„Das Lumpenproletariat verbündet sich!“

Andreas Pieper setzt in „Nachspielzeit“ auf Klischees statt auf Fußball

Von Maren PoppeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maren Poppe

Showdown im Hinterhof: Am Boden liegt Roman, der gebeutelte Nazi, der seine Miete nicht mehr bezahlen kann, über ihm steht Cem, der mit einem Baseballschläger bewaffnete  Antifaschist. Nur kurz wirft man als Zuschauer auch einen Blick auf Cali, den Immobilienspekulanten, der seine Waffe gegen beide erhoben hat. So ist gleich zu Anfang des Films klar: In der Handlung, in einem interessanten Plot Twist, kann die Spannung des Films nicht mehr liegen. Denn schon jetzt weiß der Zuschauer, wie die Figuren zueinander stehen werden. Regisseur und Drehbuchautor Andreas Pieper will genau das, erklärt er im Publikumsgespräch auf dem Festival des deutschen Filmes, die Spannung solle in der Entwicklung der Figuren liegen.

Cem, gespielt von Mehmet Atesci, macht ein freiwilliges soziales Jahr als Altenpflegekraft und hilft im Familienrestaurant aus. Das befindet sich eigentlich in guter Lage in Berlin Neukölln, doch ein Immobilienmakler übt Druck aus, er hat vor, die Mieten hochzutreiben und will dazu alle Wohnungen und Geschäfte im Viertel räumen. Roman, gespielt von Frederick Lau, ist von derselben Problematik betroffen, er kann seine Miete nicht mehr zahlen. Das Sozialamt ist nicht bereit, die Mieterhöhungen auszugleichen und von seinem alkoholsüchtigen Vater kann er auch keine Hilfe erwarten.

Cem und Roman treffen sich zum ersten Mal auf dem Fußballplatz und das erste Foul des frustrierten Nazis lässt nicht lange auf sich warten. Die beiden geraten in eine persönliche Fehde und mittendrin steckt Cali, der Makler, gespielt von Aleksandar Tesla, der Cems Wut durch seine rücksichtslosen Taten auf sich zieht und Roman in seiner Geldnot als bereitwilligen Schläger engagiert. Astrid, eine Kollegin und Freundin Cems, gespielt von Frederike Becht, gerät in den Konflikt, auch ihre Wohnung soll geräumt und teuer wieder vermietet werden. Roman schlägt sie im Auftrag Calis brutal zusammen – auch, weil er von ihrer Beziehung mit Cem weiß und diesen damit verletzen will. Was mit harmlosen Flashmobs auf der Seite der Mieterhöhungsgegner anfängt, mündet bei Cem in Brandstiftung und schließlich einer heimtückischen Racheaktion in Form einer Autobombe.

Andreas Pieper teilt seinen Figuren klar definierte Rollen zu: Cem ist der radikale, fast grundlos gewalttätige Linke, der sich von seiner Familie abwendet und in Untergrundkneipen von Revolution im RAF-Stil träumt. Roman hingegen sei gar kein richtiger Nazi, erklärt der Regisseur im Publikumsgespräch, er habe lediglich Angst vor Ausländern und damit verbundener „Überfremdung“. Er sei das Opfer. Man sieht ihn in devoter Haltung mit seinem alkoholkranken Vater oder zu Besuch bei seinem Großvater im Pflegeheim, nie mit anderen Faschisten, seine Ideologie hat er von seiner Familie übernommen. Der Film vermittelt den Eindruck, dass er praktisch nichts dafür könne, seine menschenverachtende Denkweise wird verharmlost.

Diese Setzung von Täter und Opfer verhindert es, dass der Zuschauer offen auf den Film reagieren kann. Die Probleme junger Erwachsener in Neukölln, die realistisch abgebildet werden (abgesehen von den Annahmen, dass man auf einer Internetseite namens „Weapon Market“ tatsächlich Waffen kaufen und Bauanleitungen für Bomben finden oder als normaler PC-Anwender ‚mal eben nebenbei’ öffentliche Überwachungskameras hacken könne), werden schon in der ersten Szene als positiv resp. negativ bewertet und im gesamten Film weiterhin so dargestellt. Roman gibt seine devote Haltung nicht auf, selbst bei seinen Taten, dem Foul an Cem und dem Angriff auf Astrid, bleibt er unsicher; der Zuschauer hat Mitleid mit ihm. Cem dagegen wird immer extrovertierter, er stößt die Menschen vor den Kopf, die ihn lieben, und tut alles, um seine Ideale durchzusetzen. Eine tatsächlich reflektierte Entwicklung macht keine der Figuren durch. Roman denkt nie kritisch nach, er suhlt sich geradezu in seiner miserablen Lage; Cem steigert sich in seine blinde Wut. Es ist unglaubwürdig, dass ein liebevoller junger Mann – so sieht man ihn oft im Umgang mit den Menschen im Pflegeheim –, der noch nie gewalttätig geworden ist, ein Foul auf dem Fußballplatz und eine für ihn mehr oder minder alltägliche rassistische Beleidigung so persönlich nimmt, dass er einen brutalen Rachefeldzug startet.

Die einzige Figur, die nicht auf Klischees beruht und tatsächlich weithin ignorierte gesellschaftliche Probleme aufdeckt, wird von Horst Westphal gespielt. Romans Großvater, nur Liebach genannt, ist in der DDR aufgewachsen, wurde dort antifaschistisch erzogen. Er weiß eine Menge über die linke Szene, die im Film dargestellt wird, von Luxemburg und Liebknecht zu Mohnhaupt und Baader. Und trotz alledem kann er nicht vergessen, dass sein Lieblingspfleger und fast schon ideologischer Spross Cem türkische Eltern hat; er wirft es ihm vor und charakterisiert ihn negativ als „Türken“. Pieper wirft hier tatsächlich Fragen auf, die er dem Zuschauer zur Überlegung und Beantwortung offen lässt, wie er es im Publikumsgespräch betont, anstatt wie bei den übrigen Figuren klare positive und negative Setzungen vorwegzunehmen.

Unbestritten sind die Hauptdarsteller durchweg gute Schauspieler: Frederick Lau spielt gekonnt den verdrossenen Faschisten, Mehmet Atesci mimt entsprechend den Rebellen und auch Aleksandar Tesla überzeugt als herzloser Kapitalist. Die flache Charakterisierung wird ihnen nicht gerecht.

Fußball spielt im Film, anders als der Titel suggeriert, kaum eine Rolle. Mehr als eine Gemeinsamkeit ist es der Rahmen für die erste Konfrontation der beiden Antagonisten. Erst die geteilte Abneigung gegen den „raffenden“ Kapitalisten Cali vereint sie: Roman kann über die Herkunft Cems hinwegsehen, da sie sich beide für ihren Kiez Neukölln stark machen, ihn auf ihre Art und Weise verteidigen. Auf dieser Ebene ist der Film tatsächlich als moderner Heimatfilm zu sehen, allerdings in einer durch Pieper gesetzten nationalistischen Weise, die keinesfalls harmlos ist, nicht erst seit den wiederkehrenden Gewaltverbrechen gegen Flüchtlinge in den letzten Monaten.

„Nachspielzeit. Das ist der Moment der Entscheidung, wo es eben keine Ausreden mehr gibt“, so der Regisseur. Das Happy End, das Pieper seinen Zuschauern anbietet, ist aber genau das: eine Ausrede, um der Entscheidung, was nun tatsächlich mit den Figuren passiert, zu entgehen. Nach der Explosion der Bombe sieht man alle Figuren glücklich im Pflegeheim tanzen, dazu laute verträumte Pianomusik und weichgezeichnete, fast leuchtende Bilder – eine Utopie.

„Nachspielzeit“ (Deutschland 2013/14)
Regie: Andreas Pieper
Drehbuch: Andreas Pieper
Darsteller: Mehmet Atesci, Frederick Lau, Frederike Becht, Jacob Matschenz, Aleksandar Tesla
Laufzeit: 84 Minuten

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

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