Elixiere der Naturwissenschaft

Zu Ralf Schnells Sammelband "Wahrnehmung - Kognition - Ästhetik"

Von Bernhard DotzlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernhard Dotzler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man muss das Vorwort zu einem Sammelband nicht auf die Goldwaage legen, aber wenn es erstens mit Unkenntnis glänzt und zweitens die falschen Weichen stellt, verdirbt es die Sache, gleichviel was noch folgt. Georg Büchners "Über Schädelnerven" als "lehrreich" für die "aktuellen Fragen [...] nach dem Zusammenspiel von Gehirn und Geist, nach den physiologischen Bedingungen unseres Wahrnehmungsapparates" und so weiter hinzustellen, um im weiteren auf Gottfried Benns "Gehirne" als hochmodernistisches und Durs Grünbeins "Schädelbasislektion" als gegenwartsliterarisches Beispiel für das anhaltende Poeteninteresse am Thema hinzuweisen, ist lediglich nicht sehr originell, aber nicht geradewegs falsch.

Dann jedoch artikuliert das Vorwort sein Verwundern darüber, dass man der Begriffstrias, die dem Band seinen Titel gab, noch nicht - recte: "noch kaum" - "unter dem gemeinsamen Begriffsregister einer ,Aisthetik'" nachgegangen sei, und das, obwohl Walter Benjamins These von der Historizität auch der Sinneswahrnehmung seit langem zu den "Axiomen der Medientheorie" zähle. Dabei liegen Bücher nicht nur über "Kunst und Gehirn" (Reinbek 2001), sondern auch über "Wahrnehmung und Geschichte" (mit dem Untertitel: "Markierungen zur Aisthesis materialis", Berlin 1995) wie über "Mediengebrauch und Erfahrungswandel" (Göttingen 2003) durchaus vor: letztere mit ausdrücklicher Bezugnahme auf Benjamin.

Freilich fehlt in beiden die Neurobiologie. Dass sie im Zentrum steht, macht den von Ralf Schnell herausgegebenen Band zu einem wiederum nicht mehr allzu originellen, aber beachtenswerten Unterfangen. Doch wie sollen die Neurobiologie und - mit der zweiten Hälfte des Untertitels - die Medienwissenschaften hier zueinander ins Verhältnis gesetzt werden? Applikativ, rät das Vorwort. Es scheine, heißt es dort, "der Gedanke nicht abwegig, dass sich das mittlerweile hoch elaborierte Instrumentarium der Neurowissenschaften auf Phänomene der Medienentwicklung [...] mit der Aussicht auf einen Zugewinn an Erkenntnis applizieren ließe".

Inwiefern "mittlerweile hoch elaboriert", möchte man da zum einen fragen. Wären Wundt, Helmholtz und Ebbinghaus unter die Primitiven zu rechnen? Und was hieße es, das besagte "hoch elaborierte Instrumentarium" anzuwenden? Sollen also neurowissenschaftliche Experimente zur Untersuchung mediengeschichtlicher Phänomene durchgeführt werden? Gemeint ist wohl: Die Naturwissenschaften sollen je auf ihrem aktuellen Niveau rezipiert und medienwissenschaftlich adaptiert werden - in der Art etwa, wie unlängst Winfried Menninghaus dem "Versprechen der Schönheit" (Frankfurt/M. 2003) im Anschluss an die avancierte Evolutionstheorie und Johannes Fried den "Grundzügen einer historischen Memorik" ("Der Schleier der Erinnerung", München 2004) in Bezug auf die moderne Kognitions wissenschaft nachgegangen sind.

Also kommen als erstes die Neurobiologen selber zu Wort. Von Gerhard Roth ist ein Auszug aus seinem Buch "Aus Sicht des Gehirns" wiederabgedruckt; Eckart Voland erklärt die evolutionsbiologische Herleitung des ästhetischen Urteils als adaptiven psychischen Mechanismus; Manfred Fahle situiert "die Ästhetik im weiteren Sinne" auf der Seite der "Erwartungshaltungen", die der "bottom up"-Signalverarbeitung bei der cerebralen Wahrnehmungskonstruktion "top down" entgegenkommen; Siegfried Frey erläutert die Dominanz der visuellen über die verbale Kommunikation unter Verweis auf den "quasi zu unserer ,biologischen Grundausstattung' gehörende[n] Mechanismus der sensorischen Eindrucksbildung"; und Eckart Altenmüller fokussiert die Neurobiologie der Emotion, um sich auf die Spur eines Phänomens zu begeben, "das als SEM (,Strong Emotions in Music') bekannt ist", die Spur einer evolutionären und neurophysiologischen Erklärung für "die einzigartige Rolle der Musik und ihr Verhältnis zur Sprache", die und das, wie Altenmüller gleich zweimal anmerkt, in Marcel Prousts "Recherche" "meisterhaft geschildert", "meisterhaft [...] in Worte gefasst" seien.

