Die Geschichtlichkeit der anderen Geschichte

Zu Peter Handkes Orts- und Zeittafeln

Von Christian LuckscheiterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Luckscheiter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Handke-Leser wissen nicht unbedingt mehr, aber sie haben in letzter Zeit ganz schön viel zu tun, vor allem wenn sie nicht nur Handke lesen, sehen und hören wollen. Sagte und schrieb Peter Handke 2003 am Ende seiner Rede zur Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Universität Salzburg noch, dass er sein 'Idiotentum' dort das letzte Mal öffentlich gezeigt habe und man ihn vor Gericht bringen könne, wenn er noch einmal im Leben öffentlich auftreten sollte ("Einige Anmerkungen zum Da- und zum Dort-Sein"), so war er allein in diesem Jahr unter anderem bereits als Gast des ZDF-Nachtstudios relativ ungereizt mit Volker Panzer plaudernd zu erleben oder als Interviewter im Magazin "Cicero" zu lesen.

Zusammen mit den Büchern der letzten Monate von Handke und um ihn herum - über 500 Seiten "morawische Nacht", der Briefwechsel mit Alfred Kolleritsch, Hans Höllers Rowohlt-Monografie, "wunschloses Unglück" im Großdruck, Prolegomena zum Peter-Handke-Wörterbuch, die von Ulla Berkéwicz herausgegebene Gedichtsammlung "Leben ohne Poesie", Gespräche mit Michael Kerbler, noch einmal "Noch einmal für Thukydides" als Band 1421 in der Bibliothek Suhrkamp und über 600 Seiten Orts- und Zeittafeln (und nicht zu vergessen das jeweils enorme mediale Echo) - ergibt das eine Zeichenmenge, in der man sich und den Überblick leicht verlieren kann.

Da passiert es dann eben auch, dass etwa Hubert Spiegel in der "FAZ" davon schreibt, Handke gehe es künftig darum, das literarische Lebenswerk "zum Ausklingen zu bringen". Das ist erstaunlich angesichts der (nicht nur) derzeitigen medialen Präsenz, vor allem ist es aber nicht genau genug. Im Interview mit "Cicero" sagt Handke lediglich, dass ihm "manchmal der Gedanke" komme, das Lebenswerk zum Ausklingen zu bringen.

Diese Berichtigung mag nun ein wenig erbsenzählend anmuten, soll jedoch einmal mehr auf das Problem hinweisen, wie generell ungenau Feuilletonisten meist lesen müssen und wie sie dadurch auch immer neues Feuilleton (und öffentliche Meinung) produzieren. Problematischer wird es, wenn jemand wie Hubert Spiegel anscheinend für die 'Werktags'-Ausgabe der "FAZ" das (Meinungs-)Monopol auf Handke-Besprechungen hat und also - angesichts seines wohl von Marcel Reich-Ranicki übernommenen Vorurteils - meist schon vor dem ersten Rezensions-Satz klar ist, dass hier nur ein weiterer Verriss zu lesen sein wird, der auf (böswillig?) ungenauer und selbstherrlicher Lektüre zurückzuführen ist.

Daher ist es besonders schade, dass in dem zum Blättern und zum Hineinlesen sehr einladenden Sammelband "Meine Ortstafeln. Meine Zeittafeln. 1967-2007" gar nicht alle von Handke bisher veröffentlichten Essays zu finden sind. Einige wurden außen vor gelassen, wie zum Beispiel der kleine Text "Marcel Reich-Ranicki und die Natürlichkeit" aus "Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms", geschrieben 1968. Hier zeigt Handke schon früh sehr genau auf, mit welch eingeschränktem Literaturbegriff und -verständnis Reich-Ranicki arbeitet: "Formalistische Methoden beim Schreiben lässt er [Reich-Ranicki] nicht gelten. Er hält sie nicht für Probleme der Literatur, sondern für private Schwierigkeiten des Literaten, mit denen 'der Leser' nicht behelligt werden möchte. Das erkennbare Machen von Literatur verniedlicht Reich-Ranicki, indem er dafür das beliebte Wort 'Basteln' verwendet; auch 'Laborkunst' ist ein gängiges Automatenwort; Argumenten, die ihm entgegenhalten, dass das Basteln nur eine Suche nach noch nicht eingängig, das heißt, natürlich gewordenen Methoden ist, der Wirklichkeit des jeweils Schreibenden habhaft zu werden, begegnet er mit dem einfachen Hinweis auf bestimmte Autoren, die schreiben, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist: diese Autoren strafen, so meint er, die Pseudoavantgardisten, die Totengräber der Literatur, mit ihren gut gewachsenen Schnäbeln Lügen. Dass auch die realistische Methode nicht Natur, sondern gemachtes Modell ist, dass sie am Beginn ihrer Verwendung gekünstelt und gebastelt gewirkt hat und nur durch den Gebrauch und die Gewöhnung natürlich erscheint, will er nicht merken."

