Eine Synthese von Mensch und Marionette, Natur- und Kunstfigur

Zwei Publikationen über Oskar Schlemmer, den Schöpfer des „Triadischen Balletts“

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im vergangenen Jahr wurde in München und Berlin das „Triadische Ballett“ des Bauhausmeisters Oskar Schlemmer – 1922 war es im Landestheater Stuttgart uraufgeführt worden – in einer Neuinszenierung herausgebracht. Ivan Liska und seine Frau Colleen Scott haben es in der choreografischen Neufassung einstudiert, die Gerhard Bohner – er ist 1992  verstorben – im Auftrag der Akademie der Künste Berlin 1977 zu Musik von Hans-Joachim Hespos erarbeitet hat. Im Juli 2015 wird das „Triadische Ballett“ abermals in München aufgeführt, und zwar zusammen mit „Le sacre du printemps“ (Choreografie Mary Wigman) – beide sind exemplarische Produktionen der Avantgarde. Schon 1916 hatte Schlemmer mit der Urfassung des „Triadischen Balletts“ Erstaunen hervorgerufen. Die Tänzer hatten sich in Kunstfiguren zu verwandeln. Ihre Körper wurden  in völlig unnatürliche Formen gezwungen und die Bewegungen marionettenhaft verfremdet. 1922 trat dann Schlemmer in dem um eine Person erweiterten Stück selbst als Tänzer auf. Im „Tanz der Dreiheit“ war er nun eines seiner typisierten Kunstgeschöpfe, eine bewegliche Raumplastik, die „sowohl dem Gesetz des Körpers wie dem Gesetz des Raumes“ folgte.

Bei dieser völlig neuartigen Ballettschöpfung geht es nicht um körperliche Artistik, seelischen Ausdruck oder gar erzählerisches Rollenspiel, sondern um die „reine abstrakte Form“ der sich im Raum bewegenden Figuren, den allgemeinen Ausdruck von Stimmungen, ja von Farben. Der Tänzer ist dabei nur das Tragegerüst einer starren Kostümpuppe, eine „Raumplastik“, die in ihrer teilweise asymmetrischen Unterteilung wie ein Wesen aus einer anderen Welt anmutet. 1926 erhielt das „Triadische Ballett“ durch die Vertonung Paul Hindemiths eine adäquate musikalische Begleitung und gewann damit in Paris einen internationalen Preis.

Dass das „Triadische Ballett“ wieder ins öffentliche Bewusstsein gehoben wurde, war eine günstige Voraussetzung für die Staatsgalerie Stuttgart, in der sich sowohl der Nachlass Schlemmers als auch der größte Museumsbestand seiner Werke befindet, sich dem Thema „Visionen einer neuen Welt“ in einer Oskar-Schlemmer-Ausstellung zu widmen (bis 6. April 2015). Der in Stuttgart gebürtige Künstler, Repräsentant eines figürlichen Konstruktivismus,  hat  als Maler, Zeichner, Plastiker, Bühnen- und Wandgestalter, als Choreograf und Tänzer, als Lehrer und Theoretiker ein Werk in kaum überschaubarer schöpferischer Vielfalt hervorgebracht. Er war ein Visionär, es ging ihm um „den ‚neuen‘, in funktionaler Architektur lebenden, klar denkenden und klar handelnden Mensch einer Moderne, die nie wieder in kriegerischem Chaos (des Ersten Weltkrieges) versinken sollte“, äußert die Kuratorin Ina Konzen. 

Zeitlebens hat Schlemmer das Verhältnis zwischen Mensch und Kosmos, Mensch und Raum, Körpervolumen und Raumvolumen beschäftigt. Er ging dieses Problem von der Bewegung her an, vom Tanz im weitesten Sinne, dessen Bewegungsabläufe wiederum zu selbständigen Figurationen im Raum führen. Die immer größere Abstraktion dient einer immer klareren Formulierung seines Themas, der Mensch, die menschliche Figur – das Maß aller Dinge.

In puristischer Strenge ordnete der Künstler die Menschfigur durch, damit aus ihren Maßbeziehungen sich die Harmonie herstellt, die das Menschenbild als Formideal zu tragen imstande ist. Das Naturbild reduzierte er auf das stereometrische, überindividuelle Typuszeichen „Mensch“, das den figuralen Mittelpunkt der geometrischen Ordnungen bilden konnte.

Zur Ausstellung wurde ein Katalog vorgelegt, der der Schlemmer-Forschung wesentlich neue Impulse verleiht.  Ina Konzen gibt dem Thema „Visionen einer neuen Welt“ die entscheidende Grundlage, indem sie der Mission der neuen Kunst Schlemmers, seinem Gesamtkunstwerk, dem Tänzermensch, dem Mensch als Sportler und kosmisches Wesen, Schlemmers vergeblichem Versuch, Perspektiven zu setzen, seinem Weg „vom Hellen ins Dunkle“ während der Nazi-Diktatur ihre Aufmerksamkeit schenkt. Friederike Zimmermann  beschäftigt sich mit den Wandgestaltungen Schlemmers und geht vor allem auf den Folkwang-Zyklus in Essen, die Gestaltungen im Haus des Arztes Dr. Rabe in Zwenkau bei Leipzig, im Haus des Gartenarchitekten Hermann Mattern in Bornim bei Potsdam und im Haus von Dieter Keller in Stuttgart-Vaihingen ein, während Karin von Maur sich dem Tanzgestalter und Bühnenbildner Schlemmer widmet. Birgit Sonna benennt Facetten der Körperkultur im Werk von Schlemmer und die Briefe Schlemmers – er hat mehr als 1500 Briefe hinterlassen – untersucht Wolf Eiermann als ein Forum für die Auseinandersetzung „mit der Welt“. Schließlich gibt Susanne M. I. Kaufmann eine ausführliche Biografie des Künstlers. Eingesprengt in diese Texte sind Biografie-Kapitel mit den in den jeweiligen Lebensabschnitten entstandenen malerischen und plastischen Werken, Figurinen, Collagen, Zeichnungen, Aquarellen, Studien und Entwürfen, Fotografien der Bauhausbühne und anderer Inszenierungen.  

Aber auch die Kinder sollen an das Werk Schlemmers herangeführt werden. So ist der Ausstellung ein wunderschönes Kinderkunstbuch von Anne Funck beigegeben, in dem Tribal, der neue Tänzer, uns eine Aufführung des Triadischen Balletts erleben lässt. Die originalen Kostüme befinden sich ja in der Staatsgalerie Stuttgart. Den Kindern werden zugleich Anleitungen zur Anfertigung von Kostümen auf Papiercollagen gegeben. Spielerisch lernen sie den Künstler Schlemmer, seine Bauhaus-Tätigkeit, sein malerisches und plastisches Werk kennen und werden am Ende eingeladen, die Staatsgalerie Stuttgart zu besuchen.

Welche Erkenntnisse kann man aus den Texten wie Abbildungen gewinnen? Das Bestreben, bildende Kunst und Architektur zu verbinden, führte Schlemmer zwangsläufig in die dritte Dimension. In seinen Reliefplastiken erscheint die Figur zerlegt, geometrisiert und normiert. Durch die Klarheit der Linien und austarierte Proportionen erzielte er  in der Plastik einen kaum mehr zu überbietenden Abstraktionsgrad. In der „Abstrakten Figur“ (1921/23), neben „Groteske“ (1923) die einzige Rundplastik Schlemmers, werden die Pole „Mensch“ und „Abstraktion“ zu einer Synthese zusammengeführt. Frontal und rückwärts stellt sich der Torso als Kunstfigur aus ineinander verzahnten, kontrastierenden Elementen dar, die aber insgesamt ausgewogene  Ausdrucksformen ergeben. Dagegen verdeutlicht die Schmalseite das plastische Prinzip funktionell ineinandergreifender, gegensätzlicher geometrischer Formelemente. Die Körper- und Kopfsegmente sind jeweils um eine tragende Mittelstange, die auf einem überdimensionalen Fuß basiert, achsial angeordnet. Die surreal anmutende Auflösung eines  natürlichen Körpervolumens resultiert aus dem Interesse, den Körper in seinem Aufbau aus Volumen und Hohlformen zu durchdringen.

In Weimar, wohin er an das von Gropius 1919 gegründete Bauhaus berufen wurde, entstanden neben ersten Entwürfen für Plastiken aus Draht, Holz und Gips die Gemälde  „Die Geste (Tänzerin)“  (1922) und „Der Tänzer“ (1923), die die Reihe der Bauhausbilder eröffneten. Hier führte er die neue raumplastische Gestaltkonzeption in seine Malerei ein. Er machte sich seine Erfahrung als Tänzer und Choreograf zunutze, dass „die menschliche Gestalt, losgelöst aus der Masse und in die Sonderwelt der Bühne (des Bildes) gestellt, vom Nimbus des Magischen umwittert, ein sozusagen raumbehextes Wesen“ wird.  Im „Triadischen Ballett“, das 1923 im Deutschen Nationaltheater in Weimar aufgeführt wurde und internationale Aufmerksamkeit erlangte, war es Schlemmer um die Synthese von Mensch und Marionette, Natur- und Kunstfigur gegangen, in die er die ganze Skala an Ausdrucksmöglichkeiten einbringen konnte. Nachdem er die die Bauhausbühne übernommen hatte, ging er von den anatomischen und funktionalen Gesetzen des menschlichen Körpers im Wechselspiel mit den Gesetzen des kubischen Raums aus. Auf der Bauhausbühne führte er eine auf dem körperlichen Organismus basierende Ausdruckssprache ein, gemeinsam mit seinen Schülern entwickelte er die Bauhaustänze.

Noch in Weimar entstanden die später als „Galeriebilder“ bezeichneten Hauptwerke wie „Ruheraum“ (1925), „Konzentrische Gruppe“ (1925) und „Fünf Figuren im Raum. Römisches“ (1925), die Schlemmers internationalen Ruhm begründeten. Statik und Dynamik, Raum und Fläche wirken in einem System von Richtungsbezügen und Überschneidungen zusammen und machen das Bild zu einem fiktiven Ausschnitt  aus dem umgebenden Realraum des Betrachters.

Seine Wandgestaltung für das Museum Folkwang in Essen 1930 – sie wurde 1933 entfernt und ist heute verschollen – stellte Jünglinge in optischer Ausgewogenheit und in vertikaler, diagonaler und horizontaler Gegenbewegung von Armen und Beinen dar. An Hand der drei aufeinanderfolgenden Fassungen lässt sich der stilistische Weg von der thematischen Vorgabe bis zur philosophischen Umdeutung Schlemmers verfolgen, der „Darstellung des einfachen Daseins von Gestalten“ und deren Integration in die Gesellschaft.Auch in den Gemälden, so in der „Vierzehnergruppe in imaginärer Architektur“ (1930-1936), zeigt sich die Versachlichung von Raum, Figur und Bewegung. Die entindividualisierten Figuren sind  in konstruktiver Anordnung nebeneinander und übereinander, wie zum Tanz oder zur Pantomime bereit, angeordnet. Und doch erfahren sie eine Entkörperlichung, ein metaphysisch-geheimnisvolles Licht beginnt Figur und Raum  gleichermaßen zu durchdringen. Die Puppe wird dem Künstler eine Art Zeitsymbol für das Individuum, Ausdruck der Vereinsamung in einer mechanisch aufeinander abgestimmten und in sich funktionierenden Gemeinschaft.

Neben Gips, Holz und Glas gehörten Metall und Draht zu den bevorzugten Materialien. Im architektonischen Zusammenhang hat er diese neuen Techniken unter anderem 1931 für die Ausgestaltung des von Adolf Rading erbauten Hauses Dr. Raabe in Zwenkau bei Leipzig angewandt. An der Hauptwand der Wandhalle konnte Schlemmer seine Vision einer frei vor der Wand montierten, wie schwebenden Drahtplastik umsetzen. Das Relief ist auf eine flache plastische Zeichnung reduziert, der Mensch als eine Idealfigur aus Kreisen und eiförmigen Kurven erfasst.

