Was für ein Leben!

Zum Tod des Literaturkritikers Marcel Reich-Ranicki

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Marcel Reich-Ranicki ist tot. Er starb am 18. September nachmittags in Frankfurt ohne Schmerzen und ohne Angst, vom Leben erschöpft.

Was für ein Leben!

Dass Reich-Ranicki in Deutschland der erfolgreichste, der wirkungsvollste und deshalb auch umstrittenste Literaturkritiker der Nachkriegszeit ist, steht außer Zweifel. Mehr als er kann ein Kritiker nicht erreichen. Wie niemand sonst hat er seit einem halben Jahrhundert unser literarisches Leben mit geprägt – genauer: seit 1958, als er in die Bundesrepublik reiste und nicht mehr nach Polen zurückkehrte.

Ein bewegtes, einen jeden, der darüber liest oder hört, bewegendes Leben hatte der damals 38-Jährige zu diesem Zeitpunkt hinter sich. In Wloclawek an der Weichsel, wo er am 2. Juni 1920 geboren wurde, lebte er als Kind einer deutschen Jüdin und eines polnischen Juden, bis der geschäftliche Ruin seines Vaters die Familie dazu zwang, den Wohnsitz nach Berlin zu verlegen. Als Jude und polnischer Staatsangehöriger konnte er in Berlin zwar 1938 noch sein Abitur machen, das Immatrikulationsgesuch an die Universität wurde jedoch abschlägig beschieden.

Reich-Ranicki arbeitete zunächst als Lehrling in einer Exportfirma, wurde im Herbst 1938 verhaftet und nach Polen deportiert, lebte dort ab 1940 im Warschauer Getto, aus dem er 1943 zusammen mit seiner Frau in den Warschauer Untergrund floh. Sein Vater, seine Mutter, sein Bruder wurden von Deutschen ermordet. Die sowjetische Armee befreite ihn, er trat der kommunistischen Partei Polens bei, arbeitete in der polnischen Militärkommission in Berlin, im polnischen Außenministerium, 1948 und 1949 als Konsul der Republik Polen in London und zugleich im polnischen Geheimdienst, wurde nach der Rückkehr in Warschau aus der Partei wegen „ideologischer Entfremdung“, so die offizielle Begründung, ausgeschlossen, dann zwei Wochen in einer Einzelzelle gefangen gehalten.

Mit dieser Haftzeit endete Reich-Ranickis politische Karriere im diplomatischen Dienst – und es begann eine neue: Sie stand im Dienst der Literatur. In dem eindrucksvollen Gespräch, das Joachim Fest im Dezember 1982 mit Reich-Ranicki für die Fernsehserie „Zeugen des Jahrhunderts“ führte, erinnerte sich dieser an das Buch, das ihm die Tage im Gefängnis in gewissem Sinn zu den schönsten jener Jahre machte: Anna Seghers „Das siebte Kreuz“. „Unter dem Einfluß dieses Romans in der Gefängniszelle habe ich beschlossen, mich, wenn ich wieder freikomme, vielleicht doch mit der Literatur zu befassen.“ „Beruflich“, muss man wohl ergänzen; denn zum enthusiastischen Leser war er schon als Berliner Gymnasiast durch die Anregungen des Theaters und des Deutschunterrichts geworden.

Reich-Ranicki kam frei, und er durfte, unterbrochen von Berufs- und Publikationsverboten, in jenem Reservat arbeiten, in dem man anstößigen Individuen einige Narrenfreiheiten zubilligt: auf dem Gebiet der Literatur und des literarischen Lebens. Er arbeitete in einem Verlag, schrieb für die Zeitung und für den Rundfunk, und er übersetzte – immer als Vermittler deutscher Literatur für polnische Leser.

In der Bundesrepublik stand er 1958 zusammen mit seiner Frau ein weiteres Mal in seinem Leben vor dem Nichts. Geld hatte er keines, doch als kulturelles Kapital immerhin vorzügliche Kenntnisse der deutschen Literatur, publizistische Begabung und Erfahrung sowie einige Bekanntschaften mit westdeutschen Autoren.

Heinrich Böll hatte ihm eine Bürgschaft ausgestellt, die für die Ausreisegenehmigung nötig war. Siegfried Lenz tat damals alles, um ihm Kontakte mit Rundfunksendern und Zeitungen zu verschaffen. Kritiken in der „Welt“ und in der „Frankfurter Allgemeinen“ sowie die Teilnahme an Tagungen der „Gruppe 47“ machten ihn rasch so bekannt und begehrt, dass ihm „Die Zeit“ zum 1. Januar 1960 eine ständige Zusammenarbeit anbot. Frei von redaktionellen Belastungen schrieb er vierzehn Jahre lang für diese Zeitung und wurde in ihr schnell zu der literaturkritischen Instanz der Bundesrepublik. Mit Polemik, Ironie und Neid, mit Bewunderung und Respekt ernannte man ihn in diesen Jahren zum „Großkritiker“ und zum „Literatur-Papst“, doch seine Fähigkeiten, den Willen zur öffentlichen Wirksamkeit und seine Macht konnte er erst 1973, als er die Leitung des Literaturteils der „Frankfurter Allgemeinen“ übernahm, ganz entfalten. Er machte sie zur buch- und literaturfreundlichsten Zeitung Deutschlands. Er machte sie aber auch zur Krönung seiner Kritikerkarriere.

So schien es zumindest. Als Reich-Ranicki Ende 1988, weil es die Gesetze der Zeitung so vorschrieben, die Leitung des Literaturteils an einen Jüngeren abgeben musste, glaubten manche, eine Ära der Literaturkritik sei zu Ende, ein Generationenwechsel vollzogen; es finde gleichsam ein Artensterben statt. Denn der Typus des Großkritikers, den Reich-Ranicki ebenso wie Friedrich Sieburg, Günter Blöcker, Walter Jens, Fritz J. Raddatz oder Joachim Kaiser, nur viel vollkommener als alle diese, verkörperte, sei vom Aussterben bedroht.

Nachdem die Kommentare zu Reich-Ranickis Abgang schon den Ton von Nachrufen angestimmt hatten, belehrte dieser die Öffentlichkeit schnell eines Besseren. Abgesehen davon, dass er in der F.A.Z. Herausgeber und Redakteur der von ihm 1974 ins Leben gerufenen „Frankfurter Anthologie“ blieb und weiterhin literaturkritische Beiträge in dieser Zeitung veröffentlichte, hat sich das Spektrum seiner Wirkungsmöglichkeiten nur noch erweitert. Im „Spiegel“ und auch wieder in der „Zeit“ konnte man ihn gelegentlich lesen, vor allem aber konnte man ihn hören und sehen – in seinem „Literarischen Quartett“.

Das Fernsehen, diese gewiss in vieler Hinsicht fragwürdige, doch zweifellos wirksamste Animationsmaschinerie in Sachen Literatur, hatte Reich-Ranicki gerade noch gefehlt. Mit ihm gelang es, seine Popularitätskurve noch einmal kräftig steigen zu lassen. Sie schien nicht mehr überbietbar. Doch dann, 1999, erschien „Mein Leben“. Seinen größten und eindrucksvollsten Erfolg hatte Reich-Ranicki im Alter von beinahe achtzig Jahren – als Schriftsteller, als Autor seiner Autobiografie.

Doch er blieb bei seinem Beruf, dem der Literaturkritik. „Kritik als Beruf“ heißt programmatisch eines seiner letzten Bücher. Es gibt zahllose Schriftsteller, Journalisten oder Literaturwissenschaftler, die auch als Literaturkritiker tätig sind. Reich-Ranicki war, von gelegentlichen Abwegen abgesehen, ausschließlich Kritiker. Diese Spezialisierung und Konzentration machten seine Professionalität aus und waren einer der Gründe für seinen Erfolg.

Seine Wirkung reichte bis in die Wunsch- und Alpträume berühmter Autoren hinein. Seine Kritiken wurden über Jahrzehnte hinweg zu gespannt erwarteten Ereignissen. Seine Rezensionen und Essays, zunächst in flüchtigen Medien erschienen, haben sich zu einem dauerhaften literaturkritischen Werk angesammelt, das in mittlerweile über dreißig selbstständigen Buchpublikationen vorliegt. Sie erschienen meist in mehreren überarbeiteten Auflagen oder fanden als Taschenbücher weite Verbreitung. Die Spannbreite all dieser Publikationen ist enorm: Sie umfasst auch zahlreiche Autoren russischer, polnischer, französischer und vor allem englischer Sprache, und sie basiert auf umfassenden und fundierten literarhistorischen Kenntnissen der Literatur seit Shakespeare.

Reich-Ranicki war Gesprächsthema, wo immer man über Literatur redete. Er wurde imitiert und parodiert, war Gegenstand zahlreicher Anekdoten und ging als mehr oder weniger verschlüsselte Figur in Romane, Dramen oder Gedichte ein. Mit vielen Preisen hat man ihn bedacht, auch mit akademischen Ehren. Als Gastprofessor lehrte er in zahlreichen ausländischen und deutschen Universitäten. 1974 wurde er Honorarprofessor an der Universität Tübingen. 1972 zeichnete ihn die Universität Uppsala mit der Ehrendoktorwürde aus. Deutsche Universitäten begannen diesem Beispiel erst zwanzig Jahre später zu folgen, in Bamberg, Augsburg, München und zuletzt Berlin.

Woher dieser beispiellose Erfolg, diese konkurrenzlose Dominanz eines Literaturkritikers?

Zu den Gründen für seinen Erfolg gehört die oft provozierende, für Überraschungseffekte allemal gute Respektlosigkeit im kritischen Umgang mit anerkannten Autoritäten. Vor mehr als zwei Jahrhunderten veröffentlichte der 24-jährige Goethe das Gedicht über jenen unverschämten Kerl, der sich bei seinem Gastgeber erst satt isst und hinterher bei anderen über das Essen mäkelt. Die Wut über den undankbaren Schmarotzer gipfelt in den Ausrufen: „Der tausend Sackerment!/ Schlagt ihn tot, den Hund! Er ist ein Rezensent.“

Marcel Reich-Ranicki lebte damals leider noch nicht, doch vor einiger Zeit hat er Goethe endlich geantwortet, hat zu dem Gedicht mit dem Titel „Rezensent“ gleichsam eine späte Rezension geschrieben. Und obwohl Reich-Ranicki immer wieder beteuerte, schon seit Jahren nicht mehr „lauter Verrisse“ zu schreiben und tatsächlich nur noch selten solche schrieb, gerieten ihm seine Ausführungen zu dem Goethe-Gedicht in der „Frankfurter Anthologie“ zum Totalverriss: Goethe, so Reich-Ranicki, „genießt den Ruf, Deutschlands größter Lyriker zu sein. Das stimmt schon. Wenn es um die Poesie geht, kann ihm keiner das Wasser reichen. Aber natürlich hat auch er, der unverbesserliche Vielschreiber, zahlreiche mäßige oder schwache Gedichte produziert, gelegentlich sogar törichte. Doch das dümmste, das seiner Feder entstammt, ist wohl das Gedicht ‚Rezensent’.“

Hinter der demonstrativen Respektlosigkeit dieser Zeilen gegenüber einem Autor, den Reich-Ranicki so hoch schätzt wie wenige andere, steht ein sein literaturkritisches Selbstbewusstsein in mehrfacher Hinsicht kennzeichnendes Programm. Es hat zum Erfolg dieses Kritikers wesentlich beigetragen.

In seinem Buch „Der doppelte Boden“, einer Art Summe seiner literarischen Erfahrungen und literaturkritischen Ansichten, geäußert in einem langen, spannenden, höchst anregenden und lehrreichen Gespräch mit dem Zürcher Literaturwissenschaftler und Kritiker Peter von Matt, nennt er die Klassikerverehrung eine „Spezialität des deutschen Untertanen-Staates“ und bewundert die Engländer, die nie vor der Frage zurückscheuten: „How good is ‚Hamlet’?“ In Reich-Ranickis Übersetzung: „Was taugt eigentlich der Shakespeare?“ Shakespeare sei dadurch lebendig geblieben. „Durch das Anzweifeln wird die überlieferte Literatur am Leben erhalten, zumindest in vielen Fällen.“

Reich-Ranicki lehrte der Literaturkritik statt einer knienden Haltung den aufrechten Gang. In allen Publikationen ist er ein „Kritiker“ im emphatischen Sinn des Wortes: ein engagierter Verteidiger der Kritik gegenüber allen, denen diese genuin aufklärerische Tätigkeit suspekt ist. Auch darin war seine Reaktion auf Goethes Gedicht typisch. Dass die nationalsozialistische Kulturpolitik 1936 unter dem Vorwand, das schöpferische Genie vor den Zersetzungen der Kritik zu schützen, ein offizielles Verbot der Kunstkritik erließ und sie durch die „Kunstbetrachtung“ ersetzte, ist für Reich-Ranicki das abschreckende Beispiel in einer langen und bis heute andauernden Tradition der Kritikfeindlichkeit. Gegen sie schrieb er unermüdlich an.

In der Tradition der Aufklärung, der Lessings zumal, verteidigte er die entschiedene Wertung, die Provokation eingespielter Vorurteile. Die polemische Infragestellung anerkannter Autoritäten machte auch vor Lessing nicht Halt. Ihm sagte er zu dessen 200. Todestag nach, er habe „in seinem ganzen Leben zu den Dramen Shakespeares keinen einzigen bemerkenswerten Satz geschrieben“, sondern „immer nur leere Phrasen.“ Dennoch charakterisierte Reich-Ranicki in anderen Passagen dieses Artikels mit Lessing auch sich selbst: „Seine große Leidenschaft hieß Polemik.“ Er liebte „den Widerspruch, die Diskussion, den Streit.“ Lessings Rechtfertigung der Polemik als einer Möglichkeit, die Auseinandersetzung mit Literatur zu dynamisieren, stand Reich-Ranickis Selbstverständnis zweifellos nahe. Wer ihn las, hörte oder sah, merkte: Er wollte Recht haben. Zugleich aber suchte er den Widerspruch. Wer ihn genauer kannte, wusste, dass dem „Literaturpapst“ der päpstliche Anspruch auf Unfehlbarkeit fremd war. Sein Verständnis von Literaturkritik schloss das Risiko des Fehlurteils programmatisch mit ein. Der gute Kritiker, so betonte er wiederholt, zeichnet sich durch den Mut zur Entscheidung aus. „Wer ‚ja’ oder ‚nein’ sagt, der riskiert natürlich einen großen Irrtum. Den schwachen, den schlechten Kritikern, die stets ‚Jein’ sagen, kann schlimmstenfalls ein halber Irrtum unterlaufen. Die bedeutenden Kritiker erkennt man gerade an ihren Irrtümern, weil sie im Urteil irrend gleichwohl ihre Objekte glänzend zu charakterisieren vermochten.“

In der Tradition der Aufklärung steht auch Reich-Ranickis permanentes Beharren auf einem Maximum literaturkritischer Klarheit und Verständlichkeit. Er begreift sie als Dienst für ein breites, literaturinteressiertes Publikum. Er selbst sah darin einen der entscheidenden Gründe für seinen Erfolg. Mit den Maßstäben seiner literaturkritischen Urteile – er hatte natürlich welche, auch wenn er das gerne bestritt – maß er zugleich die Qualitäten der Kritik: Literatur und Kritik sollen es dem Leser nicht unnötig schwer machen, sie zu verstehen. Reich-Ranickis hartnäckiges Bemühen, die besonders in Deutschland breite Kluft zwischen anspruchsvoller Literatur und dem literaturinteressierten Publikum zu verkleinern, wenn nicht sogar zu schließen, hinderte ihn keineswegs daran, auch schwierige Autoren hoch zu schätzen und öffentlich zu preisen: Wolfgang Koeppen, Thomas Bernhard oder Hermann Burger. Wenn gute Literatur oft schwierig ist, dann hat die Kritik umso mehr die Aufgabe, „zwischen der Kunst und dem Publikum, zwischen der Literatur und ihren Lesern zu vermitteln“.

Es sind diese Vermittlungswünsche und -fähigkeiten, die maßgeblich zu Reich-Ranickis öffentlicher Resonanz beigetragen haben. In dem vielfach gespannten Verhältnis zwischen Literaturwissenschaft und journalistischer Kritik bauen seine Publikationen Brücken, und er hat als Redakteur der F.A.Z. vielen Literaturwissenschaftlern Gelegenheit gegeben, ihrerseits die Kluft zwischen ihrem Fach und der literarischen Öffentlichkeit zu verringern.

Reich-Ranickis Verrisse und Lobreden beziehen ihre mitreißende Energie aus einer geradezu obsessiven Leidenschaft für Literatur. Noch der heftigsten Kritik ist bei Reich-Ranicki die Enttäuschung eines Liebhabers eingeschrieben, der nicht gefunden hat, was er leidenschaftlich suchte. Wem Literatur so viel bedeutet, der meint es ernst, wenn er über sie spricht. Wer Reich-Ranicki jedoch immer ganz ernst nahm, musste ihn verfehlen. Am Ende seines „Literarischen Quartetts“ pflegte er zu sagen: „Alle Fragen offen.“ Kennzeichnender für ihn und seine Sendung war indes, was er davor sagte: „Vorhang zu.“ Denn was da zu Ende ging, war ein Schauspiel, nicht selten eine Komödie. Alle seine Auftritte und auch seine Rezensionen hatten etwas von dem Charakter einer Inszenierung. Peter von Matt machte in dem Gespräch mit Reich-Ranicki die vielleicht verblüffende Bemerkung, er habe bei der Lektüre der Rezensionssammlung „Lauter Verrisse“ viel gelacht. Es sind unter anderem die Stilmittel der überspitzten Formulierung und der maßlosen Übertreibung, die diesen Effekt gewollt hervorbringen. Hierin glich Reich-Ranicki einem anderen großen Komödianten und Übertreibungskünstler, den er nicht zufällig außerordentlich schätzte: Thomas Bernhard. Reich-Ranickis Witz entsprach dem, was Literaturkritik seiner Auffassung nach auch zu leisten hat: den Leser zu vergnügen.

Ein Thomas Gottschalk der Literaturkritik? Nein. Ein großartiger Entertainer zwar, aber einer, der seine Begabung, seine Energie, seinen ungeheuren Fleiß und seinen Einfluss für etwas einsetzte, das er neben der Musik über alles liebte, das es aber in Zeiten der Konkurrenz mit audiovisuelle Medien zunehmend schwer hat: die Literatur.

Nach dem Tod seiner Frau Teofila, Tosia genannt, im April 2011 wurde Reich-Ranicki zunehmend ruhiger, schwächer, einsamer – und milder. Sein großer und denkwürdiger Auftritt vor dem Deutschen Bundestag im Januar vorigen Jahres, am Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, mit dem er eine so große Öffentlichkeit erreichte wie nie zuvor, war ein Akt letzter Kraft. Gespräche fielen ihm schwer. Mit ihm am Telefon oder in seiner Frankfurter Wohnung zu sprechen, zu verstehen, was er sagte und sagen wollte, wurde immer schwieriger. Einmal fragte er plötzlich, ob man ihm nicht Arbeit beschaffen könnte, ein anderes Mal sagte er, dass seine Frau ermordet worden sei. Die Schrecken der Vergangenheit bemächtigten sich zuweilen seiner Wahrnehmung der Gegenwart. Da war es gut zu sehen und zu wissen, dass er bis zuletzt Menschen um sich hatte, denen er vertraute, die er liebte, die sich rührend um ihn sorgten und die ihm das langsame Sterben leichter machten.