Eberhard Lämmert zum Gedenken

Auch ein Beitrag zur Geschichte der Literaturwissenschaft seit 1950

Von Petra BodenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Petra Boden und Jörg SchönertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Schönert

„Wer im wissenschaftlichen Umgang mit Literatur die Erkenntnis einmal gesichert hat, daß der Ertrag dieses Umgangs nicht nur vom vorgesetzten Buchstaben, sondern auch von der praktischen Lebenssituation abhängt, in der man mit ihr umgeht, der sollte womöglich empfindlicher als andere auf die zwischenmenschlichen Verhältnisse achten, unter denen Literatur gelehrt und studiert wird. Mit anderen Worten: Es hängt Entscheidendes davon ab, ob gemeinsame Studien an einem so wenig handfesten Gegenstand in den sozialen Formen vor sich gehen können, die die Beteiligten zu verständigendem Reden bringen.“

Welche Erfahrungen verdichten sich in dieser Haltung, die Eberhard Lämmert 1972 als Credo des eigenen Tuns formulierte und gleichsam als Mahnung auch an andere weitergab? Als Mittvierziger war er schon zum zweiten Mal Inhaber eines Lehrstuhls für Neuere deutsche Literatur, denn 1971 hatte er die Freie Universität Berlin verlassen und war einem Ruf nach Heidelberg gefolgt. Hinter ihm lagen zehn Jahre, in denen sein Fach sich aufgerieben hatte zwischen Besitzstandswahrung, Reformwillen und revolutionärem Eifer. Als Beteiligter der ersten Stunde hatte er Einsichten gewonnen, die seinen künftigen Lebensweg prägen sollten. Denn dass sein fortgesetztes Engagement für Veränderung wohlbedacht mit kritischer Bestandsaufnahme des Überlieferten einhergehen müsse, war eine grundlegende Erfahrung jener Jahre. Sie verstetigte sich und bestimmte später seine weitreichenden Interventionen im großen Rahmen der Hochschul- und Bildungspolitik.[1]

Am 20. September 1924 in Bonn geboren, war Eberhard Lämmert schon in früher Kindheit vom Vater eingeweiht worden in die Geheimnisse handfester geologischer Formationen und die Schönheit kristalliner Strukturen unterschiedlicher Gesteinsarten. So erschien dem siebzehnjährigen Abiturienten nach der Schulzeit in Bonn und Bad Godesberg die Wahl der Studienfächer Geologie und Mineralogie an der Universität Bonn in Fortsetzung der väterlichen Familientradition als das Nächstliegende. Erst einmal wurde er jedoch zum Kriegsdienst eingezogen. Um eine im Fronteinsatz erlittene Verwundung auszukurieren, kehrte er zurück nach Bonn und konnte zwischenzeitlich 1942 das geplante Studium für ein Semester aufnehmen. Erneut an die Front beordert, kam er nur durch einen Zufall mit dem Leben davon. Die beiden Soldaten, zwischen denen er im Panzer saß, wurden von Granatsplittern tödlich getroffen, während er nur an beiden Beinen verwundet wurde. Ein Splitter, der nicht entfernt werden konnte, erinnerte ihn ein Leben lang daran, welches Glück er gehabt hatte, und er blieb dankbar.

Aus kurzer Kriegsgefangenschaft wurde er im September 1945 entlassen und setzte 1946 in Bonn sein Studium fort. Es hielt ihn aber nicht lange in den Naturwissenschaften, denn seine Mutter, eine ausgebildete Rezitatorin, hatte schon in dem Gymnasiasten die Lust an Literatur und eine kaum zu stillende Leseneugier geweckt; ein befähigter Deutschlehrer tat ein Übriges. 1948 wechselte Eberhard Lämmert die Fakultät. Eingeschrieben auch für Geografie konzentrierte er sich bald auf das Studium von Germanistik und Geschichte. Nach acht Fachsemestern an den Universitäten Bonn und München wurde Lämmert 1952 in Bonn promoviert.

Seinen Umgang mit Literatur hatte er an Günther Müller geschult, dessen morphologische Untersuchungen für Lämmert wegweisend wurden. Wie wirken die literarischen Elemente zusammen, wie sind Gedichte, Dramen, Novellen, Erzählungen und Romane gebaut und für eine ‚systematische Dichtungswissenschaft‘ zu erschließen? Wie funktioniert die Sprache als Material für Dichtung? Seine Dissertation mit dem Titel „Bauformen des Erzählens“ wurde 1955 veröffentlicht, doch sie geriet bald in den Schatten von Franz K. Stanzels eingängigeren Vorgaben zur kategorisierenden Beschreibung von Erzählprosa. Das änderte sich erst, als die Anschlussfähigkeit von Lämmerts Verfahren an die strukturalistisch begründete Narratologie von Gérard Genette bemerkt wurde. Seither gelten seine „Bauformen“ als ein Wegbereiter für die Aufnahme strukturalistischer Konzepte zur Textanalyse in Deutschland und als Grundlagenwerk für die Theorie des Erzählens. Eberhard Lämmert hat noch die zwölfte Auflage seines Erstlingswerks erlebt. Im Anschluss an seine Arbeiten zur Systematik der narratologischen Textanalyse wandte er sich der Erzählforschung zu, die er mit zahlreichen Publikationen zur Geschichte des Romans und seiner Poetik erheblich gefördert hat.

Nach seiner erfolgreichen Promotion sah Lämmert sich in der Absicht bestärkt, eine Hochschullaufbahn in der Literaturwissenschaft anzustreben. Sein Doktorvater hatte ihm eine Stelle als Wissenschaftlicher Assistent angeboten, die Lämmert von 1953 bis 1954 als „Assistent des Rektors“ wahrnahm. Danach war er Günther Müller bis zu dessen Emeritierung 1956 zugeordnet. Müllers Nachfolger Benno v. Wiese übernahm den Junggermanisten, der seine weitere Laufbahn nach einem traditionellen Karrieremuster plante: Die Habilitation sollte in Älterer Deutscher Literatur im Sinne der ganzheitlichen Repräsentation der Universitätsgermanistik erfolgen. Als Betreuer wählte Lämmert den aus dem Exil zurückgekehrten Germanisten Werner Richter, der 1949 an die Universität Bonn berufen worden war. Richter hatte in den USA moderne Organisationsformen der ‚academia‘ kennengelernt, neben denen die Strukturen im deutschen Universitätsbetrieb (und nachgerade in Bonn) als hoffnungslos veraltet nicht bestehen konnten. In führenden Positionen beim Neuaufbau des Deutschen Akademischen Austauschdienstes und der Alexander von Humboldt-Stiftung engagierte sich Richter für den internationalen Wissenschaftsaustausch. Als wissbegieriger Beobachter dieser Unternehmungen wurde Lämmert früh vorbereitet auf seine späteren intensiven Auslandsaktivitäten, bei denen ihn Vorträge und akademische Beratungen als Botschafter der Geisteswissenschaften deutscher Praxis in alle Welt führen sollten – von Skandinavien bis Australien, von Rumänien bis in die VR China. Seine Habilitation erfolgte 1960 mit einer poetik- und mediengeschichtlich gesättigten Studie zur Lehrdichtung („Reimsprecherkunst im Spätmittelalter. Eine Untersuchung der Teichnerreden“), sie wurde 1970 veröffentlicht.

Germanistik-Reform und Hochschul-Entwicklung (1960-1975)

Vertraut mit der Naturwüchsigkeit von Gesteinen und Erdformationen, gründlich informiert über die Kunstformen und Strukturen des Literarischen von der Reimsprecherkunst im Spätmittelalter über Laurence Sternes „Tristram Shandy“ bis hin zu Thomas Mann, wollte schon dem Assistenten Eberhard Lämmert nicht einleuchten, dass Literatur der Germanistik noch am Ende der 1950er Jahre weithin als wahrhaftigstes Zeugnis des deutschen Wesens und der Nationalgeschichte galt. Zudem glich der universitäre Umgang mit Literatur einem Wildwuchs; die akademische Beschäftigung mit ihr richtete sich zumeist nach den Idiosynkrasien und Partikularinteressen ihrer zu Professoren bestallten Anwälte, deren wachsende Sorge allein dem rasant ansteigenden Zulauf von Studierenden galt. Der Staat reagierte mit Hochschulausbau und Einrichtung immer neuer Stellen, die sich ohne Plan und Programm wie Schichtungen um das Gegebene anlagerten. Wunder gab es nur in der Wirtschaft.

