Die RAF als Text

Jan Henschen betrachtet die RAF in einer medialen Historiografie

Von Jörg AubergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Auberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Jahre 1959 schloss Theodor W. Adorno seinen Vortrag „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit“ mit der Feststellung: „Aufgearbeitet wäre die Vergangenheit erst dann, wenn die Ursachen des Vergangenen beseitigt wären.“ Adornos Ausführungen bezogen sich auf das Fortwirken des Nationalsozialismus in der bundesrepublikanischen Gesellschaft. Noch als er seinen Vortrag drei Jahre später vor dem Sozialistischen Studentenbund (SDS) in Berlin wiederholte, warnte er davor, dass „objektive Verhältnisse und Tendenzen den Rückfall ins Unheil“ produzierten. Aus diesen „Anregungen für die Praxis“ (wie Adorno damals zur Einleitung seines Vortrags noch meinte) entwickelte sich jedoch keine kritische „Einsicht zum Handeln“. Stattdessen setzte sich das Unheil fort. Autoritäre, antidemokratische und antisemitische Tendenzen setzten sich auch in der „68er Bewegung“ und ihren terroristischen Zerfallsprodukten wie „RAF“ und „Bewegung 2. Juni“ fest, sodass der Bann des Vergangenen nicht gebrochen wurde. Auch fünfzehn Jahre nach dem Ende des „Projekts RAF“ greifen die „Strukturmomente“ aus den „Jahren des Grauens“ (wie es in der Adorno-Terminologie heißt) in die Gegenwart über.

Einen innovativen Ansatz zur Erforschung des Vergangenen bietet Jan Henschen in seinem Buch „Die RAF-Erzählung“, in dem er verschiedene Narrationen zur RAF-Thematik aus vier Jahrzehnten untersucht. Bei der „RAF-Erzählung“ handelt es sich nicht um eine „RAF-Geschichte“, sondern um eine „mediale Historiographie“, die Henschen als ein „Wechselspiel von Mediengeschichte und Geschichtsmedien“ deklariert, wobei er den Konstruktionscharakter des Unternehmens dezidiert hervorhebt. „Letztlich kann es allein meine konstruierende Tätigkeit als Historiografen wie auch als schreibender Forscher sein“, schreibt er in seiner Einleitung, „die eine Spur erst zu einer solche werden lässt und sich in einer Narration entfalten kann.“ Spuren der RAF (wobei dies eher eine Chiffre für den bundesrepublikanischen Linksterrorismus in der Nachfolge der außerparlamentarischen Opposition in den späten 1960er-Jahren ist, denn eine exakte Organisationsbezeichnung) findet er in Carlos Marighellas „Minihandbuch des Stadtguerilleros“, in den guerillaorientierten Medientheorien, wie sie zu Beginn der 1970er Jahren im „Kursbuch“ diskutiert wurden, in Romanen wie Bernward Vespers „Die Reise“ oder Rainald Goetz’ „Kontrolliert“. Indem Henschen eher obskure Texte wie Eckhard Siepmanns Aufsatz über Elektronik und Klassenkampf („Rotfront Faraday“) oder historische Artefakte wie Andreas Baaders Schreibmaschine, mit der die RAF-Erklärungen produziert wurden, als „Teil eines Ensembles der Terrorismusmaschinerie“ in die Diskussion einbezieht, gibt er Blicke auf vernachlässigte Zusammenhänge frei. Dagegen wirkt das letzte Kapitel, in dem Henschen historische Markierungspunkte für die „RAF-Erzählung“ – vom 2. Juni 1967 über den „Deutschen Herbst“ bis zum Nachleben der RAF in der Popliteratur – setzen möchte, stark überkonstruiert.

Ohnehin leidet das Buch unter politischen und historischen Unschärfen. Unter dem Komplex „RAF-Erzählung“ subsumiert Henschen nahezu alle Erscheinungsformen des bundesrepublikanischen Linksterrorismus nach 1968, ebnet historische Unterschiede rigoros ein (Nihilismus und Anarchismus scheinen für ihn identisch zu sein) und bedient sich häufig der ideologisch präformierten Geschichtskonstrukte der üblichen Verdächtigen wie Stefan Aust, Gerd Koenen und Wolfgang Kraushaar, ohne diese Geschichte aus zweiter Hand kritisch zu hinterfragen. Gleichfalls rekurriert er auf Holger Meins’ Agitprop-Film zur Herstellung eines Molotow-Films aus dem Jahre 1968, doch ist das Filmoriginal verschollen: Es existiert nur eine aus dem Jahre 2001 stammende Rekonstruktion. Allzu leichtfertig übernimmt Henschen Urteile wie Koenens Begriff der „Urszenen“ des Terrorismus oder deklariert Austs „Baader-Meinhof-Komplex“ zur „Großerzählung von der Roten Armee Fraktion“, während er Texte in ihrem originalen Kontext ignoriert. So scheint er Ulrike Meinhofs „Brief einer Gefangenen aus dem Toten Trakt“ nur aus der Aust-Version zu kennen, die den Zeilen Berühmtheit verschafft hätten, während er den originalen Kontext der „Kampagne gegen die Vernichtungshaft“ unterschlägt, den noch Peter Brückner in seinem Buch „Ulrike Marie Meinhof und die deutschen Verhältnisse“ (1976) dokumentierte.

Möglicherweise hätte Henschen seiner Analyse der „RAF-Erzählung“ eine größere Tiefendimension verschaffen können, hätte er die Texte aus dem „RAF-Info“ berücksichtigt, denn entgegen der gängigen Geschichtsversion agierten nicht allein Andreas Baader, Gudrun Ensslin oder Ulrike Meinhof als Autoren. Ebenso hätte zur Ausleuchtung des sozialen Kontextes der Entstehung terroristischer Formationen in der Bundesrepublik der 1960er- und 1970er-Jahre geholfen, die Memoiren von Zeitgenossen wie Inge Viett oder Karl-Heinz Dellwo in die narrative Erforschung einzubeziehen. Aber auch wenn Henschen einige Möglichkeiten der kritischen Reflexion verschenkte, bietet sein Buch dennoch Ansätze für eine kritische Aufarbeitung jenseits des ideologisch gängigen akademisch oder journalistisch verbrämten Genres der Konvertiten- und Renegatenliteratur.

Titelbild

Jan Henschen: Die RAF-Erzählung. Eine mediale Historiographie des Terrorismus.
Transcript Verlag, Bielefeld 2013.
273 Seiten, 33,90 EUR.
ISBN-13: 9783837623901

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