Höllenrachen, Bruderkuss und die Semantik der Zähne

Hartmut Böhme und Beate Slominski erschließen in „Das Orale“ mit einem interdisziplinären Rundumschlag das komplexe Organensemble des Mundraums

Von Veit Justus RollmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Veit Justus Rollmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jeder hat seinen eigenen Mund. Diese prima specie triviale Feststellung trifft nicht nur auf das Individuum zu, sondern auch auf jede wissenschaftliche und künstlerische Disziplin, die sich aus ihrem je eigenen Blickwinkel dem Mundraum und den Zähnen widmet. Während Zahnmediziner, Kieferorthopäden und Oralchirurgen, Physiologen und andere medizinische Berufe im cavum oris einen Fachterminus und ein therapeutisches Handlungsfeld erkennen, ist das Orale oder der Mundraum für den Filmemacher, Schriftsteller, bildenden Künstler und den Kulturwissenschaftler mit „obliquen Assoziationen kontaminiert“. Was die Zahnärztin Beate Slominski und der Kulturtheoretiker Hartmut Böhme als Herausgeber vorlegen, ist ein Versuch, den Mundraum in seiner ganzen assoziativen Breite in den Blick zu nehmen. Erst eine wirkliche Interdisziplinarität erschließt das orofasziale System vollumfänglich und diese erste Grundthese des Buches leitet zur zweiten über: der zweiten Geburt des Menschen die „im und durch den Mundraum“ erfolgt. Der Mundraum ist Ort einer Ur-Teilung von Innenwelt und Außenwelt. Region des primären sich-Unterscheidens von der umgebenden Welt, die man einerseits verinnerlichend assimiliert und mit der man andererseits sich entäußernd kommuniziert. Durch diese basale Differenzierung konstituiert sich Individualität.

Um den Anspruch einer alle Fachgrenzen transzendierenden Annäherung an das Phänomen des Oralen einzulösen und die obgenannte These zu plausibilisieren, bündeln die Herausgeber Beiträge namhafter Autoren jedweder Provenienz in mehreren Kapiteln, die sich unter Oberbegriffen wie Kultur- und Wissensgeschichte, Psychodynamik, Traum Wahn und Tod, Zahnmedizin im kulturellen Kontext etc. dem Mundraum und seiner Bedeutungsfracht widmen. Die Liste der Beiträger reicht von Jürgen Weitkamp, Klaus Michael Meyer-Abich und Durs Grünbein bis hin zu Wladimir Kaminer und Jonathan Meese.

Letzterer trägt mit anderen zeitgenössischen Künstlern im letzten Teil des voluminösen Bandes dazu bei, die tradierten und immer wieder aktualisierten Bedeutungen des Oralen anschaulich zu machen. Das abschließende Kapitel zur Spiegelung des Oralen in den Werken der zeitgenössischen Kunst offenbart, um einmal ein Beispiel aus dem Inhalt zu geben, dass auch im Falle des Mundes und seiner Darstellung bestimmte künstlerische Motive Jahrhunderte der Kunst- und Kulturgeschichte überspannen. Ein solcher bildnerischer Topos ist die Mundpartie als Signum des Grotesken und Verzerrten. Er findet sich ebenso in den im Kontext der Einführung dargestellten physiognomischen Studien grotesker Köpfe aus der Feder Leonardo da Vincis vom Ende des 15. Jahrhunderts wie auch in den Gesichtern aus Fimo-Knete, die Thomas Schütte 2012 fotografierte (und die ebenso wie die im selben Kapitel zu findende Fotografie von Aura Rosenberg Assoziationen an die SAW-Filme zu wecken vermögen).

Was Hartmut Böhme und Beate Slominski mit ihrem voluminösen Bild- und Sammelband vorgelegt haben, vermag zweifellos und sicher nicht allein durch die von bisherigen Rezensenten eigens erwähnte Gestaltung des Einbands zu faszinieren. Neben Bekanntem in neuer Kontextualisierung gibt es in jedem Kapitel Neues und Unerwartetes zu entdecken. Etwa, wenn ein Track aus Pink Floyds legendärem Musikfilm von 1972 im menschenleeren Amphitheater von Pompeji zum Exkurs über einen plombierten Backenzahn einlädt. Dennoch stellt sich die Frage, an welche Zielgruppe sich das Werk eigentlich richtet. Betrachtet man die geisteswissenschaftliche Hochsprache, die schon in der Einführung mit Sätzen wie „der Mundraum ist ein sensibler, ebenso proprio- wie heterorezeptiver Wahrnehmungsraum […] die erste Sphäre in der sich rudimentäre Formen unserer Autoreferentialität bilden“ oder der These, die „elementare Disjunktion von Innen und Außen“ habe neben Faktoren wie oraler Libido und Sprachbildung „durch die allererst semiotische Vergegenständlichung und kommunikative Teilhabe möglich werden […] absolut erstrangige Bedeutung für die Ontogenese des Individuums“ den Leser (heraus-? über-?)fordert, scheint sich der Band an Studierende oder Studierte der Geistes- und Kulturwissenschaften zu wenden. Ohne den exzellenten – und für entsprechend interessierte Rezipienten unterhaltsam lesenswerten – Essays des Bandes ihren Wert abzusprechen, hätte hier eine weniger gehobene Diktion einen ungleich größeren Leserkreis angesprochen. Möglicherweise ist dies jedoch bewusst geschehen, um hinsichtlich einer primären Zielgruppe – den Zahnärztinnen und Zahnärzten – ein klares Zeichen zu setzen. Der Band richtet sich nicht an Handwerker (ein von manchen Zahnärzten immer noch gerne bemühtes Klischee), sondern an Akademiker und unterstreicht damit das Faktum der „progredienten Verwissenschaftlichung der Zahnheilkunde in Europa und den USA“. Allen, die angesichts von (geistes-)wissenschaftlichen Wortgetümen, wie den beispielsweise angeführten, abschalten, bleibt ein pracht- und liebevoller Bildband der ebenso durch Schönheit wie Schrecken in Bann schlägt.

Hiermit – dem lustvollen Schauder angesichts von Märtyrern, Zahnreißern und den Qualen des Höllenfeuers – wird jedoch eine weitere potentielle Zielgruppe in Frage gestellt: Die Patienten in den Wartezimmern der Zahnärzte. Wer zu dem Kreis derer zählt, die sich beim Gedanken an den bevorstehenden Zahnarztbesuch in einem Gefühlsspektrum zwischen bangem Unwohlsein und nackter Panik einordnen, wird nur dann angesichts mancher klinischer oder künstlerischer Darstellung der Tortur in vorliegendem Band Linderung erfahren, wenn durch similia similibus curentur: das (dargestellte) Leid das Leiden lindert oder heilt, wie bei der Schutzpatronin der Zahnärzte St. Apollonia oder dem Isenheimer Altar Grünewalds. Letztlich bleibt es dem Zahnarzt überlassen, ob er das Buch im Wartezimmer auslegt. Interessant und unterhaltsam ist es allemal und das Ästhetische, Kuriose und Erotische hält dem Bizarren und Schrecklichen die Waage.

„Das Orale. Die Mundhöhle in Kulturgeschichte und Zahnmedizin“ der beiden Herausgeber Hartmut Böhme und Beate Slominski wagt einen Rundum wie auch Brückenschlag, der erstmals die medizinischen wie kulturellen Dimensionen eines Organensembles, wie es Mund, Zunge und Zähne sind, gemeinsam erfahrbar macht. Die Sorgfalt, Vielfalt und Liebe zum Detail, durch welche dieses Wagnis zweifelsohne geglückt ist, bereichern die Welt der Bücher um einen Schatz, der sicherlich in jede zahnärztliche Privatbibliothek gehört.

Titelbild

Hartmut Böhme / Beate Slominski (Hg.): Das Orale. Die Mundhöhle in Kulturgeschichte und Zahnmedizin.
Wilhelm Fink Verlag, München 2013.
346 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783770555123

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