Der Trost des Mythos

Hans Blumenbergs Kritik an Freud und Arendt

Von Daniel BorgeldtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Borgeldt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Hans Blumenberg (1920-1996) im ostwestfälischen Altenberge bei Münster starb, war das öffentliche Bild von ihm alles andere als das eines politischen Querulanten. Anders als der neun Jahre jüngere Jürgen Habermas, der zeitweise zusammen mit ihm, Dieter Henrich und Jacob Taubes die Reihe „Theorie“ im Suhrkamp-Verlag herausgab, war Blumenberg weit davon entfernt, als Philosoph auf die Gesellschaft einwirken zu wollen. Auch auf eine echte Konfrontation mit Habermas oder Adorno ließ er sich zeitlebens nicht ein und wich bei Nachfragen in „Pauschalurteile“ aus, „die bestenfalls von Ironie zeugen“ (Ahlrich Meyer). Blumenbergs Ablehnung der Frankfurter Schule war aber weniger durch Angst vor der akademischen Konkurrenz begründet als vielmehr durch einen vollkommen anderen Denkansatz. Schon die Themen seiner Bücher wirken im politisch aufgeladenen Klima der 1960er und 1970er Jahren ein wenig anachronistisch.

Mit seinen Schriften „Paradigmen einer Metaphorologie“ (1960), „Die Legitimität der Neuzeit“ (1966) oder dem als Schlagwort durch geisteswissenschaftliche Seminare geisternden „Arbeit am Mythos“ (1979), um nur einige zu nennen, befand er sich abseits eines gesellschaftspolitischen Diskurses. Eines der Hauptinteressensgebiete Blumenbergs war der Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, das eine Neuauslegung des Menschenbildes forderte und mit dem er sich in zeitgenössische akademische Debatten einschaltete. „Die Legitimität der Neuzeit“ lebt von „einem starken antitheologischen Affekt“ und „ist eine Antwort auf „Das Ende der Neuzeit“ des seinerzeit viel gelesenen katholischen Philosophen Romano Guardini“ (Ferdinand Fellmann).

Abgesehen von dem schon zu Lebzeiten publizierten, voluminösen Werk wurde und wird immer noch nach Blumenbergs Tod in relativ kurzen Abständen sein Nachlass aus dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach veröffentlicht, der zur Ergänzung des Gesamtwerks beiträgt, aber auch stetig neue Facetten offenbart. Eine dieser neuen Perspektiven ist Blumenbergs Auseinandersetzung mit der eigenen jüdischen Identität im Kontext von Zweitem Weltkrieg und Holocaust und zeigt damit eine politische Dimension auf.

Blumenberg, dessen Mutter Jüdin war, hatte in den 1930er Jahren sein Theologiestudium aufgrund seiner Herkunft abbrechen müssen und war zeitweise in einem Arbeitslager interniert gewesen. Abgesehen von dieser Episode hatte er die Zeit des Dritten Reiches relativ unbeschadet überstanden. Nach 1945 ging er mit seiner persönlichen Involviertheit nie an die Öffentlichkeit. Umso überraschender erscheint nun der von Ahlrich Meyer edierte und mit einem Nachwort versehene kurze Text „Rigorismus der Wahrheit. „Moses der Ägypter“ und weitere Texte zu Freud und Arendt“.

Dabei ist, zumindest im Hinblick auf Freud, weniger die Auseinandersetzung mit dem Vater der Psychoanalyse überraschend, als der Kontext, in dem sie geschieht. Sigmund Freud ist einer der Wissenschaftsautoren, mit denen sich Blumenberg am intensivsten beschäftigt hat, und die Spuren dieser Beschäftigung kann man spätestens seit Mitte der 1960er Jahre in seinen Werken, aber auch im öffentlichen Vortrag verfolgen.

So hielt Blumenberg beispielsweise im Wintersemester 1980/81 eine Vorlesung mit dem Titel „Philosophisches bei Freud“ an der Universität Münster. Grundsätzlich stellt sich dabei heraus, dass Blumenberg der Psychoanalyse an sich äußerst kritisch gegenübersteht. Der Vorwurf, den er formuliert, erhellt auch sein Verhältnis zur eigenen jüdischen Identität, das er aus einem Denkansatz entwickelt, der den Mythos als anthropologische Konstante versteht. „Analytiker leiden an einem fast unbegrenzten Bedarf tieferer Bedeutung von allem und jedem“, so Blumenberg in „Höhlenausgänge“ (1989). Die Konsequenz daraus formuliert er bereits in „Die Sorge geht über den Fluss“ (1987), indem ein Überschuss an Bedeutung und Sinn nämlich eine Welt konstruiert, die jedes Leid erklären kann und indem die Opfer als zurecht gestraft erscheinen. Demgegenüber betont Blumenberg, konträr zur „Traumdeutung“, die Entlastung für den Menschen durch die Einsicht, dass Träume bedeutungslos sind.

Die Kritik des nun vorliegenden Nachlass-Bandes bezieht sich auf Freuds Spätschrift „Der Mann Moses und die monotheistische Religion“ (1939) und Hannah Arendts kontroverses Buch „Eichmann in Jerusalem“ (1963). Der Vorwurf Blumenbergs, nämlich dass sie den Trost, den der Mythos bietet, nicht verstanden bzw. ihn zugunsten eines rigorosen Wahrheitsstrebens ignoriert haben, trifft beide auf unterschiedliche Weise. 

Freuds Liebe zur Wahrheit war über den Kreis seiner Schüler hinaus sprichwörtlich und sie bestimmt auch den „Mann Moses“, der von der These ausgeht, dass Moses Ägypter war und das Volk der Juden sozusagen erst konstruiert hat. „Einem Volkstum den Mann abzusprechen, den es als den größten unter seinen Söhnen rühmt, ist nichts, was man gern oder leichthin unternehmen wird, zumal wenn man selbst diesem Volke angehört. Aber man wird sich durch kein Beispiel bewegen lassen, die Wahrheit zugunsten vermeintlicher nationaler Interessen zurückzusetzen, und man darf ja auch von der Klärung eines Sachverhalts einen Gewinn für unsere Einsicht erwarten.“ Bereits die ersten Sätze des „Mann Moses“ sprechen von dem, was Blumenberg den „Rigorismus der Wahrheit“ genannt hat. Er wirft Freud vor, er würde „der Wahrheit alles zutrauen, sogar die Freiheit“, und glaubte daher „aus Liebe zur Wahrheit alles von sich und anderen verlangen zu dürfen. […] Das Jahr 1939 war ihm nicht der falscheste Augenblick, den Gedemütigten und Geschlagenen auch noch den Mann zu nehmen, der am Anfang ihr Vertrauen zur Geschichte begründet hatte.“

Während der geschichtlichen Katastrophe, der Enteignungen, Deportationen und Massenvernichtung der europäischen Juden kann, so Blumenberg, ein solches Wahrheitsstreben nur mehr zerstören als retten. Dabei spricht sich auch Blumenbergs Verständnis des Mythos aus, der als Erzählung Orientierung in der Welt bietet, während der „Rigorismus der Wahrheit“ nur Unsicherheit stiftet.

Man könnte sagen, dass dies eben auch der Preis der Wahrheit ist, aber am Vorabend des Zweiten Weltkriegs und während die Tötungsmaschinerie der Nazis langsam anrollte, muss man sich fragen, ob dieser Preis es wert war. Ausgangspunkt für Blumenbergs Kritik auf einer allgemeineren Ebene ist dabei auch ein Selbstbekenntnis Freuds aus einem Gespräch mit Arthur Koestler, in dem er eine theoretische Erklärung für den NS liefert. „Sehen Sie, es ist ein Abreagieren der von der Zivilisation verdrängten Aggression. Etwas dieser Art war früher oder später unvermeidlich. Ich bin nicht sicher, ob ich sie von meinem Standpunkt aus tadeln kann.“ Blumenbergs Kommentar hierzu ist: „Das ist das Schicksal derer, die so gute Theorien machen, daß auch immer noch eine Geschichtsphilosophie abfällt, die zu erklären vermag, was geschehen ist und gerade geschieht, aber damit auch jedes moralische Urteil verbietet.“ Blumenberg liest dies Bekenntnis als Bankrotterklärung der Psychoanalyse wie auch des Wahrheitsstrebens allgemein, das in der geschichtlichen Katastrophe keinen Trost wie der Mythos spenden kann. Man muss dem allerdings entgegenhalten, so Ahlrich Meyer, dass es Freud im „Mann Moses“ eigentlich darum ging, eine Erklärung für den Antisemitismus zu finden und er hoffte die Lösung in der Analyse einer der Ursprungsfiguren des Judentums zu entdecken.

Blumenbergs Vorwurf an Hannah Arendt und ihr Buch „Eichmann in Jerusalem“ ist ein ähnlicher wie der an Freud. „Wie Freud den Mann Moses seinem Volk genommen hatte, nimmt Hannah Arendt Adolf Eichmann dem Staat Israel.“ Der Rigorismus Arendts gleicht dabei dem Freuds, so Blumenbergs These.

Hannah Arendts Kritik an dem Gerichtsverfahren gegen Eichmann betraf unter anderem die Zuständigkeit der Jerusalemer Richter, die Alleinschuld des Angeklagten und die Zeugenaussagen, die oft gar nicht Eichmann selbst beschuldigten, sondern von ihrem persönlichen Leid berichteten. Was Arendts Buch wiederum an weltweiter Kritik nach sich zog, ist hinlänglich bekannt. Gershom Scholem beispielsweise sprach Arendt einfach die „Liebe zu den Juden“ ab. Was Blumenberg der Politologin diagnostiziert, ist, dass sie die mythische Bedeutung Eichmanns nicht versteht oder nicht verstehen will. „Es gibt den negativen Nationalhelden als Staatsgründer. Er muss getötet werden wie Moses, obwohl er die Bedingungen der Möglichkeit dieser nationalen Existenz geschaffen hat.“ Dies heißt für Blumenberg nicht, dass Eichmann wie ein Märtyrer die Schuld anderer mitgetragen hat, für die er gar nicht verantwortlich war. Es geht ihm um den symbolischen Akt für die Opfer. „Vielleicht glaubten die Zeugen nicht an das Gericht im Tale Josaphat bei Jerusalem, wo nicht nur abgeurteilt werden würde, was einer verübt hatte, sondern auch, was er verübt hätte. […] Juristisch gibt es den singulären Fall nicht, darf es ihn nicht geben, die Rechtsprechung lebt von der Subsumtion. Aber es gibt keine Subsumtionen, wo der Organisator eines Genozids in einer Art Staatsakt zum Sündenbock gemacht werden kann, auch und nicht einmal weniger für das, was er nur potentiell getan hätte. Man kann heftig gegen dieses Ritual sein; aber zuerst muß man begriffen haben, was es für die anderen bedeutet, zu welcher Bedeutungslosigkeit es die Kritik verdammt.“

Die Zeugen hatten den Prozess gegen Eichmann zu einer Art Jüngsten Gericht gemacht, und Arendt verkennt dabei den Trost, den dieser Mythos für die Opfer in sich birgt. Wie immer man die Kritik Blumenbergs an Freud und Arendt auch bewerten mag, es zeigt den Aufklärungskritiker Blumenberg, dem der Preis der Wahrheit zu hoch war und der dem Mythos ein ganz eigenes Erkenntnispotential zuerkennt. Letzteres ist, bezieht man die anderen Arbeiten Blumenbergs mit ein, nicht sonderlich überraschend. Neu ist vielmehr, dass er sich auf die politische Dimension des Mythos bezieht, die in diesem Fall auch Rückschlüsse auf sein eigenes Verhältnis zur jüdischen Identität zulassen. Der Eichmann-Prozess scheint ihn so beschäftigt zu haben, dass er noch mehr als 10 Jahre nach dem Gerichtsverfahren die Materialien zu einem Essay zusammenstellte, die nun in Buchform vorliegen.

So bietet der „Rigorismus der Wahrheit“ einen interessanten Einblick in Blumenbergs Denken, das nicht den Mythos politisch, sondern die Politik als mythisch begreift. Dies alles philologisch aufgearbeitet, mit einem umfangreichen Kommentarteil, Exzerpten und Vorarbeiten, Nachlaßtexte aus dem thematischen Umfeld anhand Blumenbergs Zettelkasten und einem Nachwort von Ahlrich Meyer. Jedem an Blumenbergs Denken und Werk Interessierten ist dieser Nachlassband nur zu empfehlen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Hans Blumenberg: Rigorismus der Wahrheit. »Moses der Ägypter« und weitere Texte zu Freud und Arendt.
Herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Ahlrich Meyer.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2015.
150 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783518586167

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch