Funkenflug wie Sternenstaub

In Bea Diekers erstem Roman wird das „Vaterhaus“ zum Hauptdarsteller

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bea Diekers erster Roman „Vaterhaus“ ist ein sehr ungewöhnliches Buch. Denn in ihm ist das Haus der Familie nicht nur die Bühne für die in ihm Lebenden, sondern das Haus wird selbst zum Hauptdarsteller. Es verändert sich. Das Haus verleibt sich das Nachbarhaus ein, Wände werden durchbrochen, Anbauten vergrößern den Innenraum. Das Kaminzimmer schiebt sich vor die neue Küche, in die hernach kein Sonnenstrahl mehr fällt. Im Keller schaffen Erweiterungen und Umbauten zwischen „Urkeller“ und Partykeller „unterirdische Raumcluster“ mit „heimtückischen Versprüngen von Raum zu Raum“. Es scheint, als bewegten sich die Wände und als sei das Elternhaus lebendig.

In der Erinnerung der Autorin fügen sich Teile zusammen, die nicht zueinander wollen. Präzise erzählt Dieker vom Haus ihrer Kindheit, den Großeltern, dem Laden im Haus und dem Birnbaum, aber „das Kontinuum der Eindrücke ist ein brüchiges“. Entscheidend sind die mit den Eindrücken verbundenen Gefühle. Gegenstände werden als Symbole des Reinen und Unschuldigen aufgeladen. Auch eine wuchtige Schleifmaschine, die in der Werkstatt des Großvaters stand, wird romantisiert. Die Erzählerin erinnert sich an das „keuchende Aufjaulen, dann die in Boden und Knochen fahrende Wucht der Rotation“ beim Anwerfen der Maschine. Vom Schleifstein sprüht der Funkenflug wie Sternenstaub. Deutlich kann der Leser das Kind sehen, das von den Funken fasziniert dem Großvater beim Arbeiten zusieht. Solche Eindrücke und insbesondere die damit verbundenen Gerüche gehören sicherlich zu den nachhaltigsten Kindheitserinnerungen eines jeden. Wer erinnert sich nicht an den Geruch frisch gespitzter Bleistifte? Was einem Kind in die Nase steigt, wird damit zu Traum. Bei Dieker wird das Buntstifte-Anspitzen zu einer „heiligen Zeremonie“. Der Geruch des Graphits könne „Erhabenheit in die Stifte zaubern“ – sicherlich auch im Rückblick eines Erwachsenen, der sich den Blick auf die eigene Kindheit als Zentrum einer magischen Konfrontation bewahrt. Dieker zelebriert die Magie des Alltäglichen in der Kindheit. Eine Schallplatte aus ihrer Hülle zu befreien, sie auf dem Stift des Plattentellers zu platzieren und den Tonarm zu justieren, ist ihr rund drei Seiten des Romans wert – drei Seiten verdichteter Beobachtung und intensiven Eintauchens in eine längst vergangene Schellack-Welt.

Plötzlich umfängt die Erzählerin Schwindel und Angst vor Orientierungslosigkeit. Sie fragt sich: „Weiß ich das wirklich noch?“ Was ist Phantasie? Und an was möchte man sich nicht erinnern und kann es zu gut? Denn es bleibt nicht bei romantischen Garten-Großvater-Schallplatten-Bleistift-Erinnerungen.

Die Eingriffe in die Bausubstanz sollten das Leben der Familie verbessern. Das erfolgreiche Geschäft der Eltern brachte Wohlstand in das Haus und dieser musste sichtbar werden. Der Opel wich einem BMW. Der BMW als Symbol des Erreichten durfte direkt vor dem Eingang parken, um stets „seinem Auto ins Gesicht“ sehen zu können: dem „Fünfer“ – „motorisierter Kitt eines Menschenbündels ohne Geschichte“. „Schmalspurstolz“ sei das, ätzt die Erzählerin. Die immer neuen Umbauten sieht sie als „eine Weiterleitung von Warteschleife zu Warteschleife. Raum vor Raum vor Raum. Nie ankommen, nirgendwo.“ Als Folge bleiben auch Gewalt und Tod dem Haus nicht fern. „Dort, wo dem alten Haus seine Haut zu eng wurde. Wo dem Vater seine Haut zu eng wurde. Wo er hinausfuhr aus ihr.“ Der Vater war ein Choleriker. Er schlug seine Frau. Die Raserei des Vaters war unkontrollierbar. Diekers Schilderungen seiner Ausbrüche, der Gewalt gegen die Mutter, lassen die Hände des Lesers angsterfüllt schwitzen.

Als Grund wird die Arbeit genannt, gegen die der Vater nicht ankam. Sie wurde immer mehr. Der Stress nahm überhand. Nicht einmal zum Kauen blieb Zeit, berichtet die Erzählerin. Am Esstisch trugen die Eltern laute Streitereien aus. Als fünf DM in der Kasse fehlten, brach die Wut aus dem Vater heraus. „Nichts sagen. Wäre mir alles um die Ohren geflogen dann.“ „Wutwortbruchstücke“ nennt sie die Halbsätze, die ihr bei jedem Streit entgegengeschleudert wurden („Solange du deine Füße“ oder „Ungeheuerlich! Schluss! Basta!“). Determinativkomposita und Neologismen schaffen als Aufzählungen Atmosphäre, ohne dass sie immer ein Verb benötigen. Stakkatohaft feuert Bea Dieker mit Worten: die gestressten „Unverdautschlucker, Schluckaufhaber“, „Autokokon“, „Landphänomen“, die „Lebensüberladung“ und die „Überfütterung“, das Bild niedergetrunkener Köpfe auf dem Tresen des Partykellers, „Zungenschwere“, „flackernde Lachsalven“. Auf direkte Rede kann die Autorin ganz verzichten, denn obwohl im Haus ihrer Kindheit Worte „hin und her gingen“, „gab es niemals einen Austausch“.

Einzigartig ist die von der Autorin intendierte Atmosphäre. Der Leser befindet sich in einem scheinbar sich organisch verändernden, wuchernden Haus, sieht das Kind spielen und wie es aus dem Dachfenster schauend Wolken zählt, während der Vater die Mutter schlägt, die Oma tot „vom Klo“ fällt und das Blut des Großvaters lange auf den Waschbetonplatten im Garten zu sehen ist. Der Tod ist nahe. Die Beklemmung nimmt zu. Wie sich die in ihm lebenden Menschen mit dem Haus verändern, wie weiße Raufaser und kühler Steinputz ebenso wie HiFi-Anlage und Luxusauto die Beklemmung nicht auflösen können und den inneren Verfall noch beschleunigen, vermag zu fesseln. Das Schauspiel des alltäglichen Lebens in der Nachkriegszeit, als „das Mehr im Ort ankam“, könnte intensiver nicht sein – bis hin zu einem beängstigenden, tragischen Ende der ziellosen Suche. Subtil hält Bea Dieker dem Streben nach „mehr“ den Spiegel des Kindes vor, das nicht gewinnt, sondern immer mehr verliert – den Birnbaum, das Zimmer, den Großvater, den Zauber der Dinge – und sich von den Eltern entfremdet. Schließlich verliert die Herangewachsene die Bindung zum Haus und wird zu einem gelegentlichen Gast in Räumen mit ihr fremden Dingen. Bea Diekers erster Roman ist ein Kleinod und ein wahres Kunstwerk, das einen tiefen Blick in die deutsche Kleinbürgerseele erlaubt.

Titelbild

Bea Dieker: Vaterhaus. Roman.
Jung und Jung Verlag, Salzburg 2015.
111 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783990270745

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