Gegen die Geschwätzigkeit

Shuntarô Tanikawas „minimal“ lehrt über das Dichten, über sprachliche Reduziertheit und warum japanische Lyrik lesenswert bleibt

Von Christian ChappelowRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Chappelow

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Zahl japanischer Schriftsteller der Gegenwart, die sich in der internationalen Literaturlandschaft einen Namen gemacht haben, ist trotz der immer größer werdenden Menge von Übersetzungen wohl auch heute noch als eher gering zu bezeichnen – alleine ein kurzer Blick auf Werk und Person von Shuntarô Tanikawa reicht aus, um zu dieser Einschätzung zu gelangen. Bei der Lektüre des Kanons der in deutscher Übersetzung vorliegenden Werke, von den ästhetisch-modernistischen Entwürfen eines Yukio Mishima oder Yasunari Kawabata über die Ich-Roman-ähnlichen Dauerbrenner eines Kenzaburô Ôe bis hin zu den „postmodernen“ Bestsellern eines Haruki Murakami fällt dem an japanischer Literatur interessierten Leser auf, dass es eine regelrechte Dominanz der Prosa gibt, gegen die die Gegenwartslyrik aus Japan kaum mehr ihr dichtendes Wort erheben kann.

Oder vielleicht doch? Der neugierige Blick auf die zeitgenössische japanische Lyrik mag lohnend sein, wenn man einen der – in der letzten Zeit zahlreicher gewordenen – übersetzten Gedichtbände Tanikawas sowie insbesondere die im Mai dieses Jahres beim Schweizer Secession Verlag für Literatur erschienene Gedichtanthologie minmal in den Händen hält. Kurz vorweggenommen: Das Bild der japanischen Literatur der letzten Jahrzehnte wäre ohne das Werk Tanikawas nicht nur unvollständig, sondern auch ein ganzes Stück ärmer an Sprachkunst, Intelligenz und Humor. Tanikawa muss sich nicht verstecken, auch nicht hinter literarischen Größen wie Mishima, Ôe oder Haruki Murakami.

Die 30 Gedichte in minmal sind in ihrer inhaltlichen und motivischen Bandbreite vielfältig und sind geprägt durch kurz angeschnittene Sprachbilder: deskriptiv, impressionistisch und „ehrlich“. Tanikawas Verse entziehen sich gekonnt einer hermetischen und überladenen Metaphorik. Gepaart wird diese „offene“ Art des Dichtens in drei grob zusammenhängenden thematischen Blöcken aus je zehn Gedichten, jedoch mit einer strikten formalen Gestaltung in vier bis fünf Strophen aus jeweils drei Zeilen, was Tanikawas Selbstversuch als Dichter der modernen Schule mit der klassischen japanischen Kurzdichtung (Haiku) darstellt, wie dieser im kurzen Nachwort selbst konstatiert. Dem Resultat mangelt es trotz der Kürze jedoch nicht an Kunst: Das Gedicht „Lumpen“ zum Beispiel, das den Band eröffnet, schildert auf prägnante, ja fast „minimale“ Weise das Dichten selbst als eine flüchtige wie nie den Abschluss findende Tätigkeit, als Flicken. In die sprachliche Gestalt des Lumpengewands gesetzt gibt Tanikawa Einblicke in seine musische Beziehung zur Lyrik, seine lange und fast zehrende Liebe zur Dichtung und setzt den Ton für den gesamten Band.

Das Lumpengewand der Dichtung

Vor Tagesanbruch
kam
das Gedicht

in schäbige
Wörter
gehüllt

es gibt nichts
was ich ihm schenken könnte
werde nur selbst beschenkt

sein nackter Körper
flüchtig erspäht
durch die gerissenes Naht

wieder und wieder
flicke ich
an seinem Lumpengewand

In vielen Sprachbildern zeigt sich dabei Tanikawas Fähigkeit als Dichter, oft ist seine Poetologie selbstreferentiell und wird bisweilen selbst zum Thema in seinen Gedichten. Wie unter anderem in „Sich Verweigern“, das den Leser lehren möchte, dass es nicht die Dinge sind, die sich der Lyrik verweigern, sondern der Mensch selbst. Anonym und unspezifisch, tritt das lyrische Ich in minmal nur selten auf, und doch ist der Dichter Tanikawa immer präsent, indem er sich zurückhält.

Es sind das Nichtgesagte, das Geistesabwesende, die kleinen Nuancen und Andeutungen, die die melancholische Grundstimmung und Passivität des Beobachters setzen. „Vor Tagesanbruch kam das Gedicht“, und doch gibt es nichts, „was ich ihm schenken könnte“, heißt es dort. Tanikawa spielt geschickt damit, selbst nicht viel mehr als ein Zuhörer zu sein, der vom Dichten beschenkt wird. Lyrische Bescheidenheit, die 2015 Seltenheitswert trägt.

Der Gedichtband minmal erschien bereits 2002 in japanischer Erstveröffentlichung beim Lyrikverlag Shichôsha und ist wahrlich nicht der einzige nennenswerte lyrische Beitrag Shuntarô Tanikawas, der 1931 in Japans Hauptstadt als Sohn des Philosophen Tetsuzô Tanikawa geboren wurde. Bereits in seiner – größtenteils unbeschwerten – Kindheit widmete er sich der Lyrik. Angefangen mit seinem inzwischen sehr bekannten Gedichtband und Erstlingswerk Nijûoku kônen no kodoku (dt. „Die Einsamkeit von zwei Milliarden Lichtjahren“) gelang dem jungen Tanikawa früh der Durchbruch. Was folgte, ist eine Erfolgsstory der japanischen Nachkriegsliteratur mit mittlerweile deutlich über 100 Veröffentlichungen in Form von Gedichtbänden, Kinderbüchern, Prosa, Gesprächsrunden und Übersetzungen. Ans Aufhören denkt der inzwischen 83-Jährige trotzdem noch nicht. Es ist gerade Tanikawas Wandelbarkeit, die ihn auch heute zu einer produktiven wie wichtigen Gestalt der japanischen Gegenwartsliteratur macht. Seit kurzem widmet er sich verstärkt der modernen japanischen Kettendichtung renshi (glücklicherweise auch in deutscher Sprache verfügbar: Sprechendes Wasser, Secession Verlag 2012; Es geht fast immer ein Wind, Wolfbach 2015). Im Nachwort von minimal zitiert Tanikawa schließlich John Keats und sinniert darüber, ob der Dichter denn ein Chamäleon sei, ein „Nicht-Selbst“. So oder so darf man auf weitere Übersetzungen Tanikawas hoffen, egal in welcher Gestalt.

Dass Shuntarô Tanikawa überhaupt seinen Weg in die deutschen Buchregale gefunden hat, ist hierbei vor allem dem Japanologen Eduard Klopfenstein (Universität Zürich) zu verdanken, der für die deutschsprachigen Übersetzungen Tanikawas, so auch für minimal, verantwortlich ist. Aus langjährigem persönlichem Kontakt mit dem Dichter, Forschungsarbeiten und der Organisation von Veranstaltungen zur Kettendichtung hat Klopfenstein einmalige Einsicht in das Werk und Wirken Tanikawas außerhalb Japans erlangt, was sich in den präzisen Übersetzungen von dessen Sprachkunstwerk niederschlägt. Wer trotzdem einen Blick auf die Originaltexte werfen möchte, darf dies ebenfalls in der schön gestalteten, mehrfach aufklappbaren gebundenen Ausgabe von minimal tun.

Was bleibt, ist also ein weiterer Gedichtband des Spätwerks des wohl berühmtesten und bedeutendsten japanischen Lyrikers der Gegenwart in deutscher Sprache. minimal schafft es nicht nur, lyrisch-ästhetisch eine Meisterleistung zwischen traditioneller und moderner japanischer Dichtung darzustellen, sondern zeigt, dass moderne japanische Lyrik – gerade auch durch ihre Kürze – ebenso in deutscher Sprache „funktionieren“ kann. Auf die nächste Übersetzung des Großmeisters Tanikawa darf man auf jeden Fall mehr als nur ‚minimal‘ gespannt sein.

Titelbild

Takinawa Shuntaro: minimal. 30 Gedichte.
Deutsch und Japanisch.
Übersetzt aus dem Japanischen von Eduard Klopfenstein.
Secession Verlag für Literatur, Zürich 2015.
100 Seiten, 42,00 EUR.
ISBN-13: 9783905951226

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch