Zivilisationskrankheiten

Volker Roelckes Anatomie ihrer Begriffsgeschichte

Von Frank MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Frage, ob das Leben in der modernen Gesellschaft krank mache, beschäftigt nicht erst die Mediziner und Medien der Gegenwart. Sie reicht zurück bis zum Beginn des bürgerlichen Zeitalters. In der vorliegenden Studie bezieht sich der Terminus 'Zivilisationskrankheit' allerdings nicht auf die uns geläufigen Krankheitsklassifikationen oder deren biologischen Korrelate (z. B. Herz-Kreislauferkrankungen, Allergien), sondern auf ein medizinisches Deutungsmodell, das, obgleich im Kontext der Psychiatrie entstanden, die Geschichte der bürgerlichen Selbstwahrnehmung in spezifischer Weise reflektiert und fortentwickelt. Der Begriff Zivilisationskrankheit wird damit zum Paradigma für Versuche, bestimmte, zumeist kritisch gestimmte Vorstellungen von Geschichte und Gesellschaft in die medizinische Begriffsbildung zu integrieren. Als nicht weniger wirkmächtig erweist sich dabei die Beschaffenheit des politischen Raumes, aus dem heraus Definitionen von 'krank' und 'gesund' erfolgen. Darüber hinaus verrät der Begriff der Zivilisationskrankheit auch etwas über ein Erwachen des ärztlichen Interesses an Kategorien wie Kultur, Geschichte und Gesellschaft. Indem die Habilitationsschrift Volker Roelckes ein komplexes System von Variablen und Einflussgrößen entfaltet, arbeitet sie der naheliegenden Gefahr einer einzelwissenschaftlichen Verkürzung dieses Themas gezielt entgegen.

Dass der Autor seine Studie mit großer Umsicht angelegt hat, zeigen schon seine methodologischen und inhaltlichen Vorüberlegungen. So bedurfte die Herstellung eines Zusammenhangs zwischen den jeweils aktuellen Lebensbedingungen und dem Auftreten bestimmter Erkrankungen zunächst einer besonderen wissenschaftsgeschichtlichen Voraussetzung: der Historisierung der klassischen Naturgeschichte zu einem dynamischen Naturbegriff. Unter sozialhistorischer Perspektive konnte die bürgerliche Gesellschaft das Individuum erst als in besonderem Maße durch Krankheiten gefährdet ansehen, nachdem sich Lebensführung 'individualisiert' und das Konzept eines autonomen Selbst sich herausgebildet hatte. Auch an solchen Beispielen zeigt sich, dass der Begriff der Zivilisationskrankheit sich keineswegs ausschließlich neuen medizinischen Entdeckungen und der Vermehrung 'harten' Faktenwissens verdankt. Für Roelcke, der diesen Gedanken konsequent zu Ende denkt, erhebt sich dahinter die Frage: "In welchem Ausmaß sind die Inhalte wissenschaftlichen Denkens durch außerwissenschaftliche Faktoren 'kontaminiert', oder, neutraler formuliert, mit geformt? Gibt es überhaupt eine scharfe, eindeutig identifizierbare Grenze zwischen wissenschaftlichem und nicht-wissenschaftlichem Denken?"

Bereits um 1800 keimt der Verdacht auf, dass die bürgerliche "Civilisation" erhöhte intellektuelle und physische Anforderungen an das Individuum stellt und deshalb seine geistige und seelische Gesundheit zu schädigen vermag. Johann Christian Reil, einer der Pioniere der Neurophysiologie, macht in erster Linie soziale und politische Faktoren für die Entstehung von Nervenkrankheiten verantwortlich. Dazu zählen die schlechte Luft in den Städten, der Bewegungsmangel, eine Zunahme der Kopfarbeit und verändertes Sexualverhalten ebenso wie die "izzige Staatsverfassung". Als Exponenten des modernen Lebensstils gelten Verwaltungsbeamte, Intellektuelle sowie die vergnügungssüchtigen "französischen Stuzzer". Offenbar, folgert Roelcke, lädt eine frankophobe Stimmung und die Unzufriedenheit mit den politischen Zuständen in Preußen den Kulturbegriff auf eine spezifische Weise auf. 'Cultur' ist für Reil im Übrigen assoziiert mit der Verfeinerung einer ursprünglichen Widerstandsfähigkeit und Robustheit des Menschen und einer daraus resultierenden erhöhten Reizbarkeit des Nervensystems. Geisteszerrüttung und Verrücktheit wird bezeichnenderweise nicht auf eine Fehlfunktion des Gehirns zurückgeführt, sondern auf die Entfremdung der zeitgenössischen Kultur von einem ursprünglichen Naturzustand.

Die zweite Station dieses Buches ist die noch theologisch inspirierte Debatte zwischen Psychikern und Somatikern der Restaurationszeit (Heinroth, Nasse) und ihre Überwindung durch den Vormärz-Psychiater Wilhelm Griesinger, der die Krankheitslehre von der religiös autorisierten Anthropologie abkoppelt und sie 'politisiert', d. h. mit dem bürgerlichen Selbstverständnis harmonisiert. Während der gesunde Bürger eine ausreichende 'psychische Hemmung' besitzt, die verhindert, dass jedem Eindruck sofort eine unmittelbare Reaktion folgt, ist der psychisch Kranke der Fähigkeit zu autonomen Handeln beraubt: die zu große bzw. zu geringe Hemmung macht sich in Antriebsschwäche oder manischem Triebverhalten bemerkbar. Zugleich wird der soziale Status als prädisponierender Faktor angesehen und das Erkrankungsrisiko für bestimmte Berufsgruppen differenziert. Griesingers von Benedict Auguste Morel übernommener Degenrationsgedanke wird dabei zunächst ausschließlich zur Bezeichnung individueller Pathologie verwendet. Trotzdem dient schon er der psychiatrischen Erfassung von Bevölkerungsteilen, die sich aufgrund ihres nur wenig auffallenden Abweichungsverhaltens außerhalb von Anstalten bewegen. Durch die in der Nachfolge Griesingers betriebene "Psychiatrisierung des Alltagslebens" gewinnt der Begriff der Degeneration zunehmend die Qualität einer Sammelkategorie psychischer Störungen.

In der Tat erfährt das Deutungsangebot psychopathologischer Kategorien seit den letzten zwei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts und befördert durch eine folgenschwere Modernisierungskrise eine erstaunliche Karriere. Es spricht für die Gründlichkeit der vorliegenden Untersuchung, dass sich für die zwei Phasen der Krise des bürgerlichen Selbstbewußtseins zwei unterschiedliche Erklärungsmodelle rekonstruieren lassen, mit denen der psychiatrische Diskurs auf die drängenden Zeitprobleme und die Nachfrage an neuen Befindlichkeitsdeutungen antwortet. Die als belastend erfahrenen Folgen von Urbanisierung und Industrialisierung und die Entwicklung des Kaiserreichs zum autoritativen Interventionsstaat begünstigen die Entdeckung der Neurasthenie als spezifischer Zivilisationskrankheit sowie die erneute Konjunktur des in seiner zweiten Rezeptionsphase 'kollektivierten' Degenerationsbegriffs, der als eine von Generation zu Generation fortschreitende Verschlechterung des Erbmaterials verstanden wird.

Im ersten Fall sind es die neuen empirischen Nachweise im Kontext der idealistischen Naturphilosophie, der erfolgreichen Praxis der Elektrotherapie und der Renaissance des Mesmerismus, welche die Elektrizitätslehre zur Hilfswissenschaft der Neurophysiologie aufrücken lassen. Ein eigener Abschnitt ist George M. Beards Schrift "American Nervousness" gewidmet, welche die Neurasthenie als eigenständige Zivilisationskrankheit benennt und mittels des Elektrizitäts-Modells die Wirkung körperexterner Faktoren und insbesondere sozialer Aspekte in die nosologische Begriffsbildung integriert. Krankheit entsteht nach diesem Konzept durch die unausgewogene Verteilung von Energie im Nervensystem. Ihre Diagnose erfolgt nicht über Symptomatologie oder Ätiologie, sondern über die individuelle Pathogenese, wobei sich die "moderne Civilisation" als eine Art Generalursache - eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung - für energetische Defizite und die aus ihnen folgenden Erkrankungen erweist. Hingewiesen wird neben dem fast schon klassischen Topos von 'Kopfarbeit und Sitzarbeit' vor allem auf die Fabrikarbeit mit ihren monotonen Arbeitsabläufen, das Dikatat der Uhren, die Ausbreitung neuner Ideen und Theorien sowie die Aufregungen durch das moderne Geschäftsleben, durch Wahlkämpfe und Revolutionen.

Während der auf die 1880er Jahren datierte Neurastehenie-Diskurs sich zunächst unabhängig vom Degenerationsgedanken enfaltet, fällt die Neurasthenie bei einer von Beards Nachfolger, Emil Kraeplin, infolge einer Verschärfung des Krisenbewußtseins um die Jahrhundertwende und durch Verschränkung mit den Leitvorstellungen anderer Disziplinen (der Décadence auf ästhetischem, des Sozialdarwinismus auf biologischem Gebiet) einer biologisch ausgerichteten, kollektivpathologischen Krankheitsklassifikation zum Opfer und wird unter dem Stichwort Degeneration weitergeführt. Kraeplins laut Roelcke auf einer "vor-empirischen" Entscheidung beruhende, laborwissenschaftliche Annäherung an die Bestimmung der Krankheiten lässt ihn ein Modell klar voneinander abgegrenzter Krankheitsentitäten entwerfen. Diese erzeugen unter Ausblendung der soziokulturellen Dimension bestimmte Krankheitsbilder, die in erster Linie durch biologisch-körperliche Ursachen bestimmt sind. Es ist daher nur naheliegend, dass Kraeplin die Zunahme von Geistes- und Geschlechtskrankheiten, des Alkoholismus, der Suizidrate sowie den Geburtenrückgang als Eingriff der "Kultureinrichtungen" in evolutionsbiologische Prozesse begreift. Sein Rezept gegen die Entartung lautet Rassenhygiene.

Obgleich Roelcke darauf hinweist, dass Kraeplins Schriften seinerzeit nicht unumstritten blieben, versäumt er es, eigens auf die 'unkritische' Grundhaltung hinzuweisen, aus der heraus diese Variante psychiatrischer Kulturkritik operiert. Zu ergänzen wäre, dass Kulturkritik innerhalb biologistischer Kontexte nie eine genuin kritische, sondern allenfalls eine legitimatorische Absicht besitzen kann: als naive Hinnahme der Naturgesetze und Rechtfertigung ihrer 'gesellschaftlichen' Korrelate als 'naturgegeben'.

Ein bislang übersehenes Bindeglied zwischen der langen Tradition psychiatrischer Gesellschafts- und Zivilisationsdiagnosen, so zeigt der Autor im letzten Kapitel, stellt Freuds Reformulierung der Neurosenlehre und insbesondere seine Arbeiten zur Neurasthenie dar. Die Einführung der Sexualität in die Ätiologie der Neurosen eröffnet über den Begriff der "kulturellen Sexualmoral" die Möglichkeit, die zeitgenössischen Lebensbedingungen und das bürgerliche Wertesystem als Krankheitsfaktoren zu thematisieren. Nach Freud verdankt sich schon die Kultur als solche der Unterdrückung der menschlichen Triebenergie. In den Neurosen spiegeln sich deshalb für ihn die rigiden gesellschaftlichen Moralvorstellungen wie die Unerbittlichkeit der Kulturforderungen überhaupt wieder. Auch die von Freud in "Totem und Tabu" verfolgte Frage nach dem Zwangschrakter sozialer Institutionen wird dadurch als eine der nervenärztlichen Praxis entsprungene Problemstellung greifbar. Roelcke verweist allerdings auch hier eher auf die kritischen Potenzen des Begriffes 'Zivilisationskrankheit', als dass er diesen im Sinne einer kritischen Hermeneutik gezielt auf seine Leistungsfähigkeit hin befragt. Das ist allerdings der einzige Schönheitsfehler dieser ansonsten höchst lesenswerten Studie.

Titelbild

Volker Roelcke: Krankheit und Kulturkritik. Psychiatrische Gesellschaftsdeutungen im bürgerlichen Zeitalter (1790-1914).
Campus Verlag, Frankfurt 1999.
252 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 3593362082

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch