, Vítezslav Nezval, Jan Skácel und dem einzigen tschechischen Träger des Literaturnobelpreises Jaroslav Seifert auch Texte von Jan Hanc, Vít Obrtel, Petr Kabeš oder Zdenek Rotrekl. Autoren also, die auch in ihrer tschechischen Heimat nicht allzu bekannt sind, da sie in der Zeit während des "real existierenden Sozialismus" nicht publizieren durften. Die Schwierigkeit, jener Dreiteilung der tschechischen Literatur in eine offizielle, exilierte und im Untergrund zirkulierende Literatur gerecht zu werden, wurde von den Herausgebern hervorragend gemeistert.

Ein weiterer Vorzug dieses stattlichen Bandes liegt bei den Übersetzungen. Deutlich wird die Bemühung ersichtlich, auf möglichst unveröffentliche oder längst unzugängliche Übersetzungen zurückzugreifen. Bei den Übersetzern gelingt die Mischung zwischen renommierten Meistern wie zum Beispiel Peter Lotar, Peter Demetz oder Reiner Kunze aber auch jungen Übersetzern wie Jana Kubišta oder Bettina Kaibach, die bereits durch gediegene Arbeiten überzeugen konnte. Auch der Herausgeber Urs Heftrich hat sein übersetzerisches Einfühlungsvermögen nicht zuletzt anhand seiner umfangreichen Verdienste um das Werk von Vladimír Holan längst unter Beweis gestellt.

Gerade am Beispiel Vladimír Holans belegt Urs Heftrich in seinem versierten Nachwort die eigentümliche Verknüpfung der tschechischen Lyrik von politischem Schicksal mit einem wachen Bewusstsein der eigenen Sprache und ihren künstlerischen Möglichkeiten. Gegen Ende der Ersten Republik griff Holan das falsche Pathos an, mit dem im Jahr 1936 der 100. Todestag des Romantikers Karel Hynek Mácha gefeiert wurde. Statt nationaler Phrasen erinnerte Holan lieber an Máchas Sprachkraft: "Der Quell, den du aus seinem Fels schlugst, fegte / dich selber fort... doch bis an jenen Uranbruch, / von wo du ewig wiederkehrst, so wie das unentwegte / Gerausch der Poesie in Höhlen tief im Wörterbuch".

Es gehört zum Wesen der Literatur eines kleinen Landes im Herzen Europas, dass auch in scheinbar unpolitischen Texten zugleich eine Auskunft über den schicksalhaften Verlauf der böhmischen Länder zu entnehmen ist. Wie in einem Brennspiegel verdichteten sich gerade in dieser mitteleuropäischen Drehscheibe die wesentlichsten Ideenbündel. Demokratie und das Selbstbestimmungsrecht der Völker, Nationalsozialismus und Stalinismus - allesamt Schlagworte der politischen Szene, die mit einem ungeheuerem Niederschlag für das Land und nicht zuletzt seinen Menschen verbunden sind. So bilden neben den abgedruckten Gedichten auch die im Anhang skizzierten Lebensläufe der jeweiligen Autoren oft genug eine zusätzliche spannende Lektüre.

Es wird wohl diese Nähe zur unverstellten Wirklichkeit sein, die in der tschechischen Lyrik für eine eigenartige Mischung von Melancholie und Lebensfreude zeichnet. Bei aller Verspieltheit schimmert doch immer ein Lebensernst durch die Zeilen und selbst in tragischen Szenen finden sich vitalistische Einsprengsel.

In dem Gedicht "An diesem Sonntagabend" von Emil Juliš sinnt ein junger Mann in einer Winternacht über den gestrigen durchtanzten Abend mit einem Mädchen. Was weiß er eigentlich über sie? "Und gerade jetzt sind zwischen uns ausgestreckt / die langen, kalten Hände von Wind, Schnee und Dunkelheit. / Die Spuren der Freunde, die vor meinem Haus auseinanderlaufen, sind zugeschneit. / In dieser Stadt und in dieser Stunde / wissen von uns nur wir zwei, / jeder an einem Ende des tosenden Schneesturms...".


Titelbild

Urs Heftrich / Michael Spirit (Hg.): Höhlen tief im Wörterbuch. Tschechische Lyrik der letzten Jahrzehnte.
Mit einem Nachwort von Urs Heftrich.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2006.
446 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-10: 3421052557

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch