Lädierte Leben

Gonçalo M. Tavares malt in seinem preisgekrönten Roman „Die Versehrten“ ein Gemälde des Schreckens

Von Patrick WichmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Patrick Wichmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Gonçalo M. Tavares hat kein Recht, im Alter von 35 Jahren so gut zu schreiben. Man hätte Lust, ihn zu schlagen.“ So äußerte sich der mittlerweile verstorbene José Saramago 2005 in seiner Laudatio über den Schriftstellerkollegen. Anlass zu dieser augenzwinkernden Lobesbekundung war die Verleihung des nach dem Nobelpreisträger benannten Prémio José Saramago, den Tavares für seinen im Vorjahr erschienen Roman „Jerusalém“ erhalten hatte. Ebendieser ist nun, acht Jahre nach der Originalveröffentlichung, unter dem Titel „Die Versehrten“ auch in Deutschland erschienen.

Tavares macht in diesem Werk seinem Ruf als „portugiesischem Kafka“, wie ihn einst das französische „Le Figaro magazine“ bezeichnete, alle Ehre. „Die Versehrten“ zeichnet ein Porträt von menschlichen Abgründen, in deren Hintergrund stets ein dunkler Fatalismus zu wirken scheint. Tavares erzählt die Geschichte einer Vielzahl von Personen, die eines Nachts auf unterschiedlichste Weise miteinander in Kontakt kommen – allen Charakteren gemein ist dabei ihr gestörtes, verstörtes und zerstörtes Wesen. „Schmerz, dachte sie, Schmerz ist ein zentrales Wort“, lässt Tavares seine Protagonistin Mylia bekennen. Die Leben selbst sind ferner durch die unterschiedlichsten Elemente geschädigt, die Palette des Grauens reicht von tödlicher Krankheit und Irrsinn über Kriegsversehrung hin zu Gewalt und purer Mordlust.

Im Mittelpunkt des Geschehens steht in diesem düsteren Panorama zumeist der wahnhafte Arzt Theodor Busbeck. Dieser ist von der Idee einer historischen Krankheit der gesamten Menschheit besessen. Durch die empirische Auswertung der Gräueltaten in der Geschichte, und dabei insbesondere des Holocausts, meint er eine allgemeingültige „Konstanz des Grauens“ ausmachen zu können, die ihn zu Voraussagen künftiger Völkermorde befähige und in der der Fortschritt vom „Tempo des Bösen“ abhängt. Der These von der Singularität des Holocaust wird in Busbecks Theorie dabei nicht nur implizit widersprochen, sondern sogar ein neuer Genozid dieses Ausmaßes angekündigt. Während Theodor, als „wollte er nicht Arzt sein, sondern ein Heiliger“, diesem dämonischen Projekt gefolgt ist, hat seine Exfrau Mylia ihr Dasein in der Nervenheilanstalt gefristet – und dort ein Kind mit einem anderen Insassen, dem schizophrenen Ernst Spengler, gezeugt. In der Georg-Rosenberg-Klinik wiederum führt der Leiter Doktor Gomperz ein strenges Regiment – und erinnert den in der deutschsprachigen Literatur beheimateten Leser bisweilen an Friedrich Dürrenmatts groteske Irrenärztin Mathilde von Zahnd aus „Die Physiker“. Unter seiner Tyrannei obliegt die Heilung der Patienten „letztlich der reinen Willkür“, gebührt sie doch dem eigenmächtig-totalitären Belieben des Arztes. „Verrückt ist, wer unmoralisch handelt, und verrückt ist außerdem, wer moralisch handelt und dabei unmoralisch denkt“, erläutert Gomperz seine bis ins absurde moralisierte Verquickung von Moral und Irrsinn.

Die Geschichte dieser und weiterer Personen, die, wie der ehemalige Soldat Hinnerk Obst, bisweilen auch durchaus „Appetit auf Mensch“ und Lust zu Töten verspüren, erzählt Tavares mit karger und unprätentiöser Sprache. Lakonisch breitet er in den kurzen Kapiteln die Abgründe menschlicher Existenz vor dem Leser aus. Dabei versteift sich Tavares jedoch keineswegs auf eine rein äußerliche Beschreibung, sondern psychologisiert sehr stark. Dazu lässt der Epistemologie-Dozent der Universität Lissabon unterschwellig nicht nur durch Theodor Busbecks megalomanische Endzeittheorie philosophische und religiöse Elemente auftreten, die er kunstvoll in den erzählerischen Rahmen einbettet. Neben Kreuz- und Kirchenmetaphorik gibt Tavares seine Protagonisten auch Psalmen aus der Bibel an die Hand: „Vergesse ich dich, Jerusalem, so verdorre meine Rechte“ – hier taucht er wieder auf, der portugiesische Originaltitel „Jerusalém“, den man im Deutschen ohne weiteres hätte beibehalten können.

Gonçalo M. Tavares mag vielleicht tatsächlich kein Recht dazu haben, bereits in relativ jungen Jahren so gut zu schreiben – dass er es aber dennoch tut, ist ohne jeden Zweifel ein Segen für die zeitgenössische Literatur. „Die Versehrten“ ist ein symbolisch aufgeladenes und grauenvoll intensives Meisterstück und lässt auf weitere Übersetzungen Tavares’ ins Deutsche hoffen.

Titelbild

Goncalo M. Tavares: Die Versehrten.
Übersetzt aus dem Portugiesischen von Marianne Gareis.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2012.
240 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783421045027

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