Die ewige Rebellin

Zum Tod der Literatur-Nobelpreisträgerin Doris Lessing

Von Simone FrielingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simone Frieling

1.

150 Pfund Sterling und ein Manuskript in der Tasche, den zweijährigen Sohn Peter auf dem Arm, ohne Beziehungen und Kontakte: So suchte Doris Lessing im London der Nachkriegszeit eine Bleibe, um ein neues Leben als Schriftstellerin zu beginnen. Die Dreißigjährige hatte 1949 alles hinter sich gelassen, was zu ihrem bisherigen Leben gehörte: die Heimat, die Mutter, den Bruder, zwei Ehemänner und ihre zwei kleinen Kinder aus erster Ehe. „Der ganze Sinn und Zweck dieser Reise“ war, von der Mutter loszukommen, „von der Familie und von diesem gräßlich provinziellen Südrhodesien, wo jede ernsthafte Unterhaltung, wenn sie denn überhaupt zustande kam, sich immer nur um die Rassenschranke und die Unzulänglichkeiten der Schwarzen drehte“.

Freiwillig hatte Doris Lessing die vertraute Provinz gegen die fremde Metropole eingetauscht und, obwohl sie behauptete: „Ich war frei. Ich konnte endlich ganz ich selbst sein“, hatte sie nun dieselben Sorgen und Nöte wie eine Exilantin; als Autorin allerdings zehrte sie lebenslang von den Erfahrungen ihrer ersten dreißig Jahre in Afrika.

Die erste Wohnung, in der sie ein Zimmer fand, lag in Bayswater, „das damals ziemlich schäbig war“. Sie wohnte zur Untermiete bei einer Frau aus Südafrika, die zwei weitere Zimmer an Prostituierte vergeben hatte. Als Lessing das bemerkte, zog sie wieder aus. Die nächste Bleibe fand sie bei einer italienischen Familie, die ihr und Peter die Dachkammer überließ, die – „bildlich gesprochen − so klein war, daß ich nicht einmal eine Schreibmaschine aufstellen konnte“.

Doris Lessing schickte ein paar Kurzgeschichten an eine Agentur, die sie aus dem „Writers’s & Artist’s Handbook“ ausgesucht hatte, und bekam umgehend die Anfrage nach einem Roman. Es gab einen, aber der war bereits von einem Verleger in Johannisburg angenommen worden. Die Agentur löste den ungünstigen Vertrag und brachte den Roman in einem Londoner Verlag unter. So erschien schon 1950 Doris Lessings erstes Buch: „Afrikanische Tragödie“ („The Grass Is Singing“). Der Stoff der Geschichte, die in Rhodesien spielt und von dem Unglück eines weißen Farmerehepaars handelt und ein Liebesverhältnis zwischen der „gebrochenen“ Farmerin Mary Turner und dem schwarzen Diener Moses andeutet, war wie dazu gemacht, verfilmt zu werden. Unter dem Titel „Killing Heat“ kam er 1981 in die Kinos. Von dem Vorschuss ihres Verlegers konnte Lessing eine Zeit lang leben, er brachte ihr die erste wirtschaftliche Unabhängigkeit. Gleichzeitig zog sie den Hass ihrer Mutter und der Weißen des Landes auf sich, denn zu deutlich hatte sie die unhaltbaren Zustände ihrer Heimat beschrieben und mit der Liebesgeschichte einen Tabubruch begangen.

Sich gesellschaftlicher Verantwortung zu stellen, war Lessings Programm ein Leben lang. So brachte die ‚Einwanderin‘ mit ihrem Debüt den kolonialen Diskurs nach England, als die Apartheit im öffentlichen Bewusstsein noch keine Rolle spielte. Als Kind britischer Farmer in Südrhodesien hatte sie sich schon in der Heimat fremd gefühlt und den Umgang der Weißen mit den Schwarzen kritisch beobachtet. In Großbritannien, der Heimat ihrer Eltern, war sie wieder eine Fremde, die Zurückweisungen und Misstrauen erlebte, als hätte sich ihre soziale Stellung noch einmal verkehrt. Diese schmerzlichen Erfahrungen eröffneten Doris Lessing einen neuen Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, es ging ihr nicht mehr nur um Weiß und Schwarz, sondern auch um die Vormachtstellung des Mannes gegenüber der Frau. Von einer unbändigen Freiheitsliebe getrieben, die schon in ihrer Kindheit zur Rebellion gegen die Eltern geführt hatte, spürte die Autorin alle Missverhältnisse zwischen Menschen auf, in der Liebe, der Sexualität, der Politik, der Wirtschaft, und machte sie zu ihren Themen.