Eberhard Lämmert, 1961 als Professor für Deutsche Philologie an die Freie Universität Berlin berufen, wollte sich mit den vorgegebenen Konstellationen nicht abfinden und sah sich um nach Partnern, mit denen die notwendigen Veränderungen auf den Weg zu bringen wären. Er hat es immer als besonderes Glück geschätzt, dass er an der Bonner Universität in dem Remigranten Richard Alewyn einen Mentor gefunden hatte, um den sich schnell ein Kreis Gleichgesinnter sammelte. Lämmert war mitten unter ihnen, denn gleiches Sinnes waren sie in der Überzeugung, dass eine durchgreifende Reform der Germanistik überfällig war. Was sich in den engagierten Diskussionen der ‘Alewyaner’ (angeführt von Herbert Singer) abzeichnete, griff Lämmert auf, als er am 29.10.1963 auf dem Bonner Germanistentag die nachmittägliche „Diskussion über Fragen des germanistischen Studiums“ eröffnete: Modernisierung der Literaturwissenschaft war das Zeichen der Zeit, ihre Öffnung für eine gründlich zu verändernde Ausbildung von Studierenden, die aufgrund ihrer Begabungen und Interessen auch andere Wege als den ins gesicherte Lehramt suchten, die ihr Studium aber auch auf dem Weg in die Schule als Übung zum freien, selbstbewussten und riskanten Denken verstehen wollten.Aufruhr war die Folge. Lämmert fand viel Beifall bei den Germanisten seiner Generation – es war die Gruppe derjenigen, die man gelegentlich und keineswegs wohlwollend „Jungtürken“ nannte. Empörung und Widerstand formierten sich in der ersten Reihe der Etablierten, unter ihnen Benno von Wiese. Ihm ist dabei der denkwürdige Versprecher passiert, dass Lämmert mit seinem Redebeitrag eine „Koboldbombe“ gezündet habe.

Aber es war nicht die Zeit für Witze, unfreiwillige oder mit Bedacht platzierte. Denn 1964 spitzte sich die vom Feuilleton in Gang gesetzte Diskussion über bis dahin grundsätzlich Beschwiegenes zu: über die Verhaltensweisen derjenigen amtierenden Hochschullehrer, die in der NS-Zeit ihre akademische Karriere begonnen hatten. Davon betroffen waren auch Hugo Moser und Benno v. Wiese, die Vorsitzenden der Vereinigung der deutschen Hochschulgermanisten von 1962 bis 1966. Unversehens wurde aus der Diskussion zu Möglichkeiten der Wissenschaftsreform eine Diskussion darüber, ob sie mit den tonangebenden Vertretern des Fachs überhaupt auf den Weg zu bringen wäre. Die Verbandsmacht der beiden Führungspersonen konnte nicht im Alleingang gebrochen werden – und schon gar nicht von Lämmert, der wenige Jahre zuvor noch ihr Bonner Fachkollege war. Den ‘Alewyanern’ hatten sich inzwischen weitere Germanisten der jüngeren Generation angeschlossen, die wussten, dass eine Wissenschaftsreform, die auf eine Diskussion der jüngeren politischen Geschichte und die Rolle ihrer Lehrer darin verzichten würde, halbherzig bleiben musste. Bei zwei Zusammenkünften im Februar und Oktober 1965 im Stimbekhof, einem Hotel in der Lüneburger Heide, wurden Erfahrungen ausgetauscht und Strategien entwickelt.

Es galt, die Studierenden in einem systematisch konzipierten Studium, dessen Grundlagen noch zu erarbeiten waren, mit hinreichenden Freiräumen sich entwickeln zu lassen. Die Zeitschrift „Bildung und Erziehung“bot sich 1964 als Plattform zur Diskussion, die Lämmert mit dem Text seines Redebeitrags vom Bonner Germanistentag in Gang setzte. Ab 1966 engagierte er sich durch seine Mitarbeit im Vorstand der Vereinigung der Deutschen Hochschulgermanisten für Ausarbeitungen zu einem Reformprogramm. Dessen Umsetzung blieb auch sein Hauptinteresse, als er zwischen 1972 und 1975 als Vorsitzender dieser Vereinigung und zugleich des Deutschen Germanistenverbands amtierte.

Diese intensiven Anstrengungen gingen jedoch einher mit harten Konfrontationen zwischen den Reformbetreibern und ihren Lehrern, die sich bereits in der Vorbereitung zum Münchner Germanistentag 1966 in heftigen Auseinandersetzungen entluden. Die Tagung unter dem Titel „Nationalismus in Germanistik und Dichtung“ anzuberaumen, war ein Kompromiss, dem Lämmert nicht leichten Herzens zugestimmt hatte; dass auch die Dichtung im Titel vorkam, war eine Forderung derer, die eine weltanschauliche Ausrichtung ihrer wissenschaftlichen Praxis selbstentlastend dem Gegenstand zuschreiben wollten. Lämmert war darauf vorbereitet, dass sein fachgeschichtlicher Vortrag „Germanistik – eine deutsche Wissenschaft“ im Verein mit den Vorträgen von Peter v. Polenz, Walter Killy und Karl Otto Conrady (publiziert 1967 als Suhrkamp Taschenbuch) für kontroverse Diskussionen sorgen würde, die entschieden über die Fachöffentlichkeit hinausgingen. In einer Gemengelage der Reaktionen aus Bestreiten, Beschönigen, Anschuldigen und Empören legte Lämmert entschieden Wert auf zivile Umgangsweisen. Es waren soziale Formen zu suchen, in denen Beteiligte zum Dialog nach den Regeln der Vernunft geführt werden konnten.

„Zukunft braucht Herkunft“

Dem Wissenschaftler Eberhard Lämmert waren ideologische Grabenkämpfe sowie machtvolles Durchsetzen von Veränderungen zuwider; blockierende Gegnerschaften hielt er für nicht erstrebenswert. Er hat Strukturen nie als abstrakte Gebilde verstanden, sondern immer als Möglichkeiten zum Handeln – hergestellt, genutzt und zu verändern von konkreten Personen, auf die er fragend und zuhörend zutrat. Er hatte sich schon früh eine Haltung zueigen gemacht, die Odo Marquard später in der Wendung „Zukunft braucht Herkunft“ auf einen Begriff brachte. Für Lämmert galt sie in doppelter Weise: zum einen für das Fach Literaturwissenschaft, dessen Geschichte ihm spätestens seit dem Bonner Germanistentag ein wichtiges Forschungsfeld war; zum anderen galt sie ihren Akteuren, die er als Gegner und als Partner in dieser Hinsicht einzuschätzen, zu verstehen und zu lenken suchte, die er – dies war ihm eine Frage des Stils – stets ernst nahm, in Achtung vor der Person und ihrer Lebensleistung.

In der Doppelperspektive von Herkunft und Zukunft nahm Lämmert auch die Institution der Universitätsgermanistik wahr. Zusammen mit Walter Müller-Seidel – seinem Amtsvorgänger im Vorsitz des Deutschen Germanistenverbands – bestimmte Lämmert nach den problematischen Erfahrungen der Germanistentage von 1966 und 1968 die Modernisierung des Berufsverbandes in seiner programmatischen Ausrichtung und Organisationsstruktur; zudem betrieben er und Müller-Seidel die im April 1972 vollzogene Gründung der „Arbeitsstelle für Geschichte der Germanistik“ am Deutschen Literaturarchiv Marbach, wo Wissenschaftler-Nachlässe von Germanisten und Fachvertretern anderer Philologien (und seit jüngster Zeit auch aus dem Gesamtgebiet der Geisteswissenschaften) gesammelt und erschlossen werden sollten. Die archivalischen Aktionen wurden seit 1989 erweitert vom „Marbacher Arbeitskreis für Geschichte der Germanistik“, in dem Lämmert eine wichtige Rolle übernahm. 1991 begründete der Arbeitskreis ein Periodikum für Geschichte der Germanistik zur Vermittlung wissenschaftsgeschichtlicher Forschungen und Diskussionen; es trägt heute den Untertitel „Historische Zeitschrift für die Philologien“.

Seiner Rede zur Eröffnung der Arbeitsstelle am Deutschen Literaturarchiv gab Lämmert den verheißungsvoll-optimistischen Titel „Wissenschaftsgeschichte und Forschungsplanung“: Mit Hilfe einer kooperativ betriebenen und dokumentengestützten „Wissenschaftsgeschichte der Gegenwart“ sollte das Fach sich seiner selbst ansichtig werden können, um auf diese Weise zu einer „vernünftigen Forschungsplanung“ und effektiven Hochschullehre zu gelangen. Es lohnt sich noch heute, diese Rede mit ihrer Fülle an Perspektiven zum wissenschaftsgeschichtlichen Vorgehen und zu neuen kooperativen Arbeitsweisen in der Literaturwissenschaft nachzulesen.

Als Fachgutachter der DFG, gewählt von den Kolleginnen und Kollegen der Neueren deutschen Literatur für die Jahre zwischen 1969 und 1975, gehörte Lämmert von 1972 bis 1976 auch ihrer „Planungsgruppe Geisteswissenschaften“ an. Dass sich selbst wohlbedachte Zukunftsplanungen in der ‚academia‘ nicht immer konsequent umsetzen lassen, erfuhr er als Mitunterzeichner des Rhedaer Memorandums von 1969. Dessen Forderungen zur transnationalen Zusammenführung der Sprach- und Literaturwissenschaft in der Institution Universität und ihren Studienangeboten konnten angesichts der Verpflichtung auf nationalsprachliche Lehrpraxis der Schulen nicht eingelöst werden. Lämmerts mit langem Atem betriebene Arbeit an der Verwissenschaftlichung der Germanistik sowie sein Engagement für eine Allgemeine und kulturenvergleichende Literaturwissenschaft setzte dabei an, dass Sprach- und Literaturwissenschaft je eigene disziplinäre Logiken hervorgebracht hatten, deren gemeinsame Schnittmenge sich nicht über das geltende Curriculum der Lehramtsstudiengänge erzwingen ließ. Ihre Entfaltung zu modernen Wissenschaften brauchte eigene institutionelle Räume und Strukturen. Mit dem Rhedaer Memorandum sah er sich unter den Befürwortern einer institutionellen Trennung von Sprach- und Literaturwissenschaft, wie sie an den im Aufbau begriffenen Reformuniversitäten in Konstanz und Bielefeld zu dieser Zeit in Gang gesetzt wurde. Er sah jedoch mit gleicher Klarheit, dass die Zusammenarbeit der bislang nach Nationen getrennten Philologien an einer kleinen Universität viel besser funktionieren konnte als im Massenbetrieb großer Universitäten. Aufs Ganze gesehen war nicht mehr zu erreichen als die Dreiteilung der nationalkulturell bestimmten Neuphilologien in Mediävistik, Neuere Literaturgeschichte und Sprachwissenschaft. Das war durchaus nicht wenig.

Präsident der Freien Universität Berlin (1976-1983)

Im Jahrzehnt von 1965 bis 1975 hatte Lämmert sich gründlich üben können im Umgang mit Konflikten, im Überwinden von Widerständen und im geduldigen Festhalten am Veränderungswillen. Nicht zuletzt deshalb wurde er 1976 in das Amt des Präsidenten der Freien Universität in Berlin gewählt. Es war ihm wichtig, dass er diese Wahl nur gewonnen hatte, weil die von vielen gehasste Drittelparität ihm die Stimmen des Mittelbaus einbrachte, dessen Anerkennung er schon während seiner Professur in Heidelberg (1970-1977) zu seinem Anliegen gemacht hatte. Es hat ihn nicht beirrt, dass sein Engagement für Reformen und seine Nähe zum Mittelbau von den zumeist konservativen Kollegen kritisch kommentiert wurde, denn er war es gewohnt, sich im Spektrum der Zustimmungen oft im Kreis einer veränderungswilligen Minderheit zu finden. Dass die konservative Seite der Professorenschaft an der FU Berlin erwirkt hatte, den Juristen Dieter Heckelmann als Lämmerts Ersten Vizepräsidenten zu installieren, nahm er sportlich. Heckelmann musste sich an die Rolle des bestellten Gegners erst gewöhnen; es gab also genügend Spielraum für Verhandlungen und einvernehmliche Kompromissbildungen. Hatte die FU seit Anfang der 1970er Jahre bundesweit im denkbar schlechtesten Licht gestanden, eine Spielwiese gegeneinander verhärteter Fraktionen im Lehrkörper und Tummelplatz rebellierender Langzeitstudenten zu sein – mithin ein Ort der Zerrüttung und Anarchie –, so ist es in erster Linie Eberhard Lämmerts Verdienst, dass dieses trübe Licht am Ende seiner siebenjährigen Amtszeit im Verlöschen begriffen war. Seine ununterbrochene Bereitschaft zum Dialog, seine Aufmerksamkeit für die Belange der unterschiedlichen Interessengruppen – von sich im Widerstand einrichtenden Kollegen bis hin zu Studierenden, die radikal marxistische  Positionen vertraten – hat ihm Achtung eingebracht und eine für die Germanistik an der FU schon sprichwörtliche Bunkermentalität abgebaut.

Der Beginn seines Berliner Engagements war verbunden mit Lämmerts Kampf um den Erhalt des Instituts für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Freien Universität, das für Peter Szondi eingerichtet worden war und nach dessen Tod zum Objekt nationalphilologischer Begehrlichkeiten wurde. Die Tortur, in Berlin Universitätspräsident zu sein und in Heidelberg noch als Ordinarius zu amtieren, musste Lämmert für ein Jahr durchhalten, ehe er 1977 den Berliner Lehrstuhl für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft zugesprochen bekam. Damit hatte er ein wichtiges Ziel erreicht: die Literaturwissenschaft jenseits nationalphilologischer Begrenzung als systematisch orientierte und transnationale Wissenschaft zu vertreten. Der Reichtum dieser Perspektive zeigte sich ihm ohnehin schon seit 1970, als er im Kuratorium des DAAD, von 1984 bis 1999 in dessen Vorstand, aktiv wurde.

Jahrzehnte des Engagements für die Deutsche Schillergesellschaft und das Deutsche Literaturarchiv Marbach

Schon von Heidelberg aus hatte Lämmert die Arbeit des Deutschen Literaturarchivs, des Schiller-Nationalmuseums und der beide Institutionen tragenden Schillergesellschaft im nahegelegenen Marbach registriert: Auch geistiger Reichtum vermehrt sich durch sorgfältige und gut überlegte Sammlung, die einer entsprechenden Pflege bedarf. Mit dem Sammelschwerpunkt „Literatur des 20. Jahrhunderts“ bot ihm das Deutsche Literaturarchiv ein weiteres wichtiges Betätigungsfeld. Beim Festakt zur Eröffnung des erheblich erweiterten Marbacher Archivs am 16. Mai 1973 gehörte Lämmert als amtierender Vorsitzender der Vereinigung der deutschen Hochschulgermanisten zu der Rednern: Im Neubau auf der Schillerhöhe sei „ein Archiv mit Zukunft“ entstanden, das für die Nation ihre „literarische Geschichte lesbar“ erhalte. Für die Entwicklung des Archivs und die zukunftsgerichtete Entfaltung der Archivarbeit im Sinne einer „Auskunfts- und Forschungsstätte“ und eines „Diskussionsforums“ übernahm Lämmert Verantwortung in der Deutschen Schillergesellschaft: zunächst ab 1972 im Wissenschaftlichen Ausschuss, ab 1976 im Vorstand und schließlich von 1988 bis 2002 als Präsident. Auch nach dieser Amtszeit blieb er dem Haus als Ehrenmitglied des Deutschen Literaturarchivs verbunden und sah es als vordringliche Aufgabe an – gestützt auf die Erfahrungen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Museum, in der Bibliothek und im Archiv –, neue Organisationsstrukturen zu entwerfen und sie in der Satzung der Gesellschaft zu verankern, weil die bis dahin geltende Zuständigkeiten von Gremien und die Aufteilung von Verantwortungsbereichen den Erfordernissen eines modernen Wissenschaftsbetriebs nicht mehr gewachsen waren. Obwohl er für dieses Vorhaben weithin Zustimmung fand, ließ es sich nicht in allen Aspekten verwirklichen.

Nach der Emeritierung ist vor der Emeritierung: die Jahre nach 1992

Im letzten Jahrzehnt von Lämmerts Tätigkeit als Hochschullehrer erfuhr die Germanistik –  wie andere Geisteswissenschaften auch – eine weitreichende Verunsicherung ihrer universitären Ausbildungsrolle. Zugleich begann eine lange Phase konkurrierender fachlicher Entwicklungen mit Turbulenzen von ‚turns’, die einander in rascher Folge ablösten oder herausforderten. Ohne polarisieren zu wollen, setzte Lämmert Signale für sein Konzept einer verfahrensoffenen, doch stets kritisch reflektierten und textanalytisch fundierten Philologie, deren Leistungen in präziser Diktion und ohne Verblüffungsstrategien zu vermitteln waren. Er bestand auf einer gesellschaftlichen Verantwortung der Wissenschaftler und verstand sich in seiner erfolgreichen Tätigkeit als Hochschullehrer seit jeher als Wegweiser und liberaler Förderer von Talenten in einem breiten Spektrum der Forschungsfelder und methodologischen Ausrichtungen. Mit Buchpublikationen wie „Die Geisteswissenschaften im Industriezeitalter“ (1986) und „Das überdachte Labyrinth. Ortsbestimmungen der Literaturwissenschaft 1960-1990“ (1991) versuchte er, in der damaligen Krisensituation erhaltenswerte Traditionen zu stärken und sinnvolle Neu-Orientierungen zu fördern.

Seinem lang gehegten Wunsch, den Geisteswissenschaften einen Raum eigenständiger Forschung bereitzustellen und somit außerhalb von Verpflichtungen des universitären Alltags, aber nicht losgelöst von den im Zusammenhang der Lehre entstehenden Forschungsfragen auch Projekte zu ermöglichen, die einen langen Atem und einen über disziplinäre Grenzen ausgreifenden Blick brauchen, eröffnete nach 1990 die verfügte Integration der wissenschaftlichen Institutionen der DDR in die akademischen Strukturen der BRD neue Chancen zur Verwirklichung. Lämmert wurde Mitglied in der vom Wissenschaftsrat eingesetzten Evaluierungskommission für die Geisteswissenschaften, der Jürgen Kocka vorstand. Für die Literaturwissenschaft der Neuphilologien ging es dabei um die Zukunft des Zentralinstituts für Literaturgeschichte, das aus dem Bestand der zu schließenden Akademie der Wissenschaften der DDR herausgelöst und personell erheblich verkleinert als Möglichkeit zur Weiterarbeit an förderungswürdigen Projekten umstrukturiert werden sollte. Allem voran stand die schon seit einigen Jahren laufende Arbeit am Langzeitprojekt eines „Historischen Wörterbuchs ästhetischer Grundbegriffe“. Es ist zu allererst Lämmerts und seiner Mitstreiter Verdienst, dass er die interdisziplinäre Bedeutung dieses Forschungsvorhabens hoch veranschlagte und sich deshalb – gegen manchen Widerstand – mit Erfolg dafür stark machte, das Projekt unter veränderten Bedingungen mit alten und neuen Mitarbeitern fortzusetzen. Von 1992 bis 1996 leitete Eberhard Lämmert die Institution, unter deren Dach dies möglich wurde: den „Forschungsschwerpunkt Literaturwissenschaft der Fördergesellschaft Wissenschaftliche Neuvorhaben“, den er 1996 als Gründungsdirektor in das „Zentrum für Literaturforschung Berlin“, das heutige „Zentrum für Literatur- und Kulturforschung, überführte. Direktor und Ideengeber des Zentrums blieb er bis 1999. Von 1998 bis 2004 nahm er die Aufgaben des Ko-Direktors am Forschungszentrum für Europäische Aufklärung Potsdam wahr, das allerdings 2007 aufgelöst wurde. Mit viel Energie hatte er auch zusammen mit Hilmar Frank die Einrichtung eines interdisziplinären Zentrums für Kulturgeschichte vorangetrieben, blieb dabei jedoch ohne Erfolg. In diesem Zeitraum war Lämmert außerdem Mitglied im Kuratorium des neu gegründeten Einstein Forums in Potsdam, als Vorsitzender des Kuratoriums amtierte er 1992 bis 2003.

Mit seinem Einsatz für die Belange modernisierter geisteswissenschaftlicher Forschung hat Lämmert am Ende seiner akademischen Laufbahn und über sie hinaus eine Herausforderung von historischem Ausmaß angenommen. In einem Bericht über seine Erfahrungen mit der Evaluierung der Gesellschaftswissenschaften aus der untergegangenen DDR, den er treffend als „Der lange Anlauf“ überschrieb, spricht Lämmert 1993 im Ton tiefen Unbehagens über das Auftreten einiger westdeutscher Kollegen, deren Vorurteile gegen ein Zusammengehen von Ost und West nur mit großer Geduld ausgeräumt werden konnten. Dass die Bundesrepublik, in deren Verfassung die deutsche Einheit immerhin als historisches Ziel verankert war, so wenig auf ihr Eintreten bzw. ihre Verwirklichung vorbereitet war, so Lämmert in seinem Bericht, hat alle, die an entscheidenden Stellen mit diesen Aufgaben betraut worden waren, aufs Äußerste gefordert. Eberhard Lämmert war dem gewachsen. Denn mit der Gründung des Zentrums für Literaturforschung hatte er sich nicht nur den von etlichen Mitstreitern geteilten Wunsch erfüllt, außeruniversitäre und interdisziplinäre projektgebundene Forschung zu ermöglichen; mehr noch: Er hatte ein Institut gegründet, an dem Wissenschaftler aus Ost und West zusammenarbeiten konnten, und zwar in einem nahezu paritätischen Verhältnis, wie es die anderen geisteswissenschaftlichen Zentren nicht vorweisen konnten.