Hat Schlemmer in den berühmten „Treppenbildern“ – scheinbar unberührt von den Zeitereignissen – ein Sinnbild der Harmonie dargestellt? In der „Gruppe am Geländer“ (1931) verraten weder die typisierten Gesichter noch die geometrisch vereinfachten Körperformen und gemessenen Gesten die geringste Gefühlserregung der jungen Menschen. Treppe und Geländer geben dem Bild „Maß und Gesetz“. Die Gestalten halten sich am Geländer fest, sie kehren uns den Rücken zu oder geben lediglich ihr Profil preis. Sie scheinen dem Betrachter den Bildraum zu versperren, um ihre eigene Welt zu schützen. In der „Bauhaustreppe“ (1932), dem bekanntesten Werk seines malerischen Œuvres, das kurz nach der Vollendung von dem Architekten Philip Johnson für das New Yorker Museum of Modern Art erworben wurde, fasste Schlemmer rückblickend seine Vision einer künftigen Kultur zusammen. Unmittelbarer Anlass war offenbar die Nachricht von der Schließung des Dessauer Bauhauses unter dem Druck der Nationalsozialisten. Im lichterfüllten Treppenhaus von Gropius steigen Figuren beschwingt nach oben, während oben zwei Randfiguren sich hinunterbegeben, unten links ein angeschnittener Kopf in Nachdenken versunken ist und hinter dem Fenster eine schattenhafte Figur erscheint, die allerdings nur von der mittleren Rückengestalt wahrgenommen wird. Es existiert also hinter dem Innenraum noch ein unbekanntes – gefährliches? – Draußen. Die Treppe kann als ein Gleichnis des Schwankens zwischen „Hoffnung und Resignation“ – so der Titel eines Aufsatzes von ihm –, der Griff zum Geländer als Ausdruck einer tiefen Verunsicherung und Haltsuche gedeutet werden. „Wir brauchen Zahl, Maß und Gesetz, um nicht im Chaos verschlungen zu werden“, rief Schlemmer im November 1932 seinen Zuhörern in der Antrittsvorlesung an der Vereinigten Staatsschule für Kunst und Kunstgewerbe in Berlin-Charlottenburg zu, aus der er dann wenige Monate später entlassen wird.Es folgten die Jahre seiner fortschreitenden Diffamierung als „entarteter“ Künstler. Die „psychische Vernichtung“, die er in sich fühlte, ließ ihn den Wert seiner zum Teil zukunftsweisenden Arbeiten nicht mehr voll erkennen. Er versuchte, die Spuren des Pinsels im Bild zu tilgen und eine „automatische“ Malerei zu erzeugen, die auf den Tachismus der 1950er Jahre voraus weist. Aber es blieb ihm keine Zeit mehr für gänzlich neue Ansätze.  Im Vorjahr seines Todes, 1942, entstanden noch die kleinen  „Fensterbilder“, die er  beim Blick in die hell erleuchteten Wohnungen der gegenüberliegenden Häuser malte. Aus der Rolle des aktiv bauenden, regieführenden Bildschöpfers hatte er sich in die eines empfindsamen  Beobachters zurückgezogen. Obwohl ihm diese Bilder neuen Auftrieb gaben, spricht aus ihnen tiefe Trauer und Resignation.

Titelbild

Ina Conzen (Hg.): Oskar Schlemmer. Visionen einer neuen Welt.
Herausgegeben von der Staatsgalerie Stuttgart.
Hirmer Verlag, München 2014.
300 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-13: 9783777423036

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Anne Funk (Hg.): Tribal tanzt in der Welt von Oskar Schlemmer.
Nach einer Idee von Anke Menz-Bächle.
Klinkhardt & Biermann Verlag, München 2014.
33 Seiten, 9,90 EUR.
ISBN-13: 9783943616231

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch