Die Gnade der Anakonda

Der Band "Wildlife Fotografien des Jahres, Portfolio 16" versammelt 100 wirklich ausgezeichnete Naturaufnahmen

Von Marion MalinowskiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marion Malinowski

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Wasser ist ihr Element. Anakondas lauern bevorzugt an Flussufern kurz unterhalb der Wasseroberfläche auf unvorsichtige Beute. "Sie zog sich zurück und wollte sich zwischen den Pflanzen verstecken, drehte dann aber um und kam auf mich zu. Sie schaute mir aus etwa 20 Zentimetern direkt ins Objektiv - zehn Sekunden, die mir wie eine Ewigkeit vorkamen", berichtet der französische Fotograf Michel Loup über seine Unterwasserbegegnung mit einem "sechs Meter lange[n] Weibchen".

Zahlenangaben im Zusammenhang mit Anakondas sind mit Vorsicht zu genießen (s. www.anakondas.de, Rubrik Mythos und Giganten). Die größte Schlange der Welt - ob sie auch die längste ist, konnte bislang nicht geklärt werden, diese Ehre macht ihr die Netzpython streitig - beeindruckt auf dem Foto, das Loup in dieser Situation schoss, mit ihrem breiten Schädel. Direkt aus der Bildmitte heraus scheint das Tier zu springen. Das Maul ist geschlossen und wirkt zahnlos wie bei einer alten Frau ohne Gebiss, was der Schlange einen geradezu freundlich-neugierigen Ausdruck verleiht. Nur der Blick aus den Knopfaugen ist starr. Sediment wirbelt auf, doch "[d]ann drehte sie um, und ihr riesiger Körper verschwand langsam im Dunkeln".

Die Aufnahme ist eine von rund 20.000, die für den vom Natural History Museum in London und der Zeitschrift "BBC Wildlife" ausgeschriebenen Wettbewerb "Shell Wildlife Photographer of the Year" eingereicht wurden. Eine Jury aus Fotografen und Bildredakteuren sichtet seit 1964 jährlich Naturaufnahmen, um den "Naturfotograf des Jahres" zu küren.

2006 ist es der schwedische Profifotograf Göran Ehlmé geworden, aber bei diesem renommierten Wettbewerb haben auch Amateure eine Chance. Seit 1984 werden Auszeichnungen in 15 Kategorien vergeben, darunter "Junge Naturfotografen, 10 Jahre und jünger". Mit gewitzten Ergebnissen.

Göran Ehlmés Element ist das Wasser. Er taucht hauptsächlich in der Arktis und der Antarktis, wo er fotografiert und filmt. Sein Siegerfoto zeigt ebenfalls aufwirbelndes Sediment, aber wenn ein Walross auf Nahrungssuche den Boden durchwühlt, wirkt dies wie ein Vulkanausbruch. Aus dem Zentrum des Wirbels blickt ein breitmäuliges Wesen mit puppenhaften Augen.

Die Natur hat dem Walross ein grimmiges Aussehen verliehen, und so trägt das Bild den unglücklichen Titel "Wühlmonster". Der begleitende Kurztext beginnt darüber hinaus wie bei der Sendung mit der Maus: Das Walross habe "schlampige Tischmanieren". Im Bemühen um Veranschaulichung kommt es im erläuternden Text zu jedem Bild manchmal zu solch vermenschlichenden Erklärungen und dramatisierenden Wertungen. Ausgerechnet das Siegerfoto sticht hier nicht zuletzt durch den wertenden und reißerischen Titel negativ hervor.

Über die Anakonda ist zu lesen, dass sie "gerne im Hinterhalt" lauert und ihre Opfer "erwürgt". Genau genommen zielt die Schlange jedoch nicht auf den Hals, sondern umschlingt ihre Beute und unterbindet die Blutzirkulation. Die Beute verliert das Bewusstsein und wird dann gefressen. An menschlichen Maßstäben gemessen eine vergleichsweise gnädige Tötungsvariante.

Auffallend häufig ist in den O-Tönen der Fotografen von dem Moment die Rede, in dem das Tier zu ihnen sah, sie 'anblickte'. Viele der 100 Fotos halten diesen 'Augen-blick' fest. Hier offenbart sich wohl die menschliche Sehnsucht, von diesen Mitgeschöpfen 'erkannt' zu werden und vom Tier eine emotionale Reaktion zu erfahren.

Umgekehrt ist eines der (Haupt-)Ziele des Wettbewerbs, "Menschen in der ganzen Welt über die Pracht, die Dramatik und die Vielfalt des Lebens zum Staunen" zu bringen. Tatsächlich schreibt der Betrachter dem fotografierten Tier nicht selten Emotionen zu, die zugleich Emotionen in ihm selbst auslösen: Streitende Pinguine schon auf dem Buchumschlag, ein durchdrehendes Rothkehlchen oder zwei schlummernde Seekühe laden zur Identifikation ein, und der Blick eines Gorillababys berührt trotz allgegenwärtiger Tiersendungen im Fernsehen nach wie vor.

Ob solche emotionalisierenden Naturfotos allerdings einen Effekt auf das eigene Verhalten haben, bleibt dahingestellt. In ihrem idealistischen Vorwort glaubt die Geschäftsführerin der International League of Conservation Photographers, Cristina Goettsch Mittermeier, an die Wirkungsmacht schöner Bilder, die mit "höherer Absicht" gemacht wurden, und an eine Sensibilisierung angesichts des "tragischen Verlust[s] unserer Natur", die auch zum Handeln führt oder führen kann.

Kontraproduktiv erscheint in diesem Zusammenhang das Sponsoring durch Shell. Hier zeigt sich, wie sensibilisiert die Marketingabteilungen von Energiekonzernen für Umwelt und Naturschutzbelange mittlerweile sind. In früheren Jahren sponserte die BG Group, ein Gaskonzern, den Wettbewerb. Über solche Widersprüche kann man hinwegsehen, wenn man sich weniger auf die hehre Absicht als vielmehr auf ein weiteres Ziel der Ausrichter konzentriert, nämlich "die Naturfotografie in den Status einer etablierten Kunstform zu erheben".

Wie künstlerisch Naturaufnahmen sein können, beweisen beispielsweise die unglaublich gelungenen Schneeeulenfotos des Franzosen Vincent Munier. Licht, Farben und Vogel fügen sich bei ihm zu einer ästhetischen Bildkomposition, bei der die Form die selbstbezogene Emotion überwindet. Selbst dann noch, wenn die Eule direkt auf den Betrachter zufliegt und ihn 'anblickt'.

Insgesamt ist es ein Bilderbuch für die 'westlichen' Städtebewohner. Afrika und Südamerika dienen wie so oft als Projektionsfläche 'reiner Natur'. Auch die begleitende Wanderausstellung spart die Weltgegenden, aus denen viele der Motive stammen, aus. Die Wettbewerbsjury setzte sich vornehmlich aus europäischen und amerikanischen Experten zusammen, und unter den ausgewählten Fotografen findet sich allenfalls ein Südafrikaner. Der Blick der (erwachsenen) Fotografen ist oft beschränkt auf das Außergewöhnliche, Seltene, Exotische. Gegenden, wo beispielsweise eine der längsten Riesenschlangen noch ungefährdet in Flüssen lauert. Aber auch Anakondas sehen schlecht. Da sich der Fotograf nicht rührt, dreht die Schlange ab und "verschwindet im Dunkeln". Letztendlich hat sie ihn - vielleicht doch gnädig - übersehen.

Das Museum "Mensch und Natur" in München präsentiert die Fotos in einer Sonderausstellung vom 9. Februar bis zum 22. April 2007, http://www.musmn.de/. Der nächste Wettbewerb startet im Frühling, nähere Informationen unter www.nhm.ac.uk/wildphoto.


Titelbild

BBC Wildlife Fotografien des Jahres. Portofolio 16.
Frederking & Thaler Verlag, München 2006.
160 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-10: 389405672X
ISBN-13: 9783894056728

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