Gedanken einer siechen Kreatur

Der in Bagdad geborene Hassan Blasim versucht in „Der Verrückte vom Freiheitsplatz“ dem Schrecken mit drastischen Mitteln beizukommen

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Hassan Blasim, angenehm!“ Mit diesen Worten stellt sich ein Zuhörer seinem Gegenüber vor, das ihm soeben eine alptraumartige Geschichte erzählt hat. Eines Nachts, er war eben von einer Sauftour zurückgekehrt, fand er in seiner Wohnung einen Wolf vor. Alle Türen und Fenster waren verschlossen. Bereits entkleidet flüchtete er ins Badezimmer und verschanzte sich darin zwei Nächte lang – dann war das Untier auf einmal fort.

Die Geschichte spielt in Finnland, dem Land der gefräßigsten Mücken, wohin es den Autor Hassan Blasim auf seiner Flucht verschlagen hat. 1973 in Bagdad geboren verließ er die Stadt mit 25 Jahren, nachdem er dort mit einem Dokumentarfilm negativ aufgefallen war. Er fand im kurdischen Landesteil Zuflucht, unter Pseudonym drehte er weitere Filme. Als die Lage auch da kritisch wurde, begab er sich auf eine mehr als dreijährige Odyssee durch den Iran, die Türkei und den Balkan, um 2004 in Finnland Zuflucht zu finden. Zwei Bände mit Erzählungen liegen von ihm vor, die in deutscher Ausgabe unter dem Titel Der Verrückte vom Freiheitsplatz zu einem Band vereinigt worden sind. Übersetzt wurden sie von Hartmut Fähndrich, der den schrägen Geschichten ihren ungehobelten Duktus bewahrt.

Hassan Blasim ist kein poetischer Feingeist; in kurzen, oft absurden, meist brutalen Texten porträtiert er eine Gesellschaft in chaotischer Auflösung. Die Diktatur von Saddam Hussein, die Golfkriege, der Luftkrieg, die US-Besatzung und schließlich der Religionskrieg aller gegen alle haben die Normalität vergiftet und eine medial inszenierte Brutalität heraufbeschworen, für die „Off with his head“ (wie die Herzkönigin in Alice im Wunderland befiehlt) zum Standardrepertoire gehört. Es sind grauenerregende Vorkommnisse, die in seinen Geschichten geschildert werden. Beispielsweise von einem Leichenwagenfahrer (Archiv und Wirklichkeit), der entführt wird, damit er sich mit den sechs abgehackten Köpfen, die er im Wagen mitführte, in einem Dschihad-Video zeigt. Danach wird er von der einen zur nächsten Gruppierung weitergereicht, um für sunnitisch-islamistische, iranisch-zoroastrische oder saudische Videos zu posieren. Zuletzt kommt er frei und flieht. Oder von einem Lehrling, der eingewiesen wird in die verfeinerte Kunst, Leichen in der Öffentlichkeit wirkungsvoll zu präparieren (Die Leichenschau).

Der Tod ist hier allgegenwärtig, meist ist er der Willkür geschuldet wie in Killer und Kompass: Dem Erzähler wird von seinem Bruder demonstriert, wie er mit Angst Macht ausüben kann – bis hin zur sinnlosen Tötung, bloß um sich im Blick des ermordeten Subjekts wie Gott zu fühlen. Blasim lässt durchscheinen, dass die irakische Gesellschaft grundsätzlich krank ist. Am Beispiel der Frauen und vor allem der Mütter wird eine tiefer liegende Ungerechtigkeit sichtbar: „Seine Mutter war, wie die meisten irakischen Mütter, ein Wesen, über das man den Morast der Traurigkeit, der Ungerechtigkeit und der Einsamkeit ausschüttete“, und sie dafür bespuckte und schlug, heißt es in der Erzählung Alis Tasche. Der junge, scheue Flüchtling Ali fällt auf, weil er stets eine graue Tasche bei sich trägt. Darin stecken, wie sich zeigt, die Gebeine seiner geliebten Mutter, den Kopf ausgenommen, der auf der Flucht verloren ging. Um den Preis eines Selbstmordanschlags rettet auch der Erzähler in Der irakische Messias seine Mutter. Wie er sind etliche Ich-Erzähler längst tot, wenn sie erzählen und aus einem Himmelreich auf die Welt hinunterblicken. Brutalität und Zynismus werden immer wieder, wenngleich oft versteckt, aufgewogen durch ein letztes verzweifeltes Quäntchen Menschlichkeit.

So roh die Geschichten sind, so rau werden sie erzählt. Hassan Blasim schert sich um erzählerische Glaubwürdigkeit, er zieht harsche Brüche und absurde Logik vor, um seinem Gegenstand gerecht zu werden. Was andernorts negativ ins Gewicht fiele, wird hier zum stilbildenden Mittel. Beispielsweise im erwähnten Killer und Kompass, wo die Erzählung förmlich zerrissen wird durch einen unvermittelten Einschub. Vielleicht ist es gerade diesers retardierende Element, das die brüderliche Brutalität überhaupt erträglich macht.

Ganz im luftleeren Raum präsentieren sich diese Texte ohnehin nicht. Literatur, Lesen und Bücher sind immer wieder Thema, und der Erzähler ist in wechselnden Rollen stets als Ich anwesend, sein Erzählen respektive Schreiben drückt den Geschichten seinen Stempel auf. Gleich eingangs des Bandes stehen die Leute Schlange, um im Radio ihre Kriegsgeschichten zu erzählen (Das Lied der Ziegen). In Truppenzeitung wird ein Kulturredakteur von Texten eines toten Soldaten förmlich überschwemmt. Und eine der Figuren nennt sich Carlos Fuentes (Die Albträume des Carlos Fuentes), weil mit einem arabischen Namen im holländischen Exil kein Staat zu machen sei – doch die Spaltung führt zu einer grotesken Selbst-Auslöschung.

Einmal fällt auch der Name Kafkas (Der Mistkäfer), um an einen fernen literarischen Verwandten zu erinnern, in dessen „Kürzestgiften“ die irakische Krankheit einen Widerhall findet. In der darauf folgenden Geschichte (Warum schreiben Sie nicht gleich einen Roman?) folgt die Selbstreferenz: Ein Zuhörer sagt dem Erzähler Salim Hussain auf den Kopf zu, dass er lüge und eigentlich Hassan Blasim heiße und die Erzählung Killer und Kompass verfasst habe. Wobei es sich beim angeblichen Carlos Fuentes eigentlich um einen