Die unverdienten Leichtigkeit des Seins

Wolfgang Engler wünscht uns in „Lüge als Prinzip“ ein besseres Leben im falschen

Von Anne KramerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Kramer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist wieder so weit: Kurz vor der Bundestagswahl entscheiden sich Politiker notorisch gegen Ehrlichkeit, machen die halsbrecherischsten Versprechungen, jemand öffnet gar eine Wundertüte prall gefüllt mit vier Millionen neuen Arbeitsplätzen. Dabei weiß doch inzwischen jeder, dass von Vollbeschäftigung nur noch Märchenonkels sprechen, da die Rendite erst so richtig steigt, wenn Arbeitsplätze abgebaut werden. Egal, Politiker vereinbaren mit Unternehmern, die Massen doch bitte erst nach den Wahlen zu entlassen, um bis dahin weiter blühende Landschaften versprechen zu können.

Bis auf wenige Ausnahmen, so der Autor Wolfgang Engler, lügen Politiker heute aus Leidenschaft. Und da sie gut davon und damit leben können, wird sich das auch nicht mehr ändern. Allerdings findet er ausgerechnet bei den Unternehmern einige, die sich ein Wirtschaften jenseits des abstrakt gewordenen Kapitalismus wünschen, den Verlockungen der Finanzjongleure bislang widerstehen konnten, aber die dafür dringend notwendigen Rahmenbedingungen und eine gewisse Kultur der Aufrichtigkeit vermissen. Fehlen diese weiter, würden auch sie früher oder später in den Krisenstrudel hineingezogen. Längst nehmen Lobbyisten nicht bloß Einfluss, nein, sie schreiben die Gesetze immer häufiger gleich selbst und lassen sich das als Beraterleistung noch fürstlich honorieren. Hybride Zwitterwesen aus Politik und Wirtschaft machen den Wettbewerb und den Konkurrenzkampf härter denn je.

Engler, der derzeit die Schauspielschule „Ernst Busch“ in Berlin leitet, setzt mit seiner Studie „Lüge als Prinzip. Aufrichtigkeit im Kapitalismus“ beim Grundlegenden an: Unter der Voraussetzung, dass die kleinste Einheit nicht der Mensch, sondern Menschen sind, fragt er, woher überhaupt eine moralische Perspektive komme und vermutet den Grund zunächst in der Erfahrung gegenseitiger Abhängigkeit. Vernünftigerweise erschlägt der Mensch den anderen nicht – er könnte ihn ja noch brauchen. Die Geschichte der Kriege und blutigen Konflikte beweist allerdings, dass man sich nie sicher sein kann, ob der andere ebenfalls über diese Einsicht verfügt. Es muss sich also verständigt werden, und wie bei jeder Vermittlung gibt es dabei keine Garantien oder gar Eindeutigkeit. Wo verschiedene Deutungen möglich sind, wo es also auch zu Missverständnissen kommen kann, schwingt der Verdacht stets mit.

Die Frage nach dem Verhältnis von Vernunft und Sprache beschäftigt den Soziologen Engler seit über 20 Jahren. Noch als DDR-Wissenschaftler schrieb er eine Abhandlung zur Konstruktion von Aufrichtigkeit. Engler offenbart in seinem neuen Buch, dass die damalige Studie zwar viele Fehler enthält, die Grundfrage ihm aber wichtiger denn je erscheint. Ihn stört mittlerweile nur seine mangelnde Distanz zum Jargon intellektueller Moden der 1980er-Jahre und deswegen besteht das längste Kapitel seines aktuellen Buches auch in einer Übersetzung des eigenen Textes in eine jargonfreie Version. So hieß es früher beispielsweise: „Vernunft umstandslos in sprachliche Kommunikation oder in metakommunikative Präskriptionen der argumentativen Einlösung erhobener Geltungsansprüche aufzulösen, lag dem Descart’schen Begründungsansatz neuzeitlicher Philosophie noch fern.“ Inzwischen klingt das eleganter: „Die menschliche Vernunft der Sprache auszuliefern, dem gesprochenen Wort, weigerte sich die Philosophie noch lange nach ihrer Frühblüte in der griechischen Antike.“

Wie viele im Westen, aber nur wenige im Osten, hat Engler sich an Michel Foucault und Niklas Luhmann geschult. Er ist auch heute noch von beiden geprägt, hält aber mittlerweile „die Abdankung des subjektiven Faktors“ für verfrüht. In seinem Einleitungskapitel beschreibt er, wie im real existierenden Sozialismus der subjektive Faktor auf Veranlassung der Staatsgewalt abdankte und die Herrschenden den Bürger gerade deshalb innerlich nicht auf ihre Seite zu ziehen vermochten. Nach der Wende und im Laufe seiner weiteren Studien konnte Engler beobachten, wie gründlich gerade das dem westlichen Kapitalismus gelungen ist – scheinbar ganz ohne Herrschaft. Und leider mit gravierenden Nebenwirkungen. Um diese leidenschaftliche Anbindung des Individuums an den mittlerweile abstrakt gewordenen Kapitalismus zu erklären, rekonstruiert Engler zunächst die lange Geschichte der Widerstände gegen die absolutistische Herrschaft. In dieser Emanzipationsgeschichte des Bürgertums spielte der Begriff der Aufrichtigkeit seit dem 17. Jahrhundert die zentrale Rolle. Aufrichtigkeit wurde zum „Kenn- und Fadenwort“ eines Bürgertums, das sich mittels einer anderen Art des Sprechens und Handelns vom Adel emanzipierte. Um sich gegen dessen Heucheleien abzusetzen, schloss man sich zu einer Art Schule der Aufrichtigkeit zusammen. Aufrichtigkeit meinte, nicht alles, was man vom anderen weiß, sagen zu müssen, aber der Forderung nachzukommen, zu sagen, was für den anderen wichtig ist. Wer sich so verhält, stiftet sozialen Zusammenhang, indem sich die anderen auch so verhalten. In diesem Sinne gehört Aufrichtigkeit zur menschlichen Grundausstattung.

