Ein großes Werk der Weltliteratur?

Glanz und Elend der „Cantos“ Ezra Pounds

Von Dieter LampingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dieter Lamping

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Il miglior fabbro“ hat T.S. Eliot Ezra Pound in seiner Widmung von „The Waste Land“ 1922 genannt – aus Dank für das Lektorat seines Werks, das ihm über den Kopf gewachsen war. „Il miglio fabbro“ ist ein Zitat aus dem 26. Canto des Purgatorio, in dem Dante Arnaud Daniel so nennt: „Fu miglior fabbro del parlar materno“ („War einst der beste Schmied der Muttersprache“, in der Übersetzung Hermann Gmelins). Diese Verbeugung hat viel Eindruck gemacht. Dass Pound Eliots langem Gedicht die gültige Form (vor)gegeben hat, sichert ihm aus der Sicht mancher bereits eine kleine Unsterblichkeit – vorausgesetzt, dass sich Eliots Werk als unsterblich erweist. Pounds Ruhm als Dichter gründet sich aber letztlich nicht auf seinen Beitrag zu „The Waste Land“, sondern auf seine „Cantos“. Die Arbeit an ihnen hatte er bereits aufgenommen, als er Eliots Gedicht redigierte. Danach trieb er sie entschiedener voran.

Zwischen 1925 und 1969 hat er sie selbst in zehn Bänden herausgebracht, zum Teil in großen Abständen. Nun sind die 120 Gesänge erstmals in einer deutschen Gesamtausgabe erschienen, übersetzt von Eva Hesse und Manfred Pfister, kommentiert von Heinz Ickstadt und Eva Hesse: ein imposantes Werk, gegen dessen fast 600 – mit Übersetzung und Kommentar fast 1500 – Seiten sich „The Waste Land“ mit seinen 443 Versen schmal ausnimmt. Es ist das Lebenswerk des unermüdlich tätigen und vielseitig interessierten Pound, das ihn über vierzig Jahre beschäftigt hat. Eindrucksvoll in seinem Reichtum und Beziehungsreichtum, ist es tatsächlich auch mit seinem Leben auf vielerlei Weise verbunden, nicht zuletzt mit dessen spektakulärem Teil: der anti-amerikanischen Propaganda im Zweiten Weltkrieg und der darauf folgenden Bestrafung durch die USA. Viele, allerdings meist amerikanische Lyriker von Charles Olson bis Robert Lowell haben dieses umstrittene Œuvre verehrt, wenngleich durchweg mit ideologiekritischen Reserven. Aber sind die „Cantos“ wirklich ein großes Werk der Weltliteratur?

Auf jeden Fall verlangen sie dem Leser viel ab. Wenn er die ersten fünf ‚Gesänge’ gelesen hat, weiß er, was ihr Verfasser wie selbstverständlich voraussetzt: dass der Leser Italienisch, Französisch, Spanisch, Griechisch und Lateinisch beherrscht – später kommt noch das Chinesische hinzu, auch ein bisschen Deutsch. Und das sind nur die Sprachen. Den ersten Canto kann der Leser gar nicht verstehen, wenn er nicht die „Odyssee“ genau in Erinnerung hat – bis hin zu Nebenfiguren wie Perimedes und Eurylochus, auch Elpenor. Andreas Divus, der die „Odyssee“ ins Lateinische übertragen hat, sollte ihm ein Begriff sein, ebenso dessen Pariser Verleger. Für die Lektüre des zweiten Canto ist es hilfreich, eben noch Robert Browning gelesen zu haben, und zwar dessen Epos „Sordello“, das Pound sehr geschätzt hat, außerdem die Kritik des chinesischen Dichters Li T’ai Po an seinem Kollegen Sima Xiangru. Eine gründliche Kenntnis von Ovids „Metamorphosen“ und den „Bakchen“ des Euripides sind gleichfalls von Nutzen.

Von dem lyrischen Ich der „Cantos“, das in mehrere Rollen schlüpft, von denen die des Odysseus nur die erste ist, könnte man freundlich-respektvoll sagen, dass es sehr gebildet sei. Seine Bildung ist allerdings zu einem beträchtlichen Teil eine Privat-Bildung mit ganz eigenen Schwerpunkten. Richtiger wäre es deshalb wohl, den Sprecher belesen zu nennen – sehr belesen. Viele „Cantos“ sind zu einem großen Teil Zitat-Montagen; sie reihen Lesefrüchte aneinander, die der Leser meist selbst identifizieren muss (was ihm nun der verdienstvolle Kommentar abnimmt). Ihren Zusammenhang macht der Sprecher auch nicht unbedingt kenntlich. Der Leser ist aufgefordert, ihn selbst herzustellen, indem er nachliest, worauf ihn der Verfasser hinweist.

Das wird bei fortschreitender Lektüre immer schwieriger. Denn zu den Referenzen gehören nicht nur große Werke der abendländischen Literatur, von Homer und Vergil über Dante und die Troubadours bis zu Browning und T.S. Eliot, Guido Cavalcanti nicht zu vergessen. Mit großer Selbstverständlichkeit bringt der Verfasser auch chinesische Literatur und Philosophie ins Spiel, Konfuzius vor allem, dem der 13. Canto gewidmet ist. Darüber hinaus bezieht er sich auf allerlei historische, ökonomische, politiktheoretische und linguistische Literatur, wobei der Briefwechsel der beiden ersten amerikanischen Präsidenten, Thomas Jefferson und John Adams, noch zu den bekannteren Schriften gehört. Die Selbstverständlichkeit, mit der Pound auch beim Leser voraussetzt, was er kennt, verrät den elitären Charakter seines Werks. Es wendet sich nur an eine kleine Gruppe Verständiger und Kundiger, die aufnehmen können, was er zu sagen hat.

Ein durchlaufendes Thema gibt es in den „Cantos“ nicht, allenfalls das eine oder andere Motiv, das wiederkehrt: Wucher, gerechte Herrschaft und das Paradies auf Erden („a paradiso terreste“), schließlich die Liebe. Mit dem 14. Canto ist das lyrische Ich, das sich zuvor über weite Strecken in der Renaissance bewegt hat (und es danach auch weiterhin tut), in seiner Gegenwart angekommen. Im 15. fällt ein Stichwort, das bis zum Ende die „Cantos“ durchzieht: Usura. Der lateinische Ausdruck für Wucher steht im Mittelpunkt der ökonomischen Theorie Pounds und damit im Mittelpunkt seiner Kapitalismuskritik. Vom 31. Canto an wendet sich Pound der politischen Geschichte der USA zu, nicht zuletzt dem Kampf einiger Präsidenten gegen die Macht der Groß-Banken. Die Cantos XLII bis LI gelten der Geschichte der Toskana in der Renaissance und im 18. Jahrhundert, besonders Sienas und seiner beiden bedeutendsten Banken. Die folgenden Cantos sprechen vor allem von dem konfuzianischen Ideal der guten und gerechten Herrschaft. Anschließend kehren sie zu John Adams, dem zweiten Präsidenten der USA, zurück. Mit den Cantos LXXIV bis LXXXIV, die im amerikanischen Militärstraflager in Pisa geschrieben wurden, ist Pound wieder in seiner Gegenwart, nicht zuletzt bei „Ben and la Clara“: bei dem gerade von Partisanen gehängten Mussolini und seiner Geliebten Clara Petacci. Der nächste größere Teil, der in der Psychiatrie entstand, verbindet verschiedene Motive – ökonomische, politische, philosophische – miteinander. Das zentrale politische Problem der gerechten Herrschaft greift Pound schließlich in den Cantos XCVI bis CIX erneut auf, nun anhand von byzantinischen, englischen und chinesischen Schriften. Der Rest sind Entwürfe und Fragmente.

Das sind nur grob gezeichnete Linien. Die einzelnen „Cantos“ sind in ihrer oft mäandernden gedanklichen Bewegung schwer zu beschreiben – und schwer nachzuvollziehen. Wenn ihrer Abfolge ein Plan unterlegt ist, so bleibt er weitgehend geheim. Auch einen eigentlichen Abschluss haben die „Cantos“ nicht. Sie setzen unvermittelt ein („And then went down to the ship“.) und brechen fast ebenso ab („A little light, like a rushlight to lead back to splendour”). Das ist in seiner Kühnheit anziehend und in seiner Inkohärenz unbefriedigend zugleich. Die „Cantos“ weisen weder eine logische noch eine chronologische oder historische Struktur auf. Eine Komposition im strengen Sinn fehlt. Verteidiger der „Cantos“ sprechen deshalb gern mit dem Autor von einem „work in progress“ – was aber oft nur ein Euphemismus ist.

Pound war am Ende strenger mit sich. „I am not a demigod“, schreibt er in Canto CXVI, „I cannot make it cohere“. Den Montagen der „Cantos“ fehlt nicht nur im Großen der künstlerische Zusammenhalt, oft auch im Einzelnen. Manche wirken auf eine gewollte Weise hermetisch. Nicht immer erschließt sich die poetische Relevanz der diversen Lektüren. Je länger man in den „Cantos“ liest, umso entschiedener fragt man sich, ob Pound über die Jahrzehnte intellektuell und poetisch hat zusammenbringen können, was ihm durch den Kopf ging.

Den Verdacht muss er selbst schon bald gehabt haben. „’Perchè in ordine?’ (vuol metter le sue idee)“: „Warum wollen Sie Ihre Ideen in (eine) Ordnung bringen?“ So zitiert Pound in Canto LXXXIX Mussolini, wohl aus der Audienz, die der Duce ihm 1933 gewährte. Die Frage war vermutlich eine Gegenfrage. Offenbar hat Mussolini, der die „Cantos“ auch unterhaltsam, „divertente“ nannte, die ästhetischen Bedenken Pounds mit diesem Wort weggewischt. Es war ein schlechter Rat. Etwas von der Selbstherrlichkeit Mussolinis, die in seiner Bemerkung steckt, scheint sich Pound als Autor zueigen gemacht zu haben.

Die Inkohärenz des Werks ist für viele Leser ein Angebot, sich ihren Pound zurechtzulegen. Was dabei stört, wird als selbstwidersprüchlich deklariert, als das, was zum Eigentlichen des Autors und seines Werks nicht gehört. Ein angemessenes Urteil über beide muss aber von dem Mangel an Zusammenhalt ausgehen. Bis zum Ende bleibt der Eindruck, dass es Pound an einem klar ordnenden Verstand fehlte – und zwar Sachverstand, aber auch Kunstverstand. Offenbar war er zu besessen von seinen politischen und ökonomischen Ideen, in denen es vor allem um Geld und Gerechtigkeit geht, als dass er sie einem poetischen Kalkül unterwerfen konnte.

Genauso offensichtlich ist, dass er in wichtigen Punkten nicht unterscheiden konnte: etwa zwischen Antikapitalismus und Antisemitismus, zwischen der gerechten Herrschaft und dem Faschismus, zwischen Thomas Jefferson und Benito Mussolini. Es mag zu stark sein, ihn einen verirrten und verwirrten Geist zu nennen. Aber er neigte zu großen politischen Irrtümern, die natürlich den Wert seiner „Cantos“ in Frage stellen. Was soll man von einem Autor denken, der in den vielleicht düstersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts an der Idee eines Paradieses auf Erden festhielt? Der in einem faschistischen Staat lebte, der für ihn einige Ähnlichkeit mit diesem „paradiso terrestre“ hatte und dessen Untergang er zu Beginn von Canto LXXIV, ebenso gewunden wie irregeleitet, „The enormous tragedy of the dream in the peasant’s bent shoulders“: „Die ungeheure Tragik des Traums im krummen Rücken des Bauern“ (in der Übersetzung Eva Hesses) nannte. Zumindest in den 40er Jahren, und spätestens mit den Gesängen LXXII und LXXIII, hat er die „Cantos“ in ein dezidiert faschistisches Epos verwandelt, mit dem er dem Mussolini der Republik von Salò letzte Unterstützung zukommen lassen wollte.

Gegen die politischen Irrtümer hat man gern den ästhetischen „Modernismus“ aufgerechnet, der Pounds Montagekunst zugrunde liegt. Die Rechnung geht jedoch nicht so einfach auf. Pounds „Make it new“, ein Schlüsselsatz der Moderne, verrät auch eine Abhängigkeit von der Tradition. Sie gewissermaßen in Material zu verwandeln und neu zu arrangieren, ist oft genug ästhetisch reizvoll. Aber schon in den ersten „Cantos“ tritt die Spannung zwischen lyrischem Monolog und vielstimmig orchestriertem, die Überlieferung wieder aufgreifendem Lehrgedicht auf, die bis zum Ende kaum gelöst wird. Pound hat auch nicht die Schreibweise der „Cantos“ gefunden. Er wechselt beständig das Register, etwa zwischen hohem antikisierendem und bewusst vulgärem Stil, ohne sich ästhetisch zu entscheiden.

Das wäre, im Sinn einer Poetik der Brüche, nicht unbedingt zu beanstanden. Doch die Offenheit, die ein solches Konzept verlangt, bringt Pound ideologisch kaum auf. Tatsächlich verwandelt er sich schnell in einen meist eifrigen, oft eifernden Lehrer seiner Leser. Er will sie nicht nur zu Schülern machen, die wissbegierig seinen Lektüren folgen, sondern auch zu Anhängern, ja Jüngern. Er spricht zu ihnen als Autorität aus der Fülle seines Wissens und Besser-Wissens. In „ABC des Lesens“ – gerade neu aufgelegt – hat Pound geschrieben:

„Kein Lehrer ist je an seiner Unwissenheit gescheitert.
Das ist eine Berufserfahrung.
Lehrer scheitern daran, dass sie nicht ‚mit der Klasse zurechtkommen’.“

Das soll heißen: Die Schüler verstehen manchmal den Lehrer nicht – so wie die Leser den Dichter. Der Gedanke verrät Pounds Selbsteinschätzung. Er ist sich seiner Sache meist sehr sicher, vor allem wenn es um Ökonomie und Politik und deren Zusammenhang mit der Kunst geht. So zählt er etwa in seinem litaneiartigen didaktischen Canto XLV, etwas ermüdend, auf, was es alles „With Usura“ nicht gebe. Dazu gehört vor allem die große italienische Malerei des 15. Jahrhunderts: Mantegna, „Pietro Lombardo“, „Pier della Fransceca“, „Angelico oder Ambrogio Praedis“. Dass sich diese Kunst in mehr als einer Hinsicht dem italienischen Frühkapitalismus verdankt, kommt Pound nicht in den Sinn. Die Renaissance, in der das moderne europäische Bankenwesen entsteht, ist für ihn, wie es im Kommentar heißt, „noch eine ‚moralisch saubere Epoche’“. Pound war nicht nur verblendet, wenn es um seine Zeit ging.

An der Autorität des autoritären Lehrers sind insgesamt Zweifel angebracht. Sein Versuch, Politiker seiner Zeit, bis hin zu Mussolini und Roosevelt, wirtschaftstheoretisch zu belehren, verdankt sich beträchtlicher Selbstüberschätzung. Nicht nur seine Quellen, die literarischen wie die philosophischen, sind vormodern. Seine ökonomische Theorie ist offenbar an vorindustriellen, vor allem handwerklichen und landwirtschaftlichen Modellen orientiert. Rückwärtsgewandt ist nicht zuletzt, schon in den ersten „Cantos“, seine für die anti-moderne Moderne typische Beschwörung göttlicher Präsenz in der Welt. Sie ist oft nicht mehr als ein literarisches Projekt im engeren Sinn: die forcierte Remythisierung einer von der Aufklärung entzauberten Welt mit Hilfe klassischer literarischer Bildung.

Allerdings gelingen Pound dabei einige seiner besten Verse, so etwa in den beschreibenden Passagen von Canto II. Ihre Konzentration hat Momente einer mystischen Versenkung in die Dinge. Ihr fast musikalischer Rhythmus verrät die hohe Verskunst ihres Verfassers. Für sie gilt, was er in seinem Traktat über Metrik geschrieben hast: „HÖRE darauf, wie es klingt.“ Wie die letzten Fragmente und Entwürfe in ihrer selbstkritischen Direktheit lassen diese Verse ahnen, was für ein Werk die „Cantos“ hätten sein können, hätte der Autor mehr auf seine eigene poetische Stimme vertraut: auf seine Wahrnehmung einer Wirklichkeit, die er stattdessen schon bald nur noch ideologisch zu sehen vermochte.

„Gutes Schreiben“, heißt es in „ABC des Lesens“, „ist gleichlaufend mit dem Denken des Schreibenden, es hat die Gedankenform, die Form der Art und Weise, in der der Mensch sein Denken erfährt.“ In diesem Sinn sind die nicht nur weitverzweigten, sondern sich in den Verzweigungen und Abzweigungen verlierenden „Cantos“ vor allem ein Monument des Scheiterns. Manches spricht dafür, dass am Ende auch der zunehmend depressive und selbstkritische Autor sie so beurteilte. Er muss nicht nur geahnt haben, dass er mit einem imposanten Aufwand an Geist und Belesenheit die Wirklichkeit verfehlt und sich selber übernommen hatte.

In „ABC des Lesens“ hat Pound auch Schönheit definiert: „Eine Definition des Schönen ist: die Stimmigkeit.“ Diese Stimmigkeit, nach der er offenbar selbst verlangte, hat er mit den „Cantos“ nicht erreicht. Als „Il miglio fabbro“ hat er sich bei Eliots großem Werk gezeigt, nicht bei seinem eigenen. Die Struktur, die er „The Waste Land“ gegeben hat, hat er für die „Cantos“ nicht gefunden. Pound ist unter den großen Lyrikern der Moderne der große Gescheiterte.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

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Ezra Pound: Die Cantos. Zweisprachige Erstausgabe.
Ediert und kommentiert von Heinz Ickstadt und Manfred Pfister.
Übersetzt aus dem Englischen von Eva Hesse.
Arche Verlag, Zürich 2012.
1500 Seiten, 98,00 EUR.
ISBN-13: 9783716026540

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Titelbild

Ezra Pound: ABC des Lesens.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Eva Hesse.
Arche Verlag, Hamburg 2013.
140 Seiten, 14,95 EUR.
ISBN-13: 9783716025116

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