Obwohl die ersten Londoner Jahre Krisenjahre waren, in denen das Gefühl des Selbstverlustes größer war als das der Befreiung aus unhaltbaren privaten und politischen Verhältnissen, hielt Doris Lessing hartnäckig an ihrem Plan fest, sich als Autorin ihren Weg zu bahnen. Trotz der Enge der Dachkammer kam sie gut voran mit ihrem neuen Roman „Martha Quest“, der 1952 veröffentlicht wurde. Während die „Afrikanische Tragödie“ kein autobiographischer Text war, handelte sie in „Martha Quest“ ihre „schmerzliche Jugendzeit ab“, ihre „Mutter, all diese Qualen, den Kampf ums Überleben“.

Erst nachdem eine Bekannte sie in ihr Haus in Kensington, einem wohlhabenderen Viertel, aufgenommen hatte, begannen für Doris Lessing und ihren Sohn vier glückliche Jahre. Joan Rodker, die neue Vermieterin, führte als Kommunistin ein offenes Haus; durch sie lernte Doris Lessing viele Gesinnungsgenossen kennen, die ihren Blick auf den Apartheitsstaat in Afrika teilten. Joan Rodker wurde nicht nur eine enge Freundin, sondern auch das Vorbild für die Figur der Schauspielerin Molly Jacobs, eine der beiden Frauen in „Das goldene Notizbuch“ („The Golden Notebook“). Als der Roman 1962 herauskam, wurde er als überwältigendes literarisches Ereignis gefeiert, auch im Ausland. Damit gelang Doris Lessing der literarische Durchbruch.

Der sechshundert Seiten starke Roman gilt Literaturwissenschaftlern bis heute als Hauptwerk, für Feministinnen war er lange Zeit eine Art ‚Bibel‘. Fragmentarisch, aus disparaten Teilen zusammengesetzt, verlangt dieses Werk dem Leser eigenes Gestaltungsvermögen ab. Ihm kommt – anders als bei konventionell geschriebenen Romanen − die Rolle zu, einzelne Bruchstücke zu einem ästhetischen Ganzen zusammenzufügen. Die experimentelle Form, für die sich Lessing entschied, ist wie dazu gemacht, kaleidoskopartig alle Themen, die der Autorin wichtig waren, nebeneinander existieren zu lassen: den britischen Kolonialismus, die Emanzipation der Frau, die politischen Kämpfe zwischen kommunistischen Gruppierungen oder die nukleare Bedrohung der Menschheit. Als hätte sie einen Kristall vor Augen gehabt, der erst durch seine Einschüsse und verschiedenen Ausbuchtungen interessant wird und Gestalt annimmt.

Doris Lessing hat ihr Leben lang autobiographisch geschrieben. Ein wesentlicher Erzählungsstrang in „Das goldene Notizbuch“ beschäftigt sich mit dem Identitätsverlust der Protagonistin Anna Wulf, die wie Lessing Schriftstellerin ist. Sigrid Löffler bezeichnet sie als „Doppelgängerfigur“, an der die Krisen der Autorin nachgezeichnet werden. Von dem Geliebten verlassen, der kommunistischen Partei den Rücken kehrend, durch eine Schreibhemmung blockiert, erlebt sie einen Zusammenbruch, der sich in einer Art von Wahnsinn äußert, der von der Autorin aber nicht als pathologisch gebrandmarkt wird. Aus der „Verwandlungskrise“ gehen Figur und Autorin gestärkt hervor, ohne auf ein geschlossenes Weltbild zurückgreifen zu müssen, mit der Fähigkeit, Absplitterungen zu integrieren.

2.

1919 in Persien (heute Iran) geboren, verbrachte Doris May Tayler ihre Kindheit und Jugend in der britischen Kolonie Südrhodesien (heute Zimbabwe), in der ihre Eltern als Maisfarmer hofften, reich werden zu können. Das Mädchen besuchte die allgemeine Grundschule, quälte sich in ihr ab, wurde dann Schülerin der All Girls High School in Salisbury, die sie mit vierzehn auf eigenes Betreiben verließ. Damit endete ihre schulische Ausbildung, und Doris reihte sich, ohne es zu wissen, in die lange Kette der Künstler ein, die ihre Bildung selbst in die Hand nahmen. Wichtig für ihren Werdegang als zukünftige Autorin war die Lektüre: Sie las Dickens, Stevenson, Scott, Kipling, später D.H. Lawrence, Stendhal, Tolstoi, Dostojewski und andere. Die Buchpakete aus London erwartete sie sehnlichst, sie ermöglichten ihr den ersten Blick in andere Verhältnisse und schufen eine Gegenwelt zu dem trostlosen Alltag auf der elterlichen Farm. Die Bücher regten Doris‘ Phantasie an, beschrieben Situationen, die den ihren glichen, und andere, von denen sie nie zu träumen gewagt hatte. Die eigentliche Ausbildung von Doris fand beim Lesen und Zuhören statt. Die Geschichten, die ihre Mutter erzählte, und deren anschauliche Lektionen über Geographie, Astronomie und Mathematik mochte sie, obwohl sie ihre Mutter nicht liebte. Die Kriegsgeschichten ihres Vaters waren ihr ein Graus, sie nannte sie: „fathers bitter memories of World War I“. Diese Geschichten wurden ihrem Vater umso wichtiger, je mehr er als Farmer versagte und das Unternehmen in den Ruin trieb. Doris Lessing ging als Erwachsene so weit, zu behaupten, er habe in späteren Jahren ein Paralleleben geführt. Auf der einen Seite litt er unter seiner Frau, seiner schweren Zuckerkrankheit und den miserablen Zuständen auf der Farm, auf der anderen Seite war er ununterbrochen beschäftigt mit den Gräueln des Ersten Weltkriegs und machte die Kriegsverhältnisse in den Schützengräben zu seiner zweiten Realität. Die Autorin konstatierte: „We are all of us made by war“.

Den stärksten Widerwillen aber hegte Doris Lessing zeitlebens gegen ihre Mutter, die in London eine tüchtige Krankenschwester gewesen war, bevor sie ihren Mann geheiratet und sich von dem privilegierten Leben einer weißen Farmerfamilie in der britischen Kolonie einen gewissen Glanz und Reichtum versprochen hatte, ohne auf das Landleben in Südrhodesien im mindesten vorbereitet gewesen zu sein. Das Gegenteil trat ein: Die Familie verarmte, war schlecht gelitten unter den tüchtigeren Farmern und näherte sich gefährlich den Lebensbedingungen an, denen die Schwarzen unterworfen waren, die sie verachtete. Sie erzog vor allen ihre Tochter Doris streng. Fast obsessiv wünschte sie sich eine „proper daughter“ und setzte im Haus einen hygienischen Standard durch, der in Südrhodesien absurd war. In ewigem Streit mit der Mutter verließ Doris mit Fünfzehn das Elternhaus und schlug sich als Kindermädchen durch. Die neue Situation war nicht weniger frustrierend als die zu Hause. Doris rettete sich in Tagträume und begann Kurzgeschichten zu schreiben. Einige von ihnen sandte sie an südafrikanische Zeitschriften, zwei von ihnen wurden veröffentlicht. Damit war der Grundstein für den Beruf der Schriftstellerei gelegt.

Die weiteren fünfzehn Jahre in Südrhodesien waren gekennzeichnet von ständig wechselnden Lebensplänen, verschiedenen Tätigkeiten, Arbeitsplätzen, Liebesverhältnissen, Eheschließungen und Scheidungen und von drei Mutterschaften. Ein Leben voller Glück und Unglück, Liebe und Hass, Nähe und Entfremdung, ein Chaos ohnegleichen.

Ohne ihre Verhältnisse oder ihr Gefühlsleben geordnet zu haben, trat Doris Lessing 1949 ihre Reise nach London an. Die Kraft für dieses Vorhaben gewann sie eigentümlicher Weise aus oft durchaus unschönen Charaktereigenschaften: der Wut gegen Zwänge, der Auflehnung gegen Unterdrückung, der Hartnäckigkeit und dem scharfen Urteil über andere. Sie nahm nie ein Blatt vor den Mund, sprach aus, was sie gerade dachte. Als sie später mit Ehrungen und Preise überhäuft − 2007 erhielt sie den Nobelpreis für Literatur − und zu einer öffentlichen Person wurde, war sie nicht gewillt, hofiert zu werden. Sie behandelte Journalisten, die ihr schmeichelten, außerordentlich schroff. Lakonisch, unbestechlich, eine große Spötterin, hörte sie die falschen Töne gerade in Lobesreden heraus. Diese Eigenschaften behielt Doris Lessing bis zu ihrem Tod im November 2013.

3.

Der Preis, den Doris Lessing für diese Art Umgang mit den Schwächen des menschlichen Geschlechts zahlte, war im Privatleben sehr hoch. Das, was ihr einmal lieb und teuer gewesen war, scheiterte. Ihr Liebesleben war eine Abfolge von Trennungen, die zu großem Unglück führten. Die familiären Beziehungen blieben ein Leben lang gestört, ihren Vater verachtete, ihre Mutter bekämpfte sie: „zuerst voll heißer Empörung, später dann kalt und hart“, gab Lessing zu. Ebenso scheiterte die Beziehung zu den Vätern ihrer Kinder und lange Zeit hegte sie einen Unwillen gegen ihren Sohn Peter, der in den ersten zwanzig Jahren ihre „einzige Konstante“ in London gewesen war. In ihrer Autobiographie „Schritte im Schatten“, in der die Jahre von 1949-1962beschrieben sind, konfrontiert sie den Leser, fast rücksichtslos, mit den Schattenseiten ihrer Persönlichkeit. Das Unglücksverhältnis zu ihrer Mutter wiederholte sich auf ähnliche Weise zu ihrem Sohn Peter. Ohne Verharmlosung, ohne einen Anflug von Sentimentalität bekennt sie sich zu Phasen schwerer Selbstzerstörung, die mit „süchtigem Trinken“ einherging. Schlaglichtartig tut sich ein grauenhafter Alltag auf: das Kriechen auf allen Vieren am Morgen, die Lähmung bis zum Mittag, die Einsamkeit, die Orientierungslosigkeit.

Aus dem Grauen löste sich Doris Lessing immer wieder, bis ins hohe Alter, indem sie schrieb, was sie interessierte, und sie interessierte sich für alles. Ihrem Bekenntnis zum Trotz, dass es unmöglich sei, „das Leben eines Schriftstellers zu beschreiben“, weil das Reale an ihm sich nicht niederschreiben ließe, beschreibt sie in „Schritte im Schatten“ nichts so ausführlich, wie eben diesen Prozess. „Der fieberhafte Drang, dieses oder jenes zu erledigen … mußte gedämpft werden, bis der stumpfe, gefühllose Zustand erreicht war, den man zum Schreiben braucht. Manchmal erreichte ich ihn, indem ich ein paar Minuten schlief …, um dann gelöst, ruhig, dunkel, arbeitsbereit wieder hervorzukommen“.

„Jetzt beginnt die Arbeit. Ich setze mich nicht hin, sondern wandere durchs Zimmer. Ich denke im Gehen, denke, während ich eine Tasse abspüle, eine Schublade aufräume, eine Tasse Tee trinke, aber in Gedanken bin ich nicht bei diesen Aktivitäten. Irgendwann sitze ich auf dem Stuhl vor der Maschine. Ich schreibe einen Satz… Ich wandere, ich schreibe“. Doris Lessing bezeichnete den Impuls zum Schreiben als „Die schöpferische Dunkelheit. Nicht vermittelbar.“ Damit ist nicht die Nachtarbeit gemeint, die viele Künstler bevorzugen. Als Alleinerziehende war sie gezwungen, sich an den Tagesrhythmus ihres Sohnes anzupassen. Vielmehr ist die „Dunkelheit“ eine geheimnisvolle Kraft aus dem Unbewussten, eine ‚schwarze Muse‘, die Lessing nicht näher benennen will, der sie aber vertraute, ohne sie genau zu kennen. Die ‚schwarzen Muse‘ offenbarte sich ihr im Schlaf: „Schlaf ist immer mein Freund gewesen, mein Erneuerer“. Wie viele Autoren hat sie angenommen, dass Schlaf und Dichten als produktive Tätigkeiten verwandt sind. Auch Rilke empfand, dass die eine aus der anderen ihre Kraft zieht: „Dieser große Gott: der Schlaf; ich opfere ihm ohne jeden Zeit-Geiz – was kümmert ihn Zeit! – zehn Stunden, elf, ja zwölf, wenn er sie annehmen mag in seiner erhabenen mild-schweigenden Art!“

Doris Lessing hat wahrlich ihr Leben nicht verschlafen. Immer hellwach, offen für die wichtigen Themen dieser Welt, war sie eine Arbeitswütige, die ein fast unüberschaubar großes Werk hinterlassen hat. Von robuster Natur, wurde sie mit allen Widrigkeiten des Lebens fertig. Von einer ästhetisierenden Sprache hielt sie wenig. Wie die Menschen um sie herum redeten, so schrieb sie; manche ihrer Bücher gerieten ihr dadurch zu simpel. Dafür aber entschädigt sie mit einer Themenvielfalt, die bei anderen Autorinnen selten zu finden ist. Mit dem fünfbändigen Zyklus „Canopus im Argos“ integrierte sie sogar noch in ihr Alterswerk den Science-Fiction-Roman, den sie als ihr eigentliches Hauptwerk betrachtete. 2007 wurde „der Epikerin weiblicher Erfahrung, die sich mit Skepsis, Leidenschaft und visionärer Kraft eine zersplitterte Zivilisation zur Prüfung vorgenommen“ hat, der Nobelpreis für Literatur verliehen. Ihre Reaktion auf diese Auszeichnung war typisch: sarkastisch.