Per Anhalter durch Shakespeares Welt

Isaac Asimovs „Guide to Shakespeare“ in deutscher Teil-Übersetzung

Von Jürgen MeyerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Meyer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was passiert, wenn man einen über vierzig Jahre alten Wegweiser („Guide“) nimmt und daraus eine Art Startrek-Mission macht? Man stelle sich vor: Captain Isaac Asimov betrat einst den fernen Planeten ‚Shakespeare‘ und schrieb eifrig alles, was ihm dort auf- und einfiel, in sein Logbuch (Star-Date 1970). Es entstand dabei ein umfangreicher Katalog von Beobachtungen zur mythologischen Fauna und historischen Flora, die diese exotische Welt selbst so rätselhaft macht, dass sich fast jede Expedition dorthin lohnt – in der Tat sind Unmengen von Expeditionen seit der Asimov-Enterprise dort gelandet und haben Kenntnisse über den Planeten zutage gefördert, die weiland dem Captain naturgemäß nicht zur Verfügung standen. Nun aber hat eine im Hintergrund wirkende intergalaktische ‚Koalition‘ entschieden, auch die spätgeborenen Lesewesen als die ‚Next Generation‘ an Asimovs Entdeckerdrang (oder -zwang) teilhaben zu lassen. Gleichwohl weist man in einer Notiz zu Beginn des Bandes darauf hin, dass Asimovs Einträge von mehr als 1.500 Druckseiten der englischen Ausgabe auf 600 Seiten gekürzt wurden, und dass folglich im bibliothekarischen ‚Deep Space‘ die restlichen Seiten ihrer Übersetzung harren. (Die Koalition besteht übrigens – darauf wird am Ende zurück zu kommen sein – aus dem Alexander Verlag Berlin und dem Studiengang Literarisches Übersetzen an der Münchener Ludwig-Maximilians-Universität, und konsultiert bei Bedarf Frank Günthers Shakespeare-Übersetzung zusammen mit den im englischen Original zitierten Textpassagen.)

Doch zunächst zu Asimov und seiner Begegnung mit Shakespeares Welt: Dass es sich seinerzeit bei der Mission um einen rücksichtslosen Kolonisations- und also Unterwerfungsakt handelte, geht schon daraus hervor, dass der Captain die indigenen Territorien des Planeten ‚Shakespeare‘, Komödien, Tragödien, Historien und Romanzen kurzerhand mit neuen Bezeichnungen versah und zugleich deren Zusammensetzung änderte.

Statt der (nach wie vor üblichen) generischen Zuordnung der Stücke finden sich chronotopische Verortungen, die sich an der irdischen, d.h. eurozentrischen Zivilisationsgeschichte ausrichten: So schrieb Asimov dem Planeten ‚Shakespeare’ ein „griechisches“, ein „römisches“, ein „italienisches“ und ein „englisches“ Zeitalter zu. Die Materialauswahl der Übersetzung spiegelt bis auf das „römische“ Zeitalter alle anderen wieder, dabei wird jede einzelne Spiel-Besprechung Asimovs von einem eigenen Übersetzer oder Übersetzungsteam bearbeitet. Das erste Kapitel über den Sommernachtstraum repräsentiert den griechischen Äon, die vier letzten stellen Beobachtungen zu König Lear, Hamlet, Macbeth und König Richard III an und gehören im weiteren Sinne zum „englischen“ Zeitalter.

Dazwischen finden sich sieben Kapitel, die die Aufzeichnungen über die „italienischen“ topoi und loci enthalten: hier werden wir von Romeo und Julia über den Kaufmann von Venedig, Viel Lärm um nichts, Wie es euch gefällt und Was ihr wollt in die mediterranen Szenarien von Othello und Der Sturm geführt. Spätere Expeditionen verzichteten auf derartige gewaltsame Neukartierungen und erhielten die Gültigkeit der althergebrachten Genre-Bezeichnungen, so problematisch diese ihrerseits im Einzelfall (wie im Falle der „Komödie“ Der Kaufmann von Venedig) auch sein mögen. Asimov ist aus heutiger Sicht vorzuhalten, dass sein Vorgehen in mehrfacher Hinsicht unsensibel war: suggeriert seine pseudo-historiographische Ordnung von Shakespeares Werk doch für den Einzelnen einen kleinen Schritt, für das allgemeine Verständnis jedoch einen bedeutsamen Sprung aus der Fiktion und Imagination heraus in die Konstruktion einer westeuropäischen Chronologie, die als solche in dieser Vorstellungswelt gar nicht als realgeschichtliches, mimetisches Abbild angelegt ist.

Gerade dieses Defizit an kategorialer Trennung zwischen Dichtung und Wirklichkeit ist die unangenehme Überraschung, die sich aus der Lektüre dieses Logbuchs ergibt. So berechnet Asimov uns die Geschwindigkeit, mit der Puck durch die Welt des Sommernachtstraums eilt: „Um die Erde in den vierzig Minuten des englischen Originals zu umrunden, müßte [sic] man sich mit über sechzigtausend Stundenkilometern – oder sechzehn Kilometern pro Sekunde – fortbewegen. Das wäre weit schneller als die Mindestgeschwindigkeit zum Austritt aus der Erdatmosphäre, und Puck hätte bei diesem Tempo wohl Schwierigkeiten, noch in der Nähe der Erdoberfläche zu bleiben.“

Das ist alles schön, weil ganz absurd, denn Asimov selbst stellt im anschließenden Satz fest, dass die kosmologischen Gesetze für einen Geist wie „Puck sowieso nicht gelten“. Warum dann aber dieser Rechenansatz, der mathematisch so schlüssig wie eingestandenermaßen irrelevant fürs Verständnis von Shakespeares Sommernachtswelt ist? Hier oktroyiert Captain Asimov sein eigenes post-Newtonsch’es Weltbild auf jenen magischen Kosmos, der offenkundig doch nach ganz anderen (oder eben auch nach gar keinen physikalisch gültigen) Gesetzen funktioniert. Wer will, mag für sich (mit gleichem Erkenntniswert) das Gedankenexperiment durchführen, wie Puck sich in der sphärisch gekrümmten Raumzeit fortbewegen könnte und ob er dann auch dann aus der Bahn geworfen würde?

Ähnlich windschief zum Originaltext stehen Asimovs durchweg indexikalische Auslegungsversuche von Shakespeares Sprachbildern. Eines davon verwendet Puck nach Aufdeckung seines verheerenden Missgeschicks, um den erzürnten Oberon wieder zu besänftigen: „Swifter than an arrow from the Tartar’s bow“ / „Noch schneller als ein Hunnenpfeil“ will er sein und die verlorene Ordnung unter den vier liebestollen menschlichen Adligen wieder herstellen. Auch hier steht Pucks rasende Geschwindigkeit im Zentrum des erfolgreich übertragenen Bildes vom „Hunnenpfeil“ – und anlässlich dieses Bildes bekommt man einen umfangreichen Aufriss der ‚Hunnenkriege‘ geliefert, in dem mal eben alle nomadischen, asiatischen und europäischen Reitervölker in der Zeit zwischen Völkerwanderung und Hochmittelalter Erwähnung finden: „Nacheinander verbreiteten Kimmerer, Skythen, Sarmaten, Hunnen, Awaren und Magyaren Angst und Schrecken auf europäischem Boden. […] Die letzten und grausamsten nomadischen Invasoren waren die Tartaren bzw. Mongolen, die in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts China und Russland eroberten. […] Die Europäer erinnerten sich jedoch noch lange an die schreckliche Zeit zwischen 1240 und 1241. […] Sie erinnerten sich auch noch an die Pfeile der Tartaren, die Shakespeare darum (im englischen Original) als Metapher für Geschwindigkeit verwenden konnte […].“

Die Möglichkeit einer traumatischen kollektiven Erinnerung „der Europäer“ an „die Tartaren“, die sich doch viel plastischer auf der zeitgenössischen englischen Bühne in Christopher Marlowes Doppeldrama über den eponymischen Herrscher der Völkerwanderungszeit, Tamburlaine, spiegelte, wird hier sehr unökonomisch mit maximalem Aufwand für minimale Sinnstiftung eingesetzt, und zudem das Sprachbild für Tempo in einen unangemessenen Bezugsrahmen gebettet.

Ein letztes Beispiel für Asimovs hypertrophe, meist bemüht wirkende Semantisierung von textlichen Einzelphänomenen sei mit der Deutung des Namens „Mercutio“ aus Romeo und Julia geliefert: „Mercutio erinnert an den mit Flügeln versehenen [das heißt „geflügelten“, da in Asimovs Original schlicht „wingèd“, JM] Götterboten Merkur, der mit übermenschlicher Geschwindigkeit durch die Lüfte eilt.“

Nein, tut er nicht! möchte man Asimov zurufen, denn diese Dramenfigur ist kein metaphysischer Geisterfahrer wie Kobold Puck. Dies wird spätestens im Augenblick des profanen Todes Mercutios nach seiner eher zufälligen Verletzung im Streit zwischen Romeo und Tybalt deutlich, die sich wie folgt liest: „Mercutio macht letzte, bittere Scherze, bevor er sich davonschleppt, um zu sterben“ – ganz so, als wäre er von einem fehlgelenkten Phaser-Strahl des Captain Asimov selbst eliminiert. Eine weitere Charakterisierung Mercutios betont dessen „glänzenden Verstand, der ihn nie im Stich lässt“. Wie aber geht dies mit dem unmittelbar anschließenden, unmissverständlichen Kopfschütteln Asimovs einher, dass „[a]uch er die Fehde [zwischen den Konfliktparteien des Stücks] nicht als todbringende Angelegenheit“ betrachtet? „Er macht keine Anstalten, die Montagus von der Teilnahme am Fest [der Capulets] abzubringen, was er bei tatsächlicher Gefahr sicher getan hätte.“ Abgesehen von der Müßigkeit, darüber zu spekulieren, welchen Verlauf das Stück hätte nehmen können, wenn bestimmte Parameter anders gesetzt gewesen wären, stellt sich hier folgende Aporie: Der Lobpreis von Mercutios angeblich unfehlbarem Verstand steht der Feststellung seiner mangelnden Beurteilung der gefährlichen Konstellation so unvermittelt wie unversöhnlich gegenüber.

Der Grund für diesen logischen Bruch wird den (deutschen) Leserinnen und Lesern vorenthalten – und im Englischen taucht die Frage gar nicht erst auf. Denn für diese scheinbar ungeordnete Gemengelage in der figürlichen Konzeption Mercutios ist maßgeblich die Übersetzung verantwortlich: „Mercutio is mercurial, with a flashing wit that never leaves him,“ schrieb Asimov seinerzeit in sein Logbuch, die Unbeständigkeit in Mercutios Wesen betonend durch Wörter wie „mercurial“ und „flashing wit“. „Mercurial“ nun ist mit der Bedeutung „launenhaft“ alles andere als jenes heitere „quicklebendig“, das uns die Übersetzung anbietet – das englische Wort zementiert natürlich bewusst das zuvor von Asimov angesetzte Amalgam aus Shakespeares Mercutio und dem mythischen Gott Merkur.

Vor allem aber baut es noch die näherliegende bildliche Analogie zum chemischen Element Quecksilber (Hg) auf, das in der englischen Alchimie nicht nur die Bezeichnung „quicksilver“, sondern auch „Mercury“ führte, und das sich bekanntermaßen bei Luftdruckänderung träge ausdehnt oder zusammenzieht. All dieser semantische Beziehungsreichtum ist in Asimovs Kommentar zur atmosphärisch zunächst drückend aufgeladenen und dann explosiv sich entladenden nachmittäglichen Situation in Shakespeares Verona angelegt und geht durch die Übersetzung spurlos verloren. Auch „flashing wit“ ist mit „glänzende[r] Verstand“ nur unzureichend wiedergegeben, insofern hier doch von einem allenfalls gelegentlichen „Aufblitzen“ des „Witzes“, aber eben nicht etwa von „bright reason“ die Rede ist. An dieser für Asimovs Deutung wichtigen Stelle wäre eine genauere historische Recherche zum kognitiven Konzept von „wit“ ratsam gewesen, doch auf diesen semantischen Mehraufwand kam es den beiden Übersetzerinnen offensichtlich nicht an. Vor dem Hintergrund seiner von Asimov symbolisch im Namen nachgewiesenen Unbeständigkeit aber wird erst verständlich, wie fehlbar Mercutio in seiner oben genannten Nachlässigkeit und Vergesslichkeit bezüglich des Stellenwerts der Familienfehde tatsächlich ist. So und ähnlich verlieren leider allzu viele von Asimovs Deutungsangeboten zum Verständnis der Figuren aus Shakespeares Welt aufgrund übersetzerischer Fehlleistungen ihren eigentlichen Sinn.

Spätestens am Ende der Lektüre fragt man sich nun nach dem eigentlichen Auftrag dieser Mission. Die englische Ausgabe will laut ihrem Untertitel zum Verständnis und Genuss Shakespeares beitragen: „A Guide to Understanding and Enjoying the Works of Shakespeare“. Die deutsche Ausgabe ist da an gleicher Stelle weniger nachsichtig: „Was man wissen muß, um Shakespeare zu verstehen.“ (Hervorhebung JM) Frontalpädagogische Didaxe also statt Anleitung zur erbaulichen Unterhaltung? Das allein wird wohl kein hinreichender Motivationsgrund für dieses Buch sein, schon wegen der Sorglosigkeiten in Übersetzung und Sprachlogik. Es mag sich bei diesem kooperativen Übersetzungs-Projekt eher um das politische Bemühen handeln, die institutionelle Legitimation unter öffentlichkeitswirksamem Nachweis von akademischer Produktivität zu erhalten. Dieses Ziel mag zumindest formal erreicht sein, denn an der durchaus bibliophilen Ausstattung des Bandes ist nicht zu zweifeln. Ob das ausreicht, sei dahingestellt.

Auf inhaltlicher Ebene jedoch erscheint das Ziel um einige Parsec (eine kosmologische Entfernungsmaßeinheit) verfehlt. Der Kurzschluss von Asimov mit Shakespeare funktioniert nicht mehr jenseits eines historischen Interesses, bei dem Asimovs einem Zeilenkommentar ähnliches Lektüreverfahren nur mehr als antiquiert zu bezeichnen ist. Spätestens hier wird deutlich, dass diese als Startrek-Mission gestartete Operation eigentlich doch gar keine solche geordnete Kampagne ist. Stattdessen führen uns Captain Asimov und die intergalaktische Koalition ziellos von einem historischen, mythologischen, kosmologischen oder textuellen „Factoid“ zum nächsten. Wir Leser reisen somit als Anhalter durch einen Zettel-Galaxienhaufen, den Asimov für Shakespeares Welt hält. Das hat, bombastisch mit Shakespeares Polonius zu sprechen, etwas von einem „tragical-comical-historical-pastoral“ Scheitern.

Nun, wer mag, der begebe sich zum Trost doch lieber auf Reisen durch Cpt. Asimovs eigene gedankliche Galaxien: Den Science Fiction-Autor Asimov mit dem Physiker, Kosmologen und populärwissenschaftlichen Publizisten Asimov zu verwechseln, das geht natürlich und kann Spaß machen. Sich hingegen Shakespeares Welt mit Asimovs Instrumenten zu erschließen, das geht nicht – denn was ‚man‘ heute (Star-Date 2014) wissen sollte, um Shakespeare zu verstehen, findet sich jedenfalls nicht in seinen Notizen. Es gibt viele bessere Zugänge, zum Beispiel das seit den frühen 1970er-Jahren immer wieder aktualisierte Shakespeare-Handbuch – ebenfalls ein Werk aus renommierter Münchener Produktion. Wer wirklich gut mit Shakespeare unterhalten sein will, ohne Shakespeare selbst lesen zu wollen (aber wer will das schon?), der schiffe sich alternativ einfach in Rolf Vollmanns Shakespeares Arche ein und reise dort mit. Und das Beste folgt zuletzt: Beide Werke brauchen gar nicht erst ins Deutsche übersetzt zu werden.

Titelbild

Isaac Asimov: Shakespeares Welt. Was man wissen muß, um Shakespeare zu verstehen.
Mit einem Vorwort von Tobias Döring.
Alexander Verlag, Berlin 2014.
600 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-13: 9783895813306

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