„Misere“ – Tödliche Musik

Über den grandiosen Thriller „Choral des Todes“ von Jean-Christophe Grangé

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein blutiger Mord in einer Kirche in Paris eröffnet Jean-Christophe Grangés Thriller „Choral des Todes“, dessen französischer Titel „Misere“ eigentlich bezeichnender wäre, zumindest für den Kenenr klassischer Musik. Der Mord geschieht in einer Kirche, zu deren Gemeinde der pensionierte Kommissar armenischer Herkunft Lionel Kasdan gehört. Er nimmt sich des Todesfalls an, zumal die zuständigen Dienststellen nur mäßiges Interesse an der Aufklärung des Verbrechens haben. Dem tablettenabhängigen, pensionierten Kommissar steht der halb so alte, drogenabhängige und sich im Entzug befindliche Ermittler Volokine zur Seite. Er ist bei der Polizei vor allem mit Ermittlungen von Straftaten gegen Jugendliche und Kinder beschäftigt. Das Ermittlerteam verfügt über einen großen Erfahrungsschatz, umfangreiche Beziehungen im Polizeiapparat und die nötigen, schrägen Charaktereigenschaften, die für den vorliegen Fall nötig sein werden.

Weitere Morde geschehen. Man stellt eine ungewöhnliche Mordwaffe fest – die allein schon die Lektüre für den ambitionierten Krimifreund rechtfertigt –, kommt auf die Spur einer vermeintlichen Gruppe von Tätern und stellt aufgrund der Spuren an den Tatorten fest, dass es sich um Kinder handeln könnte. Bei den Opfern stößt man auf Beziehungen zum chilenischen Militärregime, das sich nach dem Sturz von Allende 1973 etabliert hatte. Grangé greift tief in die historische und zeitgeschichtliche Kiste, geht auf die Unterstützung Chiles durch Frankreich ein, die militärische Berater zur Unterstützung des Regimes geschickt hatten, welche sich vor allem durch eine Professionalisierung der Foltermethoden in Chile hervortaten. Dass dabei auch die intensiven Verbindungen zwischen chilenischem Militär und ehemaligen deutschen Nationalsozialisten thematisiert werden, erscheint nur auf den ersten Blick befremdlich. Grangé nimmt auf die von dem Deutschen Paul Schäfer in Chile begründete „Colonia Dignidad“ Bezug, schildert deren Vergangenheit und vor allem deren gegenwärtige Aktivitäten. Dass er sich bei diesen Beschreibungen vielleicht gar nicht so sehr im Bereich der Fiktion bewegt, wird dem Leser erst deutlich, wenn er sich über den historischen und zeitgeschichtlichen Kontext informiert.

Besonders bemerkenswert ist Grangés pointierte Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, die ihn zu einer interessanten Definition des Begriffs führt: „In dieser Hinsicht [der Analyse der Tonbandaufzeichnungen von Schreien aus den Gaskammern der Konzentrationslager, A. d. V.] ist Hartmann ein echter Nazi. Er teilte mit den anderen die radikale Gleichgültigkeit gegenüber Qualen, die die Opfer ertragen mussten. Statt des Gewissens hatte er wohl ein schwarzes Loch.“ Dabei zieht er auch noch die Verbindung zu dem Thema „Musik und Nationalsozialismus“. Die Verbindung von Autorität und Musik ist damit eines der zentralen Themen des Romans: „Eine weitere fixe Idee der Nazis: die Musik. Sie setzten sie überall ein. Wenn die Deportationen aus den Todeszügen ausstiegen, wurden sie von einer Blaskapelle empfangen. Wenn sie arbeiteten, mussten sie singen. Es wurde auch mit Musik gefoltert. Im Osten erfolgten Massenhinrichtungen der jüdischen Zivilbevölkerung mit musikalischer Untermalung über Lautsprecher. Das ist zweifellos das, was man ‚deutsche Seele‘ nennt.“ In diesem Kontext machen dann auch die Statements einzelner Protagonisten Sinn, denen die beiden Ermittler auf verschlungene, spannende und oft sogar brutal nervenaufreibende Art und Weise auf die Spur kommen: „Den Schmerz in einem stoischen Sinne beherrschen. Er strebte nach einer Läuterung. Das Leiden sollte zu einer Kraft werden. Einer Energiequelle für eine Neugeburt.“

Grangé schafft das fast Unmögliche. Er komponiert aus den vielen Themen, dem historischen Hintergrund, den aktuellen Bezügen zu den Aktivitäten der „chilenischen“ Sekte, den beiden seltsam abgewrackten Ermittlern und einer manchmal abenteuerlichen Handlungslinie einen unterhaltsamen, blutigen, nahezu brillanten Thriller, der auf jeder Seite Überraschungen für den Leser bereit hält. Dabei sind es auch die kleinen, oft philosophischen Innenansichten von Tätern, Opfern und Ermittlern, die im Detail die Qualität und Einfühlsamkeit des Romans deutlich machen: „Die Gewalt hatte sein Denken zum Stillstand gebracht. Nur sein Körper hallte von dieser Polyphonie wider – erstrahlte regelrecht darin – wie das Gewölbe einer Klosterkirche während der Andacht.“ Zum Ende stellt sich aber nur noch eine Frage: Existiert das Böse weiterhin in der Welt? Auch wenn es ein unschuldiges Antlitz vor sich her trägt, wie die Chorknaben im „Choral des Todes“? Dies kann man wohl eindeutig mit einem „Ja“ beantworten. Über die näheren Umstände informiere man sich bei Monsieur Grangé.

Titelbild

Jean-Christophe Grangé: Choral des Todes. Thriller.
Ehrenwirth Verlag, Bergisch Gladbach 2009.
570 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783431037937

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