Von Beziehungen zwischen Texten und anderen Dingen

Frauke Berndt und Lily Tonger-Erk legen eine längst überfällige Einführung in die Intertextualität vor

Von Tobias GunstRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tobias Gunst

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist grundsätzlich kein besonders gutes Zeichen, wenn die erste als Lehrbuch angelegte Einführung in ein originäres Fachgebiet einer Disziplin von Vertretern einer Nachbardisziplin geschrieben wird. Genau das ist der Fall im seit 2013 vorliegenden Einführungsband in die „Intertextualität“, der im Berliner Erich Schmidt Verlag in der Reihe „Grundlagen der Germanistik“ [sic] erschienen ist. Frauke Berndt und Lily Tonger-Erk, Germanistinnen aus Tübingen, zeichnen für die – zumindest im deutschsprachigen Raum – erste als Einführung verstandene Grundlagenmonographie zu dem seit den späten 1960er Jahren virulenten Phänomen verantwortlich und es ist kaum hoch genug zu loben, dass damit endlich ein konziser und umfassender Überblick zur Intertextualitätsforschung der letzten rund 40 Jahre vorliegt. Denn auch wenn die Intertextualität vor allem ein komparatistisches Arbeitsgebiet ist und für das Fach neben der Intermedialität und der Interkulturalität die zentrale Säule bildet, gelang es der Vergleichenden Literaturwissenschaft bisher nicht, eine kompakte Gesamtschau zu erarbeiten, die jedoch, wie Studierende genauso wie Lehrende bestätigen können, für die akademische Lehre (aber auch für die Forschung) dringend überfällig war. Diese Lücke schließt die rund 250 Seiten starke Monographie von  Berndt und Tonger-Erk nun endlich und sie tut es auf insgesamt überzeugende Weise.

Der Aufbau des Bandes folgt dabei weitgehend der Chronologie der Forschungsdiskussion zur Intertextualitätstheorie. Nach einer Darstellung der „Grundlagen“ (Kap. 2) bei Bachtin und dann natürlich Kristeva folgen die verschiedenen Ansätze der „Einflussforschung“ (Kap. 3), worunter vor allem Bloom und die diversen Echos in postkolonialer und genderorientierter Literaturwissenschaft zählen, bis schließlich die als „Typologien“ (Kap. 4) kategorisierten Konzepte der späten 70er und 1980er Jahre von Riffaterre, Genette, Lachmann und Broich/Pfister präsentiert werden. Flankiert werden diese ‚klassischen‘ Ansätze von einem sehr umfänglichen Kapitel zur „Intermedialität“ (Kap. 5) und einer Art von Ausblick unter dem Titel „Text und Kontext“ (Kap. 6), der vor allem jüngste kulturwissenschaftliche Aktualisierungen der Intertextualitätstheoreme bei Greenblatt, Baßler, Bronfen und Jürgen Link vorstellt.

Vor allem die letzten beiden Kapitel zeigen die grundsätzliche Stoßrichtung der Autorinnen: keineswegs nur als Paraphrase bestehender Theorien verstanden, folgt ihr Buch einer eigenen Programmatik, die sie in der Einleitung kurz skizzieren. Sie gehen dabei von der Leitthese aus, dass „Intertextualitätstheorien“ grundsätzlich „medienblind“ sind – und führen daher in das Themengebiet auch mit einem visuellen Beispiel, nämlich dem „Fornarina“-Gemälde von Raffello Sanzio (1518-1520) und dessen Verarbeitung durch die Fotografin Cindy Sherman 1989 ein. Zudem machen sie hier schon explizit, dass sie Intermedialitäts- und Text-Kontext-Theorien in ihrer Einführung mitberücksichtigen und somit die Intertextualität mit drei basalen Formen der Bezugnahme – Textbezug, Medienbezug, Kontextbezug – koppeln möchten. Mit einem methodischen Fundament soll so ein „Beitrag zur Ideengeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts“ geleistet werden.

Die zentrale Frage, die sich ob dieses programmatischen Anliegens jedoch stellt, ist, ob damit das Konzept der ‚Einführung‘ nicht über Gebühr belastet, ja überfrachtet wird. Mit den Intermedialitäts- und Kontexttheorien werden Forschungsfelder berührt, die im engeren Sinne mit Intertextualitätsphänomenen wenig zu tun haben und für Bezugnahmen von Texten auf- und untereinander wenig hilfreich sind. Natürlich handelt es sich auch bei intermedialen Bezugnahmen um Bezugnahmen, aber nicht um intertextuelle Bezugnahmen – oder dies nur dann, wenn man von einem poststrukturalistisch weiten ‚alles ist Text‘-Textbegriff ausgeht. Die eher als Thesen daherkommenden Beobachtungen zu möglichen Bezugnahmen von Texten auf andere Medien – das Bild beispielsweise, so die Behauptung, biete sich dem Text „immer dann als ‚Beziehungspartner‘ an, wenn er sich um Anschaulichkeit bemüht“ – sind zu vage und beliebig, um als substanzielle Einführung in die Intermedialität gelten zu können, zumal der Sprung von deutenden Illustrationen zu Klassikern der Visuellen Poesie gerade einmal drei Seiten und keine besonderen theoretischen Erörterungen erfordert. Feststellungen wie die, dass unterschiedliche musikalische Vertonungen derselben literarischen Vorlage jeweils „andere Konnotationen“ haben, sind so basal, dass sie kaum Informationsgehalt besitzen und somit entbehrlich sind, während kühne Thesen wie jene, dass musikalische Zeichen „keine Denotate“ hätten, so voraussetzungsreich und erklärungsbedürftig sind, dass ihrer Überprüfung wesentlich mehr Raum gewidmet werden müsste.   

Somit franst die Einführung gerade an ihren Rändern, also dort, wo der Textbegriff über jede Grenze hin ausgeweitet wird, etwas aus und wird mit der umfänglichen Darstellung von Intermedialitäts- und Kontexttheorien in der zweiten Hälfte des Buches unnötig aufgebläht. Hier wäre möglicherweise eine etwas griffigere Zusammenfassung in Form eines knappen Ausblicks und der Darstellung von Überschneidungen hilfreicher gewesen als die extensive Ausbreitung, wie sie schließlich vorgenommen wird.

Positiv hervorzuheben sind demnach auch vor allem die Kapitel, die sich speziell mit Intertextualitätstheorien und ihrer jeweiligen Konzeption befassen. Die klare Paraphrasierung des kristeva’schen Modells sowie ihre Begriffsbildung, auf deren Basis dann die Erweiterungen von Barthes und Derrida, aber auch weitergehende Phänomene wie die Anagrammatik erklärt werden können, sind in ihrer nachvollziehbaren Darstellung für das Verständnis der zum Teil sehr komplexen Modelle von unschätzbarem Wert. Gleiches gilt für das skizzenhafte Nachzeichnen der Intertextualitätstheorien in den Ansätzen von Gender- und Postkolonialer Theorie, wodurch die Fruchtbarkeit und Reichweite zunächst rein literaturwissenschaftlicher Modelle ansichtig wird.

Für die (literatur-)wissenschaftliche Arbeit als Unersetzbar wird sich indes am ehesten das vierte Kapitel mit der zusammenfassenden Darstellung der typologischen Ansätze von Riffaterre, Genette, Lachmann und Pfister/Broich erweisen. Studierende und Lehrende gleichermaßen können sich hier einen raschen Überblick über Hauptstränge der Argumentation sowie Gemeinsamkeiten und Unterschiede verschaffen

Als hilfreich in der Praxis erweisen sich auch die Zusammenfassungen am Ende jedes Kapitels sowie die kurzen Übersichten zu den jeweils zitierten Texten, so dass man sich schnell einen Überblick über die wichtigsten Arbeiten zu einzelnen Themengebieten verschaffen kann, ohne die sehr umfangreiche und in ihrer – jedenfalls was den deutsch-, englisch- und französischsprachigen Raum betrifft – Vollständigkeit lobenswerte Bibliographie komplett durchsehen zu müssen.

Ärgerlich sind kleinere Flüchtigkeitsfehler wie auf S. 66, wo Wolfgang Kayser oben richtig ‚Kayser‘, am Ende der Seite allerdings plötzlich ‚Kaiser‘ heißt. Zudem haben umgangssprachlich-saloppe Formulierungen wie „Super aufmerksam, super gelehrt, […] mit einem super Spürsinn ausgestattet (dabei im Übrigen natürlich super männlich)“ in einem (literatur!-)wissenschaftlichen Lehrbuch natürlich absolut nichts verloren und sind, Pardon, ‚super‘ fehl am Platze.

All das bleibt aber Makulatur angesichts einer dringend überfälligen Einführung in ein zentrales Thema der Literaturwissenschaft als Ganzes, die insgesamt konzise und sehr verständlich ein hochkomplexes Gebiet vermisst und nur an den kartographischen Rändern ihr eigentlichen Raum verlässt, wobei selbst diese ‚Ausflüge‘ insofern wichtig sind, als sie die enorme Produktivität des Phänomens beweisen und damit das ganze Unternehmen quasi doppelt rechtfertigen. Somit wird der Band gerade für Grundlagenseminare aller Philologien ein wichtiges Werkzeug sein.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Frauke Berndt / Lily Tonger-Erk: Intertextualität. Eine Einführung.
Erich Schmidt Verlag, Berlin 2013.
292 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783503137589

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