Wolkenspaziergang im Glaspalast

Rainer Wieczoreks Novelle „Zweite Stimme“ erzählt von ebenso wundersamen wie bezaubernden Menschen, Landschaften und Orten

Von Nadine IhleRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nadine Ihle

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Richard Skala ist ein wundersamer Mann. Er sammelt auf mühevollen Expeditionen in entlegene Gegenden Wolken ein, ja, den Nebel von Wolken. Auf Flaschen gezogen, sorgsam beschriftet und versiegelt werden diese Kuriosa zusammen mit den jeweils benutzten Spazierstöcken archiviert. Die Hauptfigur von Rainer Wieczoreks Künstlernovelle „Zweite Stimme“ ist ein Getriebener – getrieben von der Idee, Dinge sichtbar zu machen und festzuhalten, die flüchtig, unscheinbar, entlegen sind.

 

Als zweite Stimme gesellt sich ein auf den ersten Blick sehr viel bürgerlicherer Mann zu dem Sammler. Wilhelm Baumeister ist Schriftsetzer im Ruhestand, der zwar Zeit seines Berufslebens Buchstabe um Buchstabe gesetzt hat, sich aber niemals für die eigentlichen Geschichten interessierte. Eine zufällige Begegnung beim Spazierengehen ändert dies. Die Geschichten, die Richard Skala zu seinen Projekten zu erzählen hat, wecken den alten Mann und sein verlassenes Haus wieder auf.

Zunächst scheint es so, als wenn die Erzählung zu einer Verortung von zwei alternden Männern mit ihren jeweiligen Lebenswerken vordringt – der Sammler, der im Hause seiner Eltern lebt, ohne Familie, ganz dem eigenen Tun verschrieben; dann der leidenschaftslose Rentner, der nach dem Tod seiner Frau mühsam im Jetzt lebt, immer bemüht, das Einst zu behalten. Das wörtliche Zusammentreffen der Figuren auf ihren Wegen birgt aber ein unerwartetes Entwicklungspotential: der Sammler findet in Baumeister seine zweite Stimme, jemand, der ihm Gehör und Gesehen werden verschafft. Baumeister richtet für Skalas Objekte in einer zum Wintergarten umgebauten Stallung (die ebenso spöttisch wie augenzwinkernd als „Glaspalast“ bezeichnet wird) eine Ausstellungsfläche ein, auf der die Kisten mit Wolkengläsern und die Spazier-Utensilien eine neue Bestimmung finden.

Damit eröffnet sich eine unerwartete Aufgabe für Baumeister, und anstatt in seinem müden Rentner-Leben zu erstarren, beginnt ein neues Fließen, ein neues Werden. Alles wird sorgsam arrangiert, an die Tür ein Schild mit der Aufschrift „Richard-Skala-Archiv“ geschraubt, Öffnungszeiten darunter gesetzt – und niemand kommt. Der erwartete Besucheransturm bleibt aus, bis Skala ein neues Projekt in Angriff nimmt. Im heutigen Jargon würde man es als „Land-Art“ bezeichnen – er archiviert die Geräusche eines Flusses, eines Ameisenhaufens, der Landschaft schlechthin. Was scheinbar flüchtig und nicht archivierbar zu sein scheint, findet dennoch seinen Weg in den Glaspalast, bis dieser am Ende selbst zum größten Archivprojekt der beiden Männer wird. Denn schlussendlich ist es tatsächlich ein Archivieren, von dem erzählt wird – obwohl an einigen Stellen eine sorgfältigere Unterscheidung in Ausstellung, Museum und Archiv wünschenswert gewesen wäre.

Die Erzählung Wieczoreks ist ebenso skurril wie berührend, die Beschreibung der beiden Männer in ihrer distanzierten Verbundenheit zu einander, ja ihrer Angewiesenheit aufeinander ist behutsam und sorgsam geschildert. Der nüchterne, fast sachlich emotionslose Stil, in dem die Geschichte dahinfließt, trägt das Thema außerordentlich gut. Fast entsteht beim Lesen der Eindruck, einen wiederum nachträglich archivierten Bericht über das Projekt zu lesen, wie ihn Baumeister selbst in seiner lilafarbenen Tinte in sein Archivbuch geschrieben haben könnte. Das bekommt dem Sujet sehr gut, der zum Teil sehr weit ausholenden Darstellung des Seelenlebens der Figuren häufig allerdings nicht. Hier hätte man sich ein Aufbrechen der Sachlichkeit gewünscht, ein deutlichere Poetisierung der Gefühle. So bleiben zwar sehr interessante Themen und Figuren zurück, wirklich lebendig und echt wirken sie jedoch nur an wenigen Stellen.

Der schmale Erzählband Wieczoreks ist der erste einer Trilogie, die in den nächsten Jahren fortgesetzt erscheinen soll. Man darf gespannt sein, ob Wieczorek in den beiden weiteren Teilen ebenso so anrührende Einfälle und interessante Figuren findet, um auch weiterhin liebevoll wie skurrile Geschichten zu erzählen – jenseits der ausgetretenen Spazierpfade.

Titelbild

Rainer Wieczorek: Zweite Stimme. Eine Künstlernovelle.
Dittrich Verlag, Berlin 2009.
144 Seiten, 16,80 EUR.
ISBN-13: 9783937717395

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