Erlesene Apokalypse

Jakob van Hoddis schrieb vor hundert Jahren das berühmteste Gedicht des Expressionismus: „Weltende“

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Anfang 1910 schrieb der 22 Jahre alte Student Hans Davidsohn, der sich nach dem Tod seines Vaters Jakob van Hoddis nannte, jenes Gedicht, das bald zum berühmtesten der expressionistischen Literatur wurde:

Weltende

Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
In allen Lüften hallt es wie Geschrei.
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei,
Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.

Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.

Liest man das Gedicht, sieht man sich scheinbar beiläufig auf sich selbst und das eigene Lesen verwiesen: „Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.“ In der handschriftlichen Fassung steht hier noch „sagt man“. Im Erstdruck, der in der von Franz Pfemfert herausgegebenen Zeitschrift „Der Demokrat“ vom 11.1.1911 erschien, und in allen späteren Nach- und Neudrucken ist „sagt“ durch „liest“ ersetzt. Diese geringfügige Änderung trägt entscheidend zur Modernität dieses Gedichts bei. Sie liefert einen Schlüssel zum Verständnis der acht auf den ersten Blick zusammenhanglos wirkenden Verse.

Ein ‚lyrisches Ich‘ existiert hier nicht; es ist nur in Form anonymer Leser gegenwärtig. Was lesen sie? Das Gedicht legt es nahe: Katastrophenmeldungen in der Zeitung, genauer: Berichte von Unwettern, die nicht zuletzt die banale Folge haben können, dass viele Menschen erkältet sind. Auch davon wird in Zeitungen berichtet. So leuchtete es durchaus ein, wenn ein Interpret vor etlichen Jahrzehnten meinte, dass „ein Querschnitt durch die Morgenzeitung Grundlage dieser skurrilen Bildmontage zu sein“ scheine.

Professionelle Leser, also Philologen, wollen es freilich genauer wissen. Sie lesen nach, was der Autor und sein zeitgenössisches Publikum gelesen haben könnten. Denn vielleicht verbirgt sich ja hinter dem anonymen Leser auch die leibhaftige Person des Dichters. So machten Philologen sich denn auch in diesem Fall auf die Suche, und siehe da: sie wurden fündig. „Der orkanartige Sturm“ oder „Die Sturmflut auf dem Wattenmeer“ lauteten Überschriften im Berliner Tageblatt vom Dezember 1909. Die Ausgabe vom 16.12. berichtete gleich von zwei Eisenbahnunglücken. Bei dem einen stürzte die Bahn „von einem fünfzig Fuß hohen Damm hinunter“, in dem anderen heißt es: „Ein Zug der Southern Railway Company stürzte in North Greensboro (North Carolina) aus einer Höhe von 25 Fuß von einem Brückenkopfe in einen schilfreichen Fluß hinab“. Im Januar 1910 konnte der in Berlin lebende Autor in der gleichen Zeitung, im Zusammenhang mit der bevorstehenden Wiederkehr des Halley'schen Kometen, einen Artikel über den „Weltuntergang“ lesen.

Als Synonym zu „Weltuntergang“ wird häufig das Wort „Apokalypse“ verwendet. In der ursprünglichen Bedeutung sind Apokalypsen jedoch „Offenbarungen“, „Enthüllungen“ einer verborgenen Wahrheit. Die Apokalypse des Johannes lieferte dafür das kanonisch gewordene Exempel. Apokalypsen sind Texte mit einem gleichsam hermeneutischen Blick, der die Welt selbst als einen Text liest, als ein System von Zeichen, das es zu entziffern gilt, wenn man die Heils- und Unheilsgeschichte der Welt begreifen möchte. Sie verleihen zunächst zufällig und unverständlich erscheinenden Naturkatastrophen, Seuchen, Himmelserscheinungen und dergleichen einen Sinn. Die Apokalypse des Jakob van Hoddis liest die Zeichen freilich nicht direkt aus der Natur, sondern massenmedial vermittelt aus der Zeitung, profanisiert sie damit und nimmt ihnen zugleich ihre heilsgeschichtliche Bedeutung.

Jakob van Hoddis‘ erlesenes „Weltende“ hat jedoch nicht nur durch seine Bezüge zu einzelnen Meldungen, sondern auch in einem abstrakteren Sinn etwas mit dem Lesen der Zeitung zu tun. Er simuliert und reflektiert eine disparate Wahrnehmung der Welt, wie sie in der Moderne durch die Massenmedien geprägt wird. Wie die Zeitung besteht das Gedicht aus einer Reihung relativ unzusammenhängender und austauschbarer Berichte über mehr oder weniger gravierende Ereignisse. Der groteske Effekt beruht nicht zuletzt darauf, dass die Disparatheit von Zeitungsmeldungen und die Turbulenzen, von denen sie handeln, in die Ordnung eines festen Versmaßes, eines einfachen Reimschemas und syntaktischer Parallelismen knapper, jeweils ein Vers langer Sätze gebracht werden. Tonbeugungen, der Zeilensprung dort, wo das Meer an Land „hupft“, sowie die Modifikation des Reimschemas in der zweiten Strophe demonstrieren freilich spielerische Ironie im Umgang mit der formalen Ordnung.

Evoziert der Titel „Weltende“ zunächst apokalyptische Ängste, wie sie seinerzeit nicht nur von Zeitungen, sondern auch von literarischen Texten vielfältig vermittelt wurden, so setzen die beiden Strophen solche Ängste mit grotesker Komik außer Kraft. Grotesk ist hier, neben dem „spitzen Kopf“ des Bürgers, die Vermischung ganz unterschiedlicher und zunächst zusammenhanglos wirkender Ereignisse. Doch auch wenn man erkannt hat, dass jeder Vers einen vom Unwetter verursachten Unglücksfall beschreibt, wirkt die Kombination großer und kleiner Unglücksfälle widersinnig. Ob Dachdecker zu Tode stürzen oder Dachziegel entzweigehen, ob dem Bürger der Hut davonfliegt oder die Flut steigt, ob die Menschen Schnupfen haben oder Eisenbahnen verunglücken: alles erhält gleichermaßen geringes Gewicht. Das im Titel angekündigte Weltende reduziert sich auf das Format eines Kinderspiels. Die apokalyptischen Schreckenserwartungen können sich in befreiendes Lachen auflösen.

In seiner Erinnerung an den kollektiven Glücksrausch, den das Gedicht unter den Expressionisten hervorrief, hob Johannes R. Becher anschaulich gerade auch die von Angst befreiende Wirkung hervor: „Alles, wovor wir sonst Angst oder gar Schrecken empfanden, hatte jede Wirkung auf uns verloren.“ Und mit der Befreiung genossen die jungen Autoren der Schilderung nach eine ungeheure Vergrößerung ihres Selbstwertgefühls. „Wir fühlten uns wie neue Menschen […]. Wir standen anders da, wir atmeten anders, wir gingen anders, wir hatten, so schien es uns, plötzlich einen doppelt so breiten Brustumfang, wir waren auch körperlich gewachsen, spürten wir, um einiges über uns selbst hinaus, wir waren Riesen geworden“. Die begeisterten Expressionisten konnten sich so stark wie die im Sturm entfesselte Macht der Natur fühlen und in der Identifikation mit ihr geradezu schadenfroh die Beseitigung zivilisierter Schutzvorrichtungen von Hüten, Dächern und Dämmen verlachen.

Zusammen mit der grotesken Komik ist es die evozierte Situation des Lesens, die eine befreiende Distanz zum Schrecklichen ermöglicht. Für den in die Rolle des Zeitungslesers versetzten Gedichtleser ist der Schrecken der Katastrophen nicht unmittelbar präsent. Die Distanz durch die Lektüre, die hier durch deren zusätzliche Thematisierung noch vergrößert wird, versetzt uns in jene Position, die schon Lukrez in seinen Versen über den ‚Schiffbruch mit Zuschauern‘ reflektierte:

Süß ist’s, anderer Not bei tobendem Kampfe der Winde
Auf hochwogendem Meer vom fernen Ufer zu schauen;
Nicht als könnte man sich am Unfall andrer ergötzen,
Sondern dieweil man es sieht, von welcher Bedrängnis man frei ist.

Diese Erklärung der merkwürdigen Lust am Schrecklichen setzt die von Peter Rühmkorf einmal so genannte „Westentaschenapokalypse“ des Jakob van Hoddis im Blick auf den katastrophensüchtigen Zeitungsleser der Moderne in Szene. Dieser gleicht dem Zuschauer eines sich in der Ferne ereignenden Katastrophenszenarios, an dem er sich ergötzen kann, weil er nicht wirklich davon berührt ist.

Der Beitrag basiert auf einem Essay des Verfassers in: Lyrik lesen! Eine Bamberger Anthologie. Hg. von Oliver Jahraus und Stefan Neuhaus in Zusammenarbeit mit Peter Hanenberg. Wulf Segebrecht zum 65. Geburtstag. Düsseldorf: Grupello 2000, S. 190-194. – Eine erweiterte und veränderte Fassung erscheint in Andrea Geier / Jochen Strobel (Hg.): Deutsche Lyrik in 30 Beispielen. Paderborn: UTB 2010. S. 225-234.