Leider kein Standardwerk

Die Grass-Biografie von Volker Neuhaus

Von Alexandra PontzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Pontzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine Biografie von Günter Grass zu schreiben, ist sowohl leicht als auch schwer. Leicht, weil mühselige Materialrecherchen nicht notwendig sind: Seit einem halben Jahrhundert führt Grass ein nahezu öffentliches und vielfach dokumentiertes Leben und gibt außerdem in autobiografischen Texten weitgehende Auskünfte über sein Privatleben. Hinzu kommt, dass auch seine fiktionalen Werke von Autobiografica durchzogen sind, wofür „Die Blechtrommel“, von der Grass selbst schreibt, dass sie ihm bei der eigenen Lebenserzählung immer wieder in die Quere komme, das berühmteste Beispiel ist.

Schwer, weil ein Biograf nichts wesentlich Neues mitteilen kann und weil er gegen die von einem autobiografischen Material ausgehende Suggestion ankämpfen muss, den Blickwinkel des Autors zu teilen und so gegen das Gebot größtmöglicher Objektivität zu verstoßen. Dabei sind Fallstricke nicht einige offenkundige Selbstinszenierungen, die man unter dem Schlagwort Autofiktion subsumieren könnte; größere Gefahr für eine abwägende Darstellung geht von der Affirmation aus, die ein persönlichkeitsstarker Autor wie Grass für sich und seine Sicht der Dinge zumindest unterschwellig einfordert.

Volker Neuhaus, im Klappentext als „Doyen der Grass-Forschung“ vorgestellt und Herausgeber aller Grass-Gesamtausgaben, macht selbstverständlich von den autobiografischen Texten umfänglichen Gebrauch, oft wörtlich zitierend, wobei er, einer Anregung von Grass selbst folgend, die drei jüngeren einschlägigen Werke, „Beim Häuten der Zwiebel“, „Die Box“ und „Grimms Wörter“, als „Trilogie der Erinnerung“ zusammenfasst. Am ergiebigsten ist das erste dieser Werke und muss schon deswegen hervorgehoben werden, weil Grass in ihm seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS öffentlich gemacht hat. Der politische Irrglaube des Jugendlichen und mehr noch die einerseits kalkuliert späte, dann aber zumindest ungeschickte Art des Erwachsenen, damit umzugehen, werfen einen Schatten auf seine Biografie, den Neuhaus aufzuhellen versucht, indem er Häme, Schadenfreude und Schlimmeres als Motiv für die gegen Grass erhobenen Vorwürfe ausmacht. In der Sache sagt er wenig Neues, denn inzwischen ist alles bekannt oder scheint zumindest bekannt zu sein.

Trotzdem zitiert Neuhaus, um Grass’ tiefe Verletzung zu illustrieren, die Gedichte „Mein Makel“ und „Nach fünf Jahrzehnten“ aus „Dummer August“ in vollem Wortlaut. Überhaupt ist es auffällig und prinzipiell begrüßenswert, dass neben dem Erzähler der Lyriker Grass häufig zu Wort kommt, wie auch der bildende Künstler keineswegs übergangen wird, obwohl dieser gegenüber einer biografischen Darstellung naturgemäß am resistentesten ist.

Wenn das Buch trotz der Kennerschaft des Verfassers und trotz des bei dieser Kennerschaft erwartbaren Informationsreichtums immer wieder skeptisch stimmt, dann liegt das daran, dass Neuhaus zu oft nicht als Literaturwissenschaftler auftritt, sondern als Gefolgsmann, der glaubt, er müsse seinem Herrn in dessen vielen, meist politisch veranlassten Fehden treulich zur Seite stehen. Eine Ausnahme macht er lediglich bei der Kontroverse mit Vargas Llosa über die politischen Zustände in Lateinamerika und vor allem im Kuba Fidel Castros; hier lässt sich wenigstens zwischen den Zeilen lesen, dass Grass vielleicht auch Unrecht hat.

Bloße Parteinahme zeitigt wenig Erkenntnisgewinn. Wohlgemerkt: Erwünscht ist keine ohnehin nicht praktizierbare Meinungsenthaltsamkeit, empfehlenswert jedoch wäre Meinungszurückhaltung. Wenn Grass-Gegner gern über das Ziel hinausschießen und maßlos werden, so ist es wenig hilfreich und dient letztlich auch nicht einer überzeugenden Verteidigung, wenn man als Apologet mit gleicher Münze heimzahlt und zum Beispiel vom fanatischen Vernichtungswillen der Gegner (mehrfach), von deren Auslöschungsattitüde (Durs Grünbein) und realem Todeswunsch (Hans Ulrich Gumbrecht) spricht.

Grass polarisiert, und in einer Biografie wäre der Versuch begrüßenswert, der überdurchschnittlich großen Abneigung auf den Grund zu gehen, auf die er vielfach gestoßen ist und immer noch stößt. Über die konkreten einzelnen Anlässe hinaus wäre eine psychologische Studie über den Polemiker Grass vonnöten und, da zur Polemik mindestens zwei gehören, über die polemischen Kontrahenten. Dabei könnte man ausgehen von der sprichwörtlichen Einsicht „Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus“, doch das bliebe zu allgemein. Einschlägiger ließe sich die spezifische Aggressivität, die der Ich- und erlebensstarke Autor auf sich zieht, mit Hinweis auf ein „Divan“-Gedicht Goethes erklären, in dem dieser die Angriffe seiner Gegner auf Konkurrenzdenken zurückführt – eine Parallele, die Grass gefallen könnte – und in der illusionslos zynischen Frage resümiert: „Lebt man denn, wenn andre leben?“ In der letzten Strophe dann die Verse: „Und das grobe Selbstempfinden / Haben Leute hart gescholten, / Die am wenigstens verwinden / Wenn die andern was gegolten.“ In diesem Sinne könnte Grass zu seinen Widersachern sprechen, wobei er das „grobe [!] Selbstempfinden“ nicht unterschlagen dürfte. Wer sein ohnehin beträchtliches Ego aufs Podest stellt, provoziert Animosität.

Am Weltruhm von Grass ist nicht zu zweifeln, und dass er als „unser einziger lebender Weltautor“ zu gelten hat, ist eine Einschätzung, die an und für sich plausibel klingt. Ärgerlich ist, dass sie, vielfach wiederholt und variiert, im Kontext von Neuhaus’ Darstellung zu einem Apotropäum wird, das Kritiker bannen soll. Mag bei Rangeinstufungen der Superlativ noch sinnvoll sein, in anderen Zusammenhängen stört die Neigung zum Hyperbolischen. Neuhaus meidet sogar die Steigerung „extremst“ nicht und gewichtet als singulär, was mit dem zeitlichen Abstand den Reiz des Sensationellen eingebüßt hat. So nennt er beispielsweise die anfangs negative Aufnahme von „Ein weites Feld“ „eine Skandalgeschichte ohne ihresgleichen in der Literaturgeschichte“. Literaturgeschichte schlechthin? Aus Neuhaus’ eigener Darstellung geht hervor, dass es, betrachtet man die Rezeption dieses Romans in ihrer ganzen Bandbreite, so schlimm nicht war. Aber alles, was mit Grass zu tun hat, ist eben einmalig.

Einige saloppe Formulierungen mögen dem Versuch geschuldet sein, locker und unakademisch zu schreiben. Doch diesem Versuch gegenläufig ist das Bemühen, möglichst viel Wissen auszubreiten, eine pedantische Schwäche von Neuhaus, die selbst Grass moniert. Anlässlich einer Ausstellung von Zeichnungen und einer Lesung, beide von Neuhaus eingeleitet, notiert er ins Tagebuch: „Neuhaus [ … ] gerät mit seinem Vielwissen rasch ins überstürzte Plappern.“ Wie treffend die Beobachtung ist, dafür bietet die vorliegende Biografie Beispiele. Der Verzicht auf Fußnoten führt nicht zum Verzicht auf nebensächliche Informationen, sie werden vielmehr in den Fließtext integriert, machen ihn sperrig und sind außerdem, da das Buch weder ein Personen- noch ein Sachregister hat, schwer auffindbar.

Fußnoten sind noch kein Nachweis von Wissenschaftlichkeit; aber dass der Leser jegliche Anmerkungen entbehren muss und die vielen Zitate nicht problemlos, manchmal überhaupt nicht verifizieren kann, verärgert, weil Hilfe zur Überprüfung und Vertiefung versagt wird. Zudem fehlt ein Literaturverzeichnis, nicht einmal Ausgaben werden aufgeführt. Ein Buch, das zumindest für einige Jahre zum Standardwerk der Grass-Forschung hätte werden können, bleibt unter dem philologischen Niveau einer Rowohlt-Monografie.

Als Antwort auf die Frage, warum ein so renommierter Literaturwissenschaftler und ausgewiesener Fachmann wie Neuhaus sich Blößen gibt, die leicht hätten vermieden werden können, sei eine Vermutung gestattet: Wahrscheinlich sollte die Biografie rechtzeitig zum 85. Geburtstag von Grass vorliegen, nicht zuletzt im Interesse des Steidl-Verlags, und deswegen hat der Verfasser unter Zeitdruck gearbeitet und das Lektorat von zeitraubenden Änderungswünschen abgesehen. Schön wäre es, wenn eine zweite, gründlich überarbeitete Auflage, die durchaus zu begrüßen wäre, die Mängel beseitigte.

Titelbild

Volker Neuhaus: Günter Grass. Schriftsteller - Künstler - Zeitgenosse. Eine Biographie.
Steidl Verlag, Göttingen 2012.
460 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783869305165

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