Junge Seelen vor dem Bildschirm

Ein Sammelband fragt im Kontext der Psychotherapie nach dem Einfluss neuer Medien auf die Entwicklung und Gesundheit von Jugendlichen

Von Laslo ScholtzeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Laslo Scholtze

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jugendliche, die wie verwachsen sind mit ihrem Smartphone, Kinder, die bereits mehrere Stunden pro Tag mit Computerspielen verbringen, Eltern, denen ihr Nachwuchs in virtuellen Welten und sozialen Online-Netzwerken abhanden kommt. Soweit die Schreckensbilder, die durch Köpfe und Medien kreisen. Was aber ist dran an ihnen?

Tatsächlich gibt es einige beeindruckende Zahlen: Durchschnittlich dreieinhalb Stunden nutzen Jugendliche ihr Smartphone im Schnitt täglich. Alle fünf Minuten nach einer neuen Nachricht zu schauen, ist dabei keine Seltenheit. An der Standford University wurde eine repräsentative Umfrage unter Mädchen im Alter von 8 bis 12 Jahren durchgeführt. Fast 7 Stunden pro Tag verbringen sie im Schnitt in sozialen Netzwerken.

Aber auch das konventionelle Bildschirmmedium Fernsehen ist nach wie vor ein gewichtiger Faktor. Gruseliges wird dazu aus den USA berichtet: Im Alter von 1,8 Jahren schauen Kinder durchschnittlich bereits 2,2 Stunden täglich fern. Zwei Jahre später hat sich ihr Konsum dann bereits auf 3,6 Stunden erhöht. Der direkte statistische Zusammenhang zu späteren ADHS-Störungen ist belegt. In Europa wird ebenfalls bereits früh und tüchtig geglotzt: Vorschulkinder schauen in Deutschland durchschnittlich eine Stunde und zehn Minuten im Durchschnitt fern. In der Altersklasse der 11 bis 18-Jährigen kommt kaum einer mit zwei Stunden oder (deutlich) mehr pro Tag am TV aus.

Invasivität und Dauerpräsenz

Reinhard Plassmann schlägt in seinem Beitrag „Von der Bindungsstörung bis zum Bildschirmtrauma“ eine Unterscheidung von invasiven und nicht-invasiven Medien vor. Nicht-invasive Medien sind so konzipiert, dass sie „zur Verfügung stehen“ und sich vom Benutzer kontrollieren lassen. Invasive Medien dagegen entziehen dem Benutzer diese Kontrolle. Sie bauen eine Sogwirkung auf, die auf „Dauerpräsenz“ des Nutzers angelegt ist. Zwar kann auch das Fernsehen die lebendige (nicht-virtuelle) Welt von Menschen zurückdrängen, aber die Dauerpräsenz ist kein strukturelles Element der spezifischen Beziehung zwischen Nutzer und Medium. Anders ist das hingegen bei Computerspielen, die zeitliches Investment und erreichte Spielleistung mit virtuellen Auszeichnungen belohnen. Das Aufsteigen in virtuellen Hierarchien und Rängen kann Größenphantasien nähren, was besonders bei Kindern und Jugendlichen mit geringem Selbstvertrauen bedenklich ist. Am stärksten ausgeprägt ist das invasive Prinzip bei Online-Spielen wie zum Beispiel „World of Warcraft“, wo der Spieler mit jeder Stunde, die er abschaltet, Gefahr läuft, den Anschluss an seine soziale Gruppe („Gilde“) zu verlieren. Dies kann gerade ehrgeizige, tüchtige und fleißige Kinder auf verheerende Weise anspornen, sich immer weiter von ihrer realen Welt zu verabschieden. Ein pathologisches Spielverhalten ist an verschiedenen Merkmalen zu erkennen: Das Spielen dominiert das Denken und wird schließlich dazu verwendet, negative Gefühle zu regulieren. Daraus entsteht ein steigendes Verlangen nach immer mehr Spielzeit, was Entzugserscheinungen wie Nervosität, Unruhe und Spannungen hervorrufen kann. Die Folgen sind Kontrollverlust, Rückfälle und Exzesse und eine Abnahme sozialer Kontakte sowie schulischer und beruflicher Aktivitäten.

Ein ähnlicher Mechanismus zeige sich bei sozialen Online-Netzwerken, in denen permanent Informationen, Einladungen, Fragen und andere soziale Aktivitäten auf den Nutzer einprasseln und die er in seiner Abwesenheit zu verpassen droht: „Das natürlichste Bedürfnis der Kinder und Jugendlichen, einer Gruppe anzugehören, in sie integriert zu sein, wird durch das soziale Online-Netzwerk von der lebendigen in die virtuelle Welt gelenkt.“

Kommerzielle Interessen

Ein wichtiger Hinweis richtet sich an die „grauen Herren“ der industriellen Medienproduktion. Damit ist der blinde Fleck der Medienforschung gemeint, häufig so zu tun, als seien TV-Inhalte, Online-Spiele und die Struktur von Online-Netzwerken einfach so da, ohne zu analysieren und zu rekonstruieren, dass kommerzielle Zwecke und strategisch-ökonomisches Kalkül bei der Entwicklung maßgeblich sind. Eine Abhängigkeit der Konsumenten aber kann aus Sicht der Industrie sehr nützlich sein, auch wenn diese Zielsetzung natürlich nicht offen kommuniziert wird. Die Wissenschaft sollte diese Verschleierung selbstverständlich nicht dadurch unterstützen, dass sie Fragen der Urheberschaft, Interessen und kommerziellen Verflechtungen außen vor lässt.

Virtuelle Pseudobindung

Reinhard Plassmann sieht den Kern des Problems in der Tatsache, dass Bildschirme keine menschlichen Bindungen ersetzen können. Mögliche negative Auswirkungen auf psychosoziale Gesundheit und Entwicklung sind unter anderem:

-        Internetsucht: labile Persönlichkeiten sind dafür besonders anfällig.

-        ADHS: Männliche Jugendliche mit Tendenz zur Abhängigkeit von Computerspielen sind dreimal häufiger betroffen.

-        Lernstörungen: Konsum von Mediengewalt beziehungsweise „aggressiven Medien“  ist der höchste Risikofaktor für schlechte Schulleistungen.

-         Erotisierung der Kindheit: Die psychosexuelle Latenzzeit nimmt rapide ab. Gewalt- und Pornographie-Darstellungen lösen massive Ängste aus und können langfristig zu Abstumpfung, Senkung der Hemmschwelle und Empathieverlust führen.

-        Virtualisierung der Persönlichkeit: Die Folge ist innere Leere. Die Sehnsucht nach lebendigen Erlebnissen wiederum erhöht die Risikobereitschaft (Suche nach dem Kick).

-        Schlafstörungen: Schlaf ist unter anderem aufgrund seiner Bedeutung bei der Erlebnisverarbeitung besonders wichtig.

-        Riskante und pathologische Internetnutzung korreliert auf signifikante Weise mit Depressivität, selbstverletzendem und suizidalen Verhalten (wobei die Kausalität nicht klar ist, Längsschnittstudien wären erforderlich).

Virtuelle Pseudobindungen, so Plassmann, seien nicht stabil, sondern flüchtig, sprunghaft und auswechselbar. In der Folge komme es zum Verarmen der Sprache und zu immer weniger Verständnis der eigenen Gefühle. Ein Narrativ der eigenen Erfahrung und des Selbsterlebens in der Welt könne so nicht entwickelt werden. Insbesondere werde in der Bildschirmsituation der Körper ausgeblendet: Virtuelle körperlose Objekte treffen auf Medienkonsumenten, deren Körper bei Wahrnehmung und Erfahrungsverarbeitung weitgehend ausgeschlossen beziehungsweise vor dem Bildschirm stillgestellt sind. Es bleibt ein „vegetativer Erregungssturm“, der kaum in die Körperlichkeit zu integrieren sei.

Konkurrenzdruck und Selbstdarstellung

Ein spezifisches Phänomen der sozialen Online-Netzwerke, auf das Ulrike Lehmkuhl und Kollegen in ihrem Beitrag „Virtuelle Welten und psychische Entwicklung“ eingehen, ist der Konkurrenzdruck. Social Networks wimmeln nur so von Selbstdarstellungen der User, die meist von Erfolgen, positiven Erlebnissen, betont lustigen oder „coolen“ Beiträgen geprägt sind. Allerdings zeigen die Jugendlichen, sofern sie gefragt werden, häufig durchaus ein kritisches Bewusstsein der möglichen Risiken sozialer Online-Netzwerke wie etwa die fehlende Kontrolle des Informationflusses, der soziale Vergleich beziehungsweise das (offene oder verdeckte) Konkurrenzverhalten, der Dauersog und die permanente Befürchtung, etwas zu verpassen, die fragliche Bedeutung rein virtueller „Freunde“ sowie die Enttäuschung, wenn  ein Austausch beziehungsweise Rückmeldungen ausbleiben

Forscher scheinen daher gut beraten, auch ihre Zielgruppe selbst zu Wort kommen zu lassen, denn die Jugendlichen reagieren verständlicherweise genervt, wenn man ihnen mit Klischees über ihre Generation als naiv, süchtig und unverantwortlich in Bezug auf Handy, PC und Internet begegnet. Denn sie haben durchaus ein Gespür für die Invasivität des Mediums und auch den Wunsch, sich und ihr Leben davor zu schützen. Offen bleibt an dieser Stelle die Frage, wie solch ein Schutz gelingen kann.

Die Beiträge des Tagungsbands behandeln noch eine Reihe weiterer Themen mehrheitlich aus dem Bereich Psychotherapie, inklusive etlicher Fallvignetten, in denen die neuen Medien in ganz unterschiedlichen Bezügen eine Rolle spielen. Der Zusammenhang mit der eingangs formulierten Fragestellung ist dabei mitunter recht lose. Insgesamt bleibt der Band daher vor allem für Insider interessant, die sich im engeren Sinne mit psychotherapeutischen Fragen befassen.

Titelbild

Pit Wahl / Ulrike Lehmkuhl (Hg.): Seelische Wirklichkeiten in virtuellen Welten.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2014.
310 Seiten, 44,99 EUR.
ISBN-13: 9783525450215

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