„Ich möchte als Sarg ein Flugzeug“

Über Stephen Kelmans erstaunliches Debüt „Pigeon English“

Von Martin GaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Gaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Würde man eine Dokumentation, sei es nun in Buchform oder als Film, über das Leben in einer Londoner Sozialsiedlung erstellen, könnte das, bei aller Ausgewogenheit und Objektivität, bei aller Genauigkeit und Tiefe, eine recht nüchterne Angelegenheit werden. Nimmt sich jedoch ein völlig unbekannter Autor, der selbst in Luton aufgewachsen ist, der ehemaligen Heimat des Autobauers Vauxhall, dieses Themas an und setzt ein paar unvergessliche Figuren in diese Szenerie, kann daraus ein großartiges und unwiderstehliches Buch werden. „Pigeon English“ von Stephen Kelman ist genau dieses Buch geworden, das bereits im Titel sowohl Komplexität als auch die Verspieltheit annonciert. Denn „Pigeon“ ist die Taube, die im Roman eine nicht unwesentliche Rolle hat. „Pidgin English“ dagegen ist eine Art Kauderwelsch, ein aus mehreren Sprachen hervorgegangenes neues Sprachkonstrukt, das unter anderem entsteht, wenn eine bestehende Sprache durch das Auftauchen einer neuen dominanten Sprache Begriffe aus dieser übernimmt und das Ganze gemischt wird, zum Beispiel im Falle einer Kolonialisierung.

Harri Opoku, elf Jahre alt, ist erst vor kurzer Zeit mit Mutter und Schwester aus Ghana gekommen. Sein Vater und die noch sehr kleine Schwester Agnes sind noch in der alten Heimat. Harri und viele andere Kinder und Jugendliche aus seinem Viertel sprechen genau diese Mischformen mehrerer Sprachen, die ein Kennzeichen für multikulturelles Miteinander sind. Harri beginnt sein neues Leben im neuen Land mit sehr viel Neugier und Offenheit. Er geht zur Schule, trifft sich mit Freunden und Kameraden, verbringt Zeit mit seiner Mutter und seiner älteren Schwester Lydia. Bei bestimmten Anlässen vergleicht er aktuelle Erlebnisse mit Erfahrungen, wie er sie früher in Ghana gemacht hat. Ab und zu bekommen sie Besuch von Tante Sonia, die illegal in England ist, weswegen sie sich immer mal wieder auf der Herdplatte die Fingerkuppen abbrennt, damit man von ihr keine Fingerabdrücke nehmen kann. Sie lebt mit Julius, einem Schlepper; zusammen, der ihr gern auf den Hintern haut, seinen Baseballschläger den „Überzeuger“ nennt und der erst Ruhe gibt, wenn er seinen „Gute-Nacht-Sprit“ hat.

In dieser recht rauen Welt mit all ihren Hierarchien, Fallstricken und ungeschriebenen Regeln erlebt Harri, und so beginnt „Pigeon English“, wie ein Junge von seiner Schule vor „Chicken Joe’s“ niedergestochen wird. Stephen Kelman lässt trotz allen Humors, den sein Roman in großem Maße auszeichnet, keinen Zweifel daran, dass es ihm ernst ist mit der Darstellung der sozialen und politischen Verhältnisse. Doch schnell schwenkt er zurück auf seinen kindlichen Helden, der sich mit einem seiner Kumpel fortan um die Aufklärung dieser feigen Tat kümmern will. Dean und Harri erstellen ein Profil des Täters, versuchen Fingerabdrücke zu nehmen und mit einem Fernrohr Verdächtige zu observieren. Immer wieder kommt der Autor auf diesen Erzählstrang zurück, erzeugt damit beinahe so etwas wie eine kriminalistische Spannung. Und tatsächlich treten die beiden selbst ernannten Ermittler einigen Älteren, den Jungs von der Dell Farm Crew, die im Viertel und in der Schule das absolute Sagen haben, unangenehm auf die Zehen. Deren Anführer X-Fire wollte Harri beziehungsweise „Ghana“, wie er ihn nennt, für seine Zwecke rekrutieren, doch der Junge ordnete sich der Szeneautorität nicht im gebührenden Maß unter. Ärger ist die Folge. Doch Harri ist, obwohl er nur no-name-Turnschuhe mit selbst aufgemalten Streifen hat, der schnellste der siebten Klasse und somit seinen Gegnern meist einige Schritte voraus.

Und dann sind da noch die Mädchen. Zum einen seine Schwester Lydia, mit der er zwar ganz gut auskommt, doch wenn ihre Freundinnen, allen voran die doofe Miquita, da sind, nervt sie nur noch. Miquita will dem armen Jungen dann auch das Küssen beibringen, wovon er beinahe einen seelischen Schaden bekommt. Denn Harri ist eher der sensible Typ, der Romantiker, der die schüchterne Poppy aus seiner Klasse lange nur aus der Ferne anhimmelt. Als sie dann erste Zettelchen austauschen und sich ihre gegenseitige Sympathie bekunden, ist es um Harri Opoku geschehen.

„Pigeon English“ ist ein Roman, der Jugendlichen und Erwachsenen gleichermaßen gefallen wird, ein anspielungs- und lehrreiches Buch, das die Härte der Umgebung inhaltlich und sprachlich wiedergibt. Kelman, dessen Manuskript ein ehemaliger Lastwagenfahrer entdeckt hat, der seine Rente durch einen kleinen Job bei einer Literaturagentur aufbesserte, indem er Manuskripte sichtete, wollte schon immer schreiben. Sein Englischlehrer hat ihm die Hausaufgaben erlassen, weil er der Ansicht war, diese seien zu einfach für den kleinen Stephen, für den Lesen alles war und der nach der Lektüre von Douglas Adams’ „Per Anhalter durch die Galaxis“ meinte, er hätte dieses Buch schreiben müssen. Trotzdem hat er erstmal einige der klassischen Jobs ausgeübt, die man offenbar in seiner Vita stehen haben muss, bevor es dann klappt mit der Karriere als Schriftsteller. Und „Pigeon English“ ist Teil eines Trends in der gegenwärtigen Literatur. Meg Rosoffs Roman „Davon frei zu sein“, „Scherbenpark“ von Alina Bronsky und der phänomenal gute „Tschick“ von Wolfgang Herrndorf sind Werke mit jugendlichen Protagonisten, die sich in schwierigen sozialen Verhältnissen behaupten und sich ihren Zugriff auf das Leben erarbeiten müssen. Das vorliegende Buch hebt sich insofern davon ab, als es sprachlich – und hier ist die Übersetzung von Clara Drechsler und Harald Hellmann ganz besonders hervorzuheben – und formal – die oben erwähnte Taube ist einerseits Harris Freund, andererseits Kelmans stilistische Eigenart – sehr eigenwillig ist und daraus seinen ganz besonderen Reiz bezieht.

Titelbild

Stephen Kelman: Pigeon English. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Clara Drechsler und Harald Hellmann.
Berlin Verlag, Berlin 2011.
300 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783827009753

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