Von ‚Ruhestand‘ nach der Emeritierung konnte bei Eberhard Lämmert keine Rede sein. Auch wenn er mit manchen Plänen und Hoffnungen scheiterte und erfahren musste, dass sein Rat und seine Kooperationsbereitschaft früheren Partnern als verzichtbar erschienen, war er geübt in heiterer Gelassenheit. Es wird ihm früh genug klar geworden sein, dass Wissenschaft ebenso wenig planbar ist wie Leben, so sehr bei ihm eines im anderen aufzugehen schien. Lämmert hatte keine Neigung zum Verbittern, erst recht nicht, als er sich aus dem akademischen Leben zurückzog. Jetzt war wieder Zeit zum Schreiben, und die hat er weidlich genutzt. Er kehrte noch einmal zurück zum konzeptuellen Raum seiner Dissertation: Im November 2007 war er Teilnehmer der Tagung „Strukturalismus in Deutschland. Literatur- und Sprachwissenschaft 1910-1975“ am Deutschen Literaturarchiv Marbach; in der 2010 publizierten Dokumentation der Tagung ist Lämmert mit einem ebenso bedeutenden wie ausführlichen Beitrag über „Strukturale Typologien in der Literaturwissenschaft zwischen 1945 und 1960“ vertreten. 2009 erschien sein Buch „Respekt vor den Poeten. Studien zum Status des freien Schriftstellers“, 2012 „Erfahrung mit Literatur. Gesammelte Schriften“. Seine Leistungen wurden in diesen Jahren erneut gewürdigt: mit Ehrenpromotionen der Philosophischen Fakultäten der Universitäten von Potsdam (2001) und seiner Heimatstadt Bonn (2014) sowie mit der Ehrenmitgliedschaft in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (2010).

Zum Abschied

Eberhard Lämmert hat eine Vielzahl epistemischer, habitueller und sozialer Tugenden in sich zum Einklang gebracht – mit einem Format, das in der deutschen Literaturwissenschaft seit Beginn der 1960er Jahre unverkennbare Spuren hinterlassen hat. Als Gelehrter von hohem Rang und mit internationaler Ausstrahlung war er zugleich ein besonders kompetenter Wissenschaftsmanager mit weitreichendem Einfluss. Als er 1994 eine Marbacher Tagung über die deutsche Literaturwissenschaft vor und nach 1945 eröffnete, ging ein überraschtes Lächeln über die Gesichter der Anwesenden. Nur wenigen war nicht aufgefallen, dass der Redner am Pult eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem Mann auf dem Gemälde hinter seinem Rücken hatte: mit Wilhelm von Humboldt. Auch wenn Lämmert sich nie mit dem Präzeptor deutscher Hochschulpolitik hätte messen wollen, mit einem der Großen in der germanistischen Geschichte der Literaturwissenschaft könnte er es in Einstellung und Wirkungen aufnehmen – mit Wilhelm Scherer. Lämmerts liberale Haltung verdankt sich den besten Traditionen des 19. Jahrhunderts; in seiner Leidenschaft für die Moderne in Literatur, Kunst und Wissenschaft war er ein Gegenwärtiger, der einer offenen, jedoch nicht beliebigen Zukunft Kredit zu geben wusste. Was ihn auszeichnete, war seine Bereitschaft zum Vertrauen, in dem jedoch so viel Distanz gewahrt wurde, dass sich Vertraulichkeiten nicht einstellten. Grundlegend waren seine Fähigkeit zum Dialog, zum Hinhören und die Gabe der Geduld. Sich bequemen Mehrheiten anzuschließen, war nie seine Sache.

Für sein Selbstverständnis folgte er konsequent dem Credo, das er 1972 formuliert hatte. In seiner Liebe zum so wenig handfesten Gegenstand Literatur blieb er neugierig und begeisterungsfähig, und er konnte andere begeistern. Wer ihn kannte und schätzte, wird ihn vor Augen haben, mit geradem Rücken und leicht zu Seite geneigtem Kopf, lächelnd, aber auch stirnrunzelnd, mit eindeutigen körperlichen Signalen von Freundlichkeit, Zuverlässigkeit und ungeteilter Aufmerksamkeit. Gelegentlich sah man Lämmert in einem Vortragspublikum mit geschlossenen Augen sitzen. Dass er nicht geschlafen, sondern hochkonzentriert zugehört hatte, merkte man an seinen Wortmeldungen. Gestaltungswille zeichnete ihn auch in der Sprache aus: seine Formulierungen waren so präzise wie originell, punktgenau und mit einer je eigenen Eleganz. Er war ein bewundernswerter Redner. Eberhard Lämmert starb am 3. Mai 2015 in Berlin. Er hat ein akademisches Erbe hinterlassen, dessen sich zu erinnern der Mühe wert ist.

[1] Vgl. für Daten zur Person, zu Forschungsgebieten und Publikationen http://www.geisteswissenschaften.fu-berlin.de/we03/institut/mitarbeiter/professoren/laemmert/; in Einzelfällen wurden für den vorliegenden Text Daten korrigiert.