Die Verwirrungen der Talente-Schülerin Rennefanz

Ein neuer Ost-West-Mythos wird konstruiert: „Die stille Wut der Wendegeneration“

Von Michael OstheimerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Ostheimer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dieses Buch ist ein Ärgernis. Sein Titel „Eisenkinder. Die stille Wut der Wendegeneration“ verspricht eine psychohistorische Generationstypik mit Erklärungsansprüchen bis hin zur NSU-Problematik, präsentiert wird stattdessen die Individualgeschichte einer ostdeutschen Adoleszenz. Was bleibt: Eine generationelle Selbstermächtigungsgeste und eine Ahnung von den jungen Leiden der 1974 in Beeskow geborenen Journalistin Sabine Rennefanz.

Mai 1989 in Eisenhüttenstadt: Eine Schülerin steht vor dem Lehrerzimmer der EOS Clara Zetkin und begehrt um Aufnahme. Als Internatsschülerin kehrt sie dann dem brandenburgischen Dorf ihrer Herkunft den Rücken und wächst hinein in ihre „Rolle“ in dem „Volkstheater“ DDR. Sie interessiert sich „nicht für Politik“, nimmt „die Unzulänglichkeiten des Staates hin wie Naturkatastrophen“ und hält sich „pflichtbewusst an die Regeln“. Als ihre „Talente-Klasse“ in der Wendezeit abgewickelt wird, fällt sie aus allen Wolken („Ich fühlte mich gekränkt, ich nahm das alles persönlich.“).

Während Sabine Rennefanz nach 1989 mit hilflosen Eltern, schwachen staatlichen Autoritäten und einer Regellosigkeit im ostdeutschen Alltag konfrontiert wird, erscheint ihr der spätere Studieneinstieg an der FU Berlin als symbolisch für eine „Massenuni“, ja, für eine „westdeutsche Institution“ überhaupt: „kalt, unpersönlich, unübersichtlich“. Das westliche System entpuppt sich als Enttäuschung auf der ganzen Linie: „Gepredigt wurde Freiheit und Toleranz und Mitbestimmung, aber in Wahrheit war der Einzelne so unfrei wie früher.“ Nachdem die Autorin in Hamburg in den Dunstkreis einer evangelikalen Freikirche gerät und zwischenzeitlich zur missionarischen Christin avanciert, schließt sie ihr Studium der Politikwissenschaften ab und wird Journalistin. Ein Dreiklang, wie er bildungsromanhafter kaum sein könnte: Eine Jugend in der ostdeutschen Provinz, Irrungen und Wirrungen in der Nachwende-Zeit, Selbstfindung und harmonischer Abschluss durch die tätige Integration in die Gesellschaft.

So weit, so gut. Nur: Sabine Rennefanz beansprucht mehr, als ihren persönlichen Bildungsroman zu schreiben. Sie möchte die Einübung in das „Indianerspiel“ DDR als entscheidende Prägung für ihr klerikale „Rolle“ verstanden wissen („Wie im Theater. Ich fügte mich dort ganz leicht ein, als ob ich meine Rolle schon lange früher einstudiert hätte.“). Konkreter ausgedrückt: Ihrer auf manichäischen Konstruktionen basierenden DDR-Sozialisation („Ich kam aus einer Welt, in der zwischen Gut und Böse unterschieden wurde. Man konnte nicht beides sein, man musste sich entscheiden.“) verdanke sich die Anfälligkeit für den christlichen Fundamentalismus („Der Lauf der Welt, das war […] ein ständiger Kampf zwischen ‚Gut‘ und ‚Böse‘. Es ähnelte der Weltsicht, mit der ich aufgewachsen war, nur mit umgekehrten Vorzeichen.“). Schließlich kommt Rennefanz, wie im Epilog des Buches ausgeführt wird, nicht umhin, auch Uwe Böhnhardts Mutter ihre Geschichte darzulegen, um mit einer täteridentifikatorischen Vereinnahmungsgeste zu erklären, „wie ich ähnlich wie ihr Sohn in den neunziger Jahren abgedriftet bin“.

Vom Mangel an moralischer Geschmeidigkeit mal ganz abgesehen, werden an dieser argumentativen Nahtstelle Einzelschicksale sozialpsychologisch auf das Größenverhältnis des Kollektivsingulars Generation hochkopiert. Als Fazit steht die Behauptung einer Wendegeneration, deren Identitätsproblematik durch Orientierungslosigkeit, die Erfahrung des Nicht-Dazugehörens sowie eine manichäische Weltauffassung gekennzeichnet sei. Nun ist der Begriff der Generation ein äußerst voraussetzungsreiches kulturelles Konstrukt, das dazu dient, natürliche Bezüge zu ratifizieren. Um ihn zu plausibilisieren, muss man mindestens dreierlei leisten: Eine Theorie des Ereignisses ausbuchstabieren, das eine Generation begründet. Die Funktionsweise dieser prägenden Ereignisse im Einzelnen beschreiben. Den Entwurf einer generationellen Gesellschaft liefern, die Individuum und Generation miteinander verknüpft.

Als Fragen formuliert: Inwiefern gerät das einschneidende historische Ereignis „Wende“ zu einer historischen Erfahrung mit mentalitäts- und stilbildendem Charakter, die über die Zugehörigkeit zu einer Altersgruppe mit spezifisch politisch-kulturellem Habitus entscheidet? Werden die durch die Vereinigung Deutschlands verfügbar gewordenen Lebensgestaltungsmöglichkeiten für die um 1990 adoleszenten Ostdeutschen wirklich durch die Familienbande beziehungsweise die sozialisatorischen Herkunftsbeziehungen überlagert? Ferner: Welcher Art sind die Korrespondenzen zwischen Rennefanz und dem NSU?

Anstatt Antworten auf diese Fragen zu formulieren, wird die Generation bei Sabine Rennefanz zu einem schwammigen Sammelbegriff für eine Gefühlsgemeinschaft, deren gemeinsame Erfahrung in der Orientierungslosigkeit der Autoritäten (zumal Eltern und Lehrer) gründet. Der Leser bekommt eine autobiografische Erzählung vorgesetzt, die prätendiert, eine Mikroerzählung der Nachwendegeschichte zu sein. Ein Wechselverhältnis zwischen individueller Lebensgeschichte und Historiografie indes stellt sich nicht ein.

Der Begriff der Generation ist nicht geschützt, vielmehr zum willkürlichen metaphorischen Gebrauch freigegeben. Nahezu täglich erfindet die Zeitgeistdebatte eine neue Generation (von der Generation Golf über die Generation Praktikum bis zur Generation Klingelton). Da das Generationenkonzept zwischen dem biologisch beschriebenen Medium der Genealogie und dem kulturellen Überlieferungsprozess changiert, inhäriert ihm als geschichtsdiagnostisches Instrument eine gewisse Gefahr: nämlich dass es kulturelle Phänomene naturalisiert, geschichtstheoretische Fragen auf Demografie reduziert. Der Ausdruck „Eisenkinder“ avanciert bei Rennefanz zu einem problematischen Ausdruck für die Unfähigkeit der von der Wende betroffenen ostdeutschen Teenager, die Kontrolle über und die Verantwortung für das eigene Schicksal zu übernehmen, ohne nach struktureller Entlastung bei dem Kollektivbegriff der Generation zu suchen.

Um zu verstehen, was hier auf dem Spiel steht, lohnt sich ein Blick zurück: Vor genau 50 Jahren erschien Alexander Mitscherlichs „Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft“, worin er hervorhob, welche Spuren der Vaterverlust bei Kindern hinterlässt: Weder komme es zu einer hinreichenden Entfaltung des Gewissens noch zu einer am Vorbild und im Miteinander mit dem Vater eingeübten Bewältigungspraxis des Lebens. Im Ergebnis begründen diese Versäumnisse eine „gescheiterte Sozialentwicklung“ und gesteigerte „Phantasiebildungen“ beziehungsweise „Halluzinationstendenzen der primären Triebwünsche“. Nun hatte Mitscherlich mit seiner Verlustanzeige nicht den „verlorenen Vater […], den der Krieg getötet hat“, im Sinn. „Es ist vielmehr an ein Erlöschen des Vaterbildes zu denken, das im Wesen unserer Zivilisation selbst begründet ist und das die unterweisende Funktion des Vaters betrifft: Das Arbeitsbild des Vaters verschwindet, wird unbekannt.“

Die zeitdiagnostische Qualität des von sozialpsychologischer Seite beklagten Vaterverlusts ist immer noch aktuell. Als zeitgenössisches Pendant, das die Wende zum historischen Index für die Markierung einer Generation macht (und die ostdeutsche mit der westdeutschen Generationalität kontrastiert), kommt Sabine Rennefanz’ „Eisenkinder“ jedenfalls nicht in Frage. Auch nicht als ernstzunehmendes Angebot für eine ost-westdeutsche Gesprächskultur (einen ersten Schritt in diese Richtung geht das Projekt der „Dritten Generation Ost“, das im Buch erstaunlicherweise keine Erwähnung findet).

Identitäten können zum Beispiel über Nationen, Berufsgruppen, Geschlechter, Religionen, Weltbilder, Lebensstile entstehen – oder auch über Generationen. So griffig die Zuschreibung „Eisenkinder“ klingen mag, so unplausibel ist sie als Identifikationsangebot für eine generationelle Identität. Damit, dass die Generation zum Medium einer wohlfeilen Gedächtnispolitik wird, könnte man noch leben. Allem Anschein nach geht es aber weniger um die soziologische Begründung einer Generation als vielmehr um den medialen Wettbewerb um Aufmerksamkeit. Nicht um eine sozialpsychologisch redliche Generationsdiagnose, sondern um Windstärke im feuilletonistischen Blätterwald. Das Buch speist sich nämlich nicht zuletzt aus einer leichtfertigen Koketterie mit dem Herkunftsmilieu des braunen Sumpfs. Daher kann man nur hoffen, dass es später nicht einmal in Anlehnung an den Ausspruch des früheren israelischen Außenministers Abba Eban, „There’s no business like Shoah business“, heißen wird: „There’s no business like NSU business“.

Titelbild

Sabine Rennefanz: Eisenkinder. Die stille Wut der Wendegeneration.
Luchterhand Literaturverlag, München 2013.
256 Seiten, 16,99 EUR.
ISBN-13: 9783630874050

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