In seiner historischen Genese zeigt Engler, wie sich der Mensch vor Gott in eine aufrechte Position zu bringen versucht, wie im 18. Jahrhundert Aufrichtigkeit zur Leitkultur des Bürgertums wird und dann seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts allmählich auch die nichtprivilegierten Lohnabhängigen in den Genuss jener zivilisatorischer Errungenschaften kommen, mit denen sich der Kapitalismus seit je her brüstet. Zunächst agiert das Bürgertum hinter den Kulissen der Öffentlichkeit, dann erobert es die soziale Welt, später verabschiedet es sie wieder weitestgehend und zuletzt läuft alles auf atomisierte Individuen im öffentlichen Raum, ohne soziales Sein, hinaus.

Das letzte Kapitel ist eine Bestandsaufnahme des abstrakten Kapitalismus. Der Kapitalismus ist abstrakt geworden, die dazugehörende kapitalistische Gesellschaft substanzlos und unecht. Engler beschreibt den neuen Unternehmertyp, der als Unternehmer ohne Unternehmen auskommt. Das subjektlose Individuum kann mit dem Aufrichtigkeitsdiskurs nichts mehr anfangen, es wird authentisch, wähnt sich mit sich selbst identisch, beschäftigt sich fasziniert mit narzisstischen Selbstverwirklichungstechniken. Engler diagnostiziert menschliche Beziehungen ohne Beziehung, Verbindungen ohne Verbindlichkeit, Ausbildung ohne Bildung. Mit Luhmanns Theorie der funktionalen Ausdifferenzierung konnte sich Engler die Schwachstellen des staatssozialistischen Gesellschaftsgebäudes erklären. Die Stärke des Kapitalismus, selbst in der größten Krise noch alternativlos wie ein Naturgesetz zu erscheinen, kann man mit der Systemtheorie nicht begreifen.

Engler aber insistiert auf Alternativen. Wenn das Individuum tatsächlich zur Monade verkommen ist, sich entweder aus Notwendigkeit unterwirft oder nur noch in Kategorien der Täuschung denken kann, wenn durch erbitterte Macht- und Statuskämpfe die Individuen die zivilisatorischen Spielformen List, Diplomatie, Prestige und Drohung im Dienst der Unangreifbarkeit permanent gegeneinander ausspielen, gelangt man nur über einen Umweg zum Ziel. Denn „das wirkliche Drama des Menschen beginnt, wenn Glück und Unglück, Gelingen und Versagen, Zwietracht und Einvernehmen nur mehr auf die Individuen als Ursache verweisen.“

Gebraucht werde eine postreligiöse Vorstellung von dem, was über das einzelne Individuum hinausgeht. Purer Antikapitalismus bleibt allzu oft in der Identität mit dem Gegensein gefangen und lässt kein neues Denken, Sprechen und Handeln entstehen. Die Entweder-Oder-Frage lautet also nicht Kapitalismus oder Anti-Kapitalismus, sondern Kapitalismus oder Nicht-Kapitalismus. Vielleicht möchte Engler mit dem Vorschlag, ein bedingungsloses Grundeinkommen einzuführen, die Frage indirekt, also über die Bande gespielt, beantworten. Erst wird innerhalb des Kapitalismus eine wirkliche Alternative vorgeschlagen, also scheinbar die falsche Wahl getroffen. Das Grundeinkommen für alle ist keine Tugendforderung, sondern ermöglicht die Freiheit, selbstbestimmt sagen zu können: „Sorry, aber für einen Euro die Stunde picke ich keine Zigarettenstummel aus der Grünanlage! Gemeinwohl, soziales Sein, sieht anders aus.“ Es könnte als Schule in die unverdiente Leichtigkeit sozialen Seins, als Bildungsangebot mit sich und den anderen endlich wieder wirklich etwas anfangen zu können, überhaupt erst die richtige Wahl ermöglichen. Denn, wie Engler formuliert: „Lügen kuschen nur vor Wahrheiten, die glänzen.“

Titelbild

Wolfgang Engler: Lüge als Prinzip. Aufrichtigkeit im Kapitalismus.
Aufbau Verlag, Berlin 2009.
213 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783351027094

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