Zahlenspiele

Aus gegebenem Anlass: Ein abermaliges Plädoyer für die Bedeutung der Statistik bei der Erforschung von Literaturkritik

Von Michael PilzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Pilz

Die aktuelle Debatte über den vorgeblichen Niedergang der Literaturkritik hat einen statistischen Kern. Thierry Chervel von „perlentaucher.de“ liefert die Zahlen: Sein allerorten aufgegriffener Befund, den er in einem Interview mit Deutschlandradio Kultur vom 9. Dezember 2014 mitteilte, lautet, dass sich die Anzahl der Kritiken im deutschen Feuilleton im Verlauf des zurückliegenden Jahrzehnts schlichtweg halbiert habe: Von 4.330 bei „perlentaucher.de“ registrierten Besprechungen im Jahr 2001 sei sie auf ganze 2.200 im Jahr 2013 zurückgegangen.

Es besteht nicht der geringste Anlass, an diesen Zahlen zu zweifeln, zumal sie für jeden nachprüfbar sind, der sich der wunderbaren Suchfunktion des „perlentauchers“ im Netz bedient: Mit wenigen Klicks wird er Chervels Aussagen bestätigt finden. Gleichwohl sei hier ein zweiter Blick auf die gelieferten Zahlen erlaubt – sowie ein Vergleich mit alternativen Erhebungen aus einer anderen Datenquelle, die es gestatten, den entstandenen Eindruck etwas differenzierter zu fassen. Am Ende lässt sich ihm vielleicht sogar mit einer erstaunlich optimistischen These begegnen, die sich ihrerseits auf harte Zahlen stützen kann. Statistik – das ist eine alte Geschichte – ist ein verzwicktes Geschäft mit zwangsläufig plakativen Ergebnissen.

Klopfen wir jedoch zunächst einmal den Befund etwas genauer ab, der als Ausgangs- und Ankerpunkt der ganzen Debatte dient. Dazu bleibt zweierlei festzuhalten:

Chervel spricht in seinem Radio-Interview vom Dezember einerseits von einem Rückgang der Buch-Kritiken, aus dem andererseits ein pauschaler Niedergang der Literatur-Kritik gefolgert wird. Im Reigen der Binsenweisheiten, die in den letzten Wochen perpetuiert worden sind, hat die Tatsache, dass Buch und Literatur nicht zwangsläufig identisch sein müssen, bezeichnenderweise überhaupt keinen rechten Platz gefunden. Nun soll hier natürlich keinesfalls auf beckmesserische Art und Weise einem möglichst engen Literaturbegriff das Wort geredet werden, zumal es zur selbstverständlichen Alltagspraxis in den Zeitungsredaktionen gehört, sowohl Belletristik als auch Sachbücher zu besprechen. Es bleibt lediglich zu konstatieren, dass sich die vom „perlentaucher“ bereitgestellten Zahlen unterschiedslos auf beides beziehen: auf Sachbuchrezensionen aller möglichen Gegenstandsbereiche ebenso wie auf Besprechungen von Belletristik (als Literatur im engeren Sinne).

Chervel macht außerdem deutlich, dass sich die von ihm gelieferten Zahlen auf jene Kritiken beziehen, die vom „perlentaucher“ berücksichtigt, also annotiert worden sind. Nur Feuilletoninhalte, die sich für eine Zusammenfassung nach Art des „perlentauchers“ eignen, sind in die Statistik eingegangen. In Hinblick auf die tägliche Bücherschau tritt der „perlentaucher“ zwar mit einigem Vollständigkeitsanspruch auf; indes werden dort tatsächlich nur jene Besprechungen registriert, die ihrem Umfang nach den Charakter ‚klassischer‘ Rezensionen von hinlänglicher Ausführlichkeit tragen. Wie sich anhand von Stichproben belegen lässt, fällt der Inhalt von Besprechungsformaten wie „Kritik in Kürze“ oder „Kurz und bündig“ (und wie die entsprechenden Rubriken von Zeitung zu Zeitung im Einzelnen auch heißen mögen) beim „perlentaucher“ zwangsläufig durchs Raster, da diese Texte ihrer eigenen summarischen Gedrängtheit wegen keinen rechten Stoff für Zusammenfassungen bieten. Man muss solche Produkte der Verschlankung und Verknappung von Literaturkritik ihrer ganzen Tendenz nach nicht mögen – nur bleibt auch hier zunächst einmal festzuhalten: Auch Kurzkritiken und Sammelbesprechungen sind Kritiken, die als solche in eine statistische Erhebung über die Entwicklung der Literaturkritik Eingang finden sollten.

Nun ist der „perlentaucher“ freilich nicht die einzige Quelle, die im Netz für die Beantwortung von Fragen nach der Entwicklung der Literaturkritik im deutschen Sprachraum zur Verfügung steht. Mit dem Innsbrucker Zeitungsarchiv zur deutsch- und fremdsprachigen Literatur (IZA) am Institut für Germanistik der Universität Innsbruck besteht die größte universitäre Dokumentationsstelle für journalistische Literaturkritik und Literaturvermittlung in den Medien im deutschsprachigen Raum, die ihre klassische Zeitungsausschnittsammlung schon zum 1. Oktober 2000 auf digitalen Betrieb umgestellt hat und seither eine umfangreiche bibliographische Datenbank zum Nachweis von literaturwissenschaftlich relevanten Presseartikeln füllt (vgl. http://www.uibk.ac.at/iza/).

Den Anspruch, in Konkurrenz zum „perlentaucher“ zu treten, hat das IZA damit freilich nicht: Statt tagesaktueller Information über das deutschsprachige Feuilleton im Digestformat steht hier die Langzeitarchivierung der Texte im originalen Wortlaut und ihr bibliographisch genauer Nachweis zur Versorgung der Wissenschaft mit Quellenmaterial im Fokus. Insofern ist das in der IZA-Datenbank zugängliche Datenmaterial zwangsläufig nicht deckungsgleich mit dem bei „perlentaucher.de“. Es eignet sich für einen vergleichenden Blick aber vor allem insofern, als die Suche im Zeitungsarchiv eine Einschränkung auf die Besprechungen von Belletristik bei gleichzeitigem Verzicht auf eine umfangsmäßige Vorselektion der Kritiken erlaubt.

Während für die Beobachtungspraxis des „perlentauchers“ das Feuilleton als medialer Ort der Buchkritik den Ausgangspunkt bildet, ist es für das IZA der literarische Diskurs im engeren Sinne, wie er in den Zeitungen abgebildet und buchstäblich „mitgeschnitten“ wird. Besprechungen von Sachbüchern werden dementsprechend in Innsbruck nur dann erfasst, wenn ihre Gegenstände einen inhaltlichen Bezug zur Literatur und/oder zur Literaturwissenschaft aufweisen – Besprechungen von kulinarischen Wanderführern oder von Veröffentlichungen zur Geschichte der Biochemie bleiben also außen vor, während sie im „perlentaucher“ keinem inhaltlichen Ausschlusskriterium unterliegen und somit die dortige Statistik zur Buchkritik mit füttern. In Sachen Belletristik dagegen erhebt das IZA einen Vollständigkeitsanspruch, der auch kleinere Besprechungsformate selbstverständlich integriert. Die jedem frei im Netz zugänglich Datenbanksuche lässt sich dementsprechend auch auf Kritiken von Belletristik (oder von Sachbüchern, von Hörbüchern u.v.a.m.) eingrenzen und bei Bedarf nach einzelnen Zeitungen und Zeitabschnitten differenzieren (vgl. http://www.uibk.ac.at/iza/lis-www/laus/expert_search.html).

Tut man dies, lassen sich statistische Daten auszählen, die interessante Vergleiche zu Chervels Zahlen erlauben. Etwa wenn man die erhobene Gesamtzahl von Buchbesprechungen im „perlentaucher“ mit der Zahl der Besprechungen schöner Literatur ins Verhältnis setzt, wie sie im IZA registriert sind. Da beide Datenbanken relativ zeitnah zueinander online gegangen sind und die im „perlentaucher“ ausgewerteten Zeitungen auch in Innsbruck gelesen werden, lassen sich zudem vergleichende Aussagen über die Entwicklung der Belletristik-Besprechungen zwischen 2001 und 2013 treffen. Dabei wird man zu Ergebnissen kommen, die auf den ersten Blick weit weniger düster erscheinen, als es Chervels Befund von der faktischen Halbierung aller Rezensionen in der deutschsprachigen Presse nahelegt.

Nimmt man sich etwa exemplarisch die Daten für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ vor, so verzeichnet das IZA für das Jahr 2001 genau 606 Einträge mit dem Texttyp „Besprechung Belletristik“, denen für das Jahr 2013 die Zahl von 632 Belletristik-Besprechungen gegenübersteht. Im selben Zeitraum lässt sich für die FAZ aus der „perlentaucher“-Datenbank ohne inhaltliche Differenzierung die Gesamtzahl von 2047 Rezensionen im Jahr 2001 zu 1181 Rezensionen im Jahr 2013 ermitteln. Während im letzteren Fall die Halbierungsthese also gestützt wird, lässt sie sich auf die Besprechung von belletristischen Titeln, wie sie das IZA dokumentiert, keineswegs übertragen.

Dies trifft nicht nur für die „FAZ“ zu. Auch für die „Süddeutsche Zeitung“, „Die Welt“ oder die „Neue Zürcher Zeitung“ – die hier exemplarisch ausgezählt wurden – lassen sich auf der Basis der IZA-Datenbank keine Halbierungen nachweisen. Das Verhältnis stellt sich für den von Chervel vorgegebenen Zeitrahmen vielmehr wie folgt dar:

SZ:      492 Belletristik-Besprechungen (2001) zu 538 Belletristik-Besprechungen (2013)

Welt:   351 Belletristik-Besprechungen (2001) zu 334 Belletristik-Besprechungen (2013)

NZZ:  642 Belletristik-Besprechungen (2001) zu 470 Belletristik-Besprechungen (2013)

Was sich anhand dieser Zahlen mit Chervels Aussagen deckt, ist lediglich die grundsätzliche Feststellung, dass die „FAZ“ eine Sonderrolle innerhalb des deutschen Rezensionsfeuilletons spielt, da sie zumindest quantitativ über weite Strecken die Nase vorn behält, sowohl bei der Gesamtzahl an Rezensionen als auch bei der Zahl der Belletristik-Besprechungen. Ansonsten aber bleiben die Zahlen im Belletristik-Bereich auch bei der „Welt“ relativ konstant, während bei der „NZZ“ zwar ein leichter Rückgang, bei der „Süddeutschen“ dafür aber sogar ein minimaler Anstieg zu verzeichnen ist. Aber auch für die dazwischenliegenden Jahre, die hier nicht separat aufgeführt wurden, lassen sich für jede der genannten Zeitungen allenfalls gewisse Schwankungen nach oben oder unten ausmachen, deren Verzeichnung kaum dazu geeignet ist, als Munition für einen qua Statistik geführten Krisendiskurs zu dienen.

Ist man bereit, diese Zahlen ebenso ernst zu nehmen wie diejenigen Chervels – was lässt sich dann aus ihnen folgern? Etwa gar, dass die faktische Halbierung der Rezensionsanzahl im Tagesfeuilleton der letzten zehn bis fünfzehn Jahre, wie sie sich anhand des „perlentauchers“ belegen lässt, mit einer gleichzeitigen Konzentration der deutschen RezensentInnen auf ihr Kerngeschäft, nämlich die Sichtung des belletristischen Buchmarktes, einhergegangen ist? Dass seit geraumer Zeit also wieder konzentrierter Literatur-Kritik im engeren Sinne auf Kosten der Besprechung von Sachbüchern betrieben wird? Eine überraschende These, zugegeben – zumal sie zur allgemeinen Klage über den Niedergang der Literaturkritik ziemlich konträr steht.

Nun, man wird das – will man nicht allzu plakativ bleiben – sicherlich noch näher untersuchen und differenzieren müssen. Etwa dahingehend, in welcher Form und in welchem Umfang sich die einzelnen Kritiken präsentieren, die im Innsbrucker Zeitungsarchiv als Belletristik-Besprechungen geführt werden, zumal bereits angedeutet wurde, dass hier im Gegensatz zum „perlentaucher“ auch Kurzbesprechungen zu ihrem Recht kommen und nicht alle diese Texte dem Anspruch klassischer Rezensionen genügen dürften. Immerhin kann aber schon einmal festgehalten werden, dass es sich bei ihnen keineswegs um Homestories oder von Emphatikern geführte Autoren-Interviews handelt, deren vorgeblich neue Dominanz als bevorzugte Schreibweisen der Literaturkritik auch jüngst wiederholt beklagt worden ist. Vielmehr haben wir es durchwegs mit Texten welchen Umfangs auch immer zu tun, die nach wie vor das literarische Buch als solches zum Gegenstand haben. Seinen prinzipiellen Ort im Feuilleton hat dieser Gegenstand also offensichtlich nicht verloren – es fragt sich nur, in welcher Ausführlichkeit er dort von Fall zu Fall noch behandelt wird.

Immerhin ließe sich auch diese Frage anhand des IZA-Bestandes beantworten, zumal dort jedem bibliographischen Eintrag auch die Wortanzahl des zugrundeliegenden Artikels beigegeben ist. Es lässt sich also bereits anhand der individuellen Metadaten ermitteln, ob es sich bei einer Besprechung um eine ausführliche Rezension von über 1.500 Wörtern oder lediglich um einen kritisch-annotierenden Hinweis mit nicht mal 200 Wörtern aus der Rubrik „In Kürze“ handelt (deren Titel als solcher im Übrigen zudem immer angegeben wird). Für den vorliegenden Beitrag, der weniger darauf abzielt, endgültige Antworten zu formulieren, als vielmehr neue Fragen aufzuwerfen und Anstöße für eine tiefergehende Beschäftigung zu liefern, konnte eine solche Analyse nicht geleistet werden. Stoff für Forschungsarbeiten aber wäre zur Genüge vorhanden –  zumal für eine Literaturwissenschaft, die sich im Kontext der „Digital Humanities“ zunehmend wieder auf quantitative Methoden einzuschwören beginnt. Damit soll weniger auf die Rückkehr eines gedankenlosen Positivismus spekuliert als vielmehr ein Plädoyer wiederholt werden, das Marc Reichwein schon vor geraumer Zeit in seinem Artikel „Alles was zählt“ auf „literaturkritik.at“ vorgebracht hat: Dass die Feuilletonforschung nämlich quantitative Methoden ebenso braucht wie qualitative, um ihrem Erkenntnisinteresse vollauf gerecht zu werden.

Wobei es auch eine dankbare Aufgabe für Statistiker wäre, einmal die Regelmäßigkeit der Intervalle zu ermitteln, in denen die Debatte über die Zukunft und/oder das bevorstehende Ende der Literaturkritik seit ihrer Erfindung hochzukochen pflegt.