Es ist auch editionsphilologisch unverständlich, warum diese bis heute gültige Kritik, die Hubert Spiegel gerne lesen würde, nicht mit abgedruckt worden ist - weil Reich-Ranicki für Handke keine seiner Ortstafeln ist? Wenn man schon eine Gesamtausgabe herausgibt, warum werden dann nicht auch alle bisher publizierten Essays versammelt, zumal einige der Texte hier bereits zum vierten Mal abgedruckt sind? Wenn es also anscheinend nicht darauf ankam, eine Essay-Gesamtausgabe im Rahmen eines Gesamtwerk-Gedankens herauszubringen, in der die Texte erscheinen, weil sie versammelt sein sollen, sondern weil sie nach wie vor als lesenswert gelten, dann hätte man aber bei einigen der Texte, vor allem bei den politischen aus der Zeit um 1970, ebenfalls noch mal überlegen können, ob es sich über ein historisches Interesse hinaus wirklich lohnt, sie zum wiederholten Male zu veröffentlichen.

Außerdem könnte die zitierte Kritiker-Kritik auf Handke selbst zurückgebogen werden: "Peter Handke und die Natürlichkeit". Denn dass beispielsweise auch das von Handke so geliebte 'bloße' Gehen in der Landschaft letztlich extrem voraussetzungsreich ist und etwa im Vergleich zum Bergfahrradfahren - so brutal es einem vorkommen mag - eben nicht Natur, sondern geschichtlich bedingt ist und vor Jahrhunderten eben so undenkbar war wie es allmählich vielleicht wieder vergessen wird, übersieht er.

Warum ist Handke so sehr von der Einsicht in den Konstruktionscharakter jeder Literatur abgerückt hin zur Behauptung der Naturhaftigkeit dessen, was er "schaut"? Versuche, über diese Behauptungen mit ihm im offenen Gespräch nachzudenken, wurden und werden von ihm jedoch, wie die Interviews zeigen, meist abgeblockt. Er möchte, so scheint es, seine eigenen 'Denkschablonen' nicht sehen. Von der Literatur erhoffte er sich mal (und erhofft er sich wohl noch), dass sie alle endgültig scheinenden Weltbilder zerbricht. Nicht nur die Essays zeigen, dass er selbst nicht um ein solches starkes Weltbild herumgekommen ist (wer wäre das allerdings je gänzlich?). Auf der einen Seite macht das vor allem seine Essays zur Literatur so lesenswert, weil die besprochene Literatur vielleicht nur mit einem relativ sicheren Urteilsmaßstab auf eine Weise erscheinen kann, dass man große Lust dazu bekommt, sofort in die Bibliothek zu gehen und diese Bücher zu lesen. Dadurch, dass für Handke aber klar festzustehen scheint, was man beispielsweise mit der Sprache anstellen darf und was nicht, dass etwa Begründungsworte - "weil", "obwohl" et cetera - abgelehnt werden, also auch von ihm wiederum nur ein bestimmtes Bild der Welt zugelassen wird, gerät auf der anderen Seite die Lektüre so mancher seiner Essays zur Mühsal. Durch das Fehlen oder den Abbruch der Reflektion seiner eigenen Annahmen werden viele Aussagen oft ärgerlich apodiktisch, was Handkes literarischem Werk wenig entspricht.

Das Apodiktische lässt sich jedoch sicherlich auch auf den "Versuch des Exorzismus der einen Geschichte durch eine andere", wie ein Text in "Noch einmal für Thukydides" heißt, zurückführen - auf den Versuch (und das Programm) Handkes, im Reich der Literatur eine friedvolle Geschichte zu erzählen, fern des apokalyptischen Grauens, fern der Kriege, fern aber auch von den Zwängen, mit denen die (kollektive) Geschichte und Sprachbenutzung dem Einzelnen die Freiheit eines freien Seins-Entwurfs und eines eigenen Blicks auf die Dinge verstellt. Für solch einen Versuch scheint es unerlässlich, sich das Wissen beziehungsweise die Ahnung anzumaßen, was dem Menschen und der Natur und der Erde angemessen ist und was nicht.

Zwar scheitert dieser Versuch. Das lässt sich schon allein daran erkennen, wie sehr die Geschichte, vor allem der Zweite Weltkrieg und die Shoah, das Gesamtwerk Handkes als Hintergrund bis heute prägt. Immer wieder droht selbst das friedvollste Bild von der Geschichte durchbrochen zu werden, und nicht selten zerbricht es. Doch statt des Hinausbeschwörens der einen Geschichte soll am Ende dann sogar eine Verstärkung dieser einen durch den Kontrast mit der Erzählung einer anderen Geschichte, derjenigen, die Handke entwirft, gelungen sein.

Inwiefern die Kinder von Izieu, wie Handke schreibt, "erst recht" dadurch schreien, dass der Ort ihres Abtransports in das Vernichtungslager Birkenau ein halbes Jahrhundert später von ihm als friedlicher Ort beschrieben wird, an dem der Sommersonntagswind bläst und ein kleiner blauer Falter sich im Halbkreis dreht, ist eine Frage, die je nach Beantwortung Handke zum skandalösen oder zum bedeutenden Schriftsteller werden lässt.

Die kleinen Epopöen in "Noch einmal für Thukydides" sind in ihrer Anmut und ihrer Aufmerksamkeit für Details in der deutschsprachigen Literatur der letzten Jahrzehnte eine Besonderheit. An der Geschichtlichkeit, der geschichtlichen Bedingtheit (des Denkens) jeder anderen Geschichte ist allerdings, egal wie man Handke liest, wenig zu zweifeln.


Titelbild

Peter Handke: Meine Ortstafeln Meine Zeittafeln. Essays 1967-2007.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
624 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783518419472

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Peter Handke: Noch einmal für Thukydides.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
110 Seiten, 11,80 EUR.
ISBN-13: 9783518224212

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