Die Literaturwissenschaft, scheint ein solches Beispiel zu belegen, sollte vom Import neuester naturwissenschaftlicher Erkenntnisse also nur profitieren können; ähnlich die anderen geistes-, sozial- und kulturwissenschaftlichen Fächer (denn Hand aufs Herz: Nichts Menschliches ist diesen Fächern fremd und wäre nicht schon irgendwo in ihrem weiten Gegenstandsbereich meisterhaft zur Darstellung gekommen). Peter M. Hejls den Band beschließender Beitrag schlägt denn auch ganz diese Richtung ein. "Medienwissenschaftliche Einsichten könnten durch eine Zusammenarbeit mit Wahrnehmungsbiologen theoretisch und empirisch besser fundiert werden", heißt die Devise, die bis hin zur berüchtigten Infragestellung der menschlichen Willensfreiheit im Gefolge der Experimente Benjamin Libets gelten soll: Der stolze "aktive Mediennutzer", der den so lange unterstellten "passiven Rezipienten" in jüngerer Zeit theoretisch abgelöst hat, kommt womöglich vorzeitig in die Jahre.

Vor diesem recht umstandslosen Plädoyer, sich auch auf medienwissenschaftlicher Seite den Bio- als den aktuellen Leitwissenschaften anzuschließen, stehen allerdings zwei Beiträge, die Bedenken anmelden. Die Neurobiologie, schreibt K. Ludwig Pfeiffer, erlaube oder er zwinge durchaus, die alten ästhetisch-aisthetischen Fragen "begrifflich und methodisch anders zu fassen", als dies den "intradisziplinär jeweils gehegten Vorstellungen" entspräche. Nur folge daraus nicht die oft mit ausgerufene Weltbildrevolution: "Die Neurobiologie, so glaube ich, wird uns keine erkenntnistheoretischen oder ontologischen Umwälzungen bescheren. Sie löst die Probleme nicht, welche die Kultur- und Denkgeschichte über 2.000 Jahre aufgehäuft hat; allenfalls löst sie diese etwas vorschnell auf".

Ins Dickicht kulturgeschichtlicher Quellenfunde führt deshalb auch Karl Clausbergs umfangreiche Materialsammlung zur Verflechtung von Astronomie, Filmtheorie und Geschichtsphilosophie (inzwischen in erweiterter Form auch als selbständiges Buch mit dem Titel "Zwischen den Sternen: Lichtbildarchive", Berlin 2006, erschienen). Am historischen Material, so Clausberg, erweist sich, dass "gerade in Schlüsselbereichen der menschlichen Vorstellungsleistungen mit größeren Freiheitsgraden, Eigenwilligkeiten und überraschenden Wendungen von individueller Einsichtsfähigkeit und kollektiv kultureller Selbstzurichtung zu rechnen" ist, als es den "exklusiv evolutionsbiologi schen und kognitiv-neuronal begründeten Kulturmodellen" nach "vorgesehen" scheint.

Es sei dahingestellt, ob dergleichen kultur- und diskursgeschichtliche Situierungen überlieferter Wissensbestände nicht neben den "größeren Freiheitsgraden" schlicht auch andere Determinationen des Wahrnehmens und Denkens herauszuarbeiten und so der subjektverhafteten Kognitionswissenschaft Paroli zu bieten hätten. Jedenfalls aber sind "Import" und "Übernahme" naturwissenschaftlicher Erkenntnisse etwas anderes als Aufklärung über sie, als ihre Analyse, ihre medien- oder allgemein kulturwissenschaftliche Anamnese. Dass die "Elixiere der [Natur-]Wissenschaft" genaueste Beachtung verdienen, weiß man nicht erst seit Hans Magnus Enzensberger (und das "Jahrzehnt des Gehirns" war bereits in den 1990ern ausgerufen worden). Auf bestimmten Gebieten wie etwa der Medienwirkungsforschung müssen aus der Kenntnisnahme auch Applikationen folgen (schon Marshall McLuhan versuchte, an Wilder Penfield, Alexander R. Lurija und Julian Jaynes anzuschließen).

Doch vermag sich die Medienwissenschaft im Ganzen durchaus mit etwas mehr eigenständiger Klugheit zu positionieren. Wahrnehmungen, sagt ihr die Hirnforschung, entstehen "durch die elektrische Aktivität in Neuronenverbänden". Daran zu rütteln, wäre allenfalls eine Sache ebendieser Hirnforschung selbst, die aber im Gegenteil fortgesetzt an der experimentellen Erhärtung ihrer Grund annahme arbeitet. Um so mehr bleibt die Frage, wie es zu dieser Art von Objektwerdung des Gehirns eigentlich kam und welche begrifflichen und apparativen - also medialen - Instrumente sie tragen. Dies ist nun gerade nicht Sache der Hirnforschung selbst, sehr wohl dagegen der Medienwissenschaft.


Titelbild

Ralf Schnell (Hg.): Wahrnehmung - Kognition - Ästhetik. Neurobiologie und Medienwissenschaften.
Transcript Verlag, Bielefeld 2005.
261 Seiten, 22,80 EUR.
ISBN-10: 389942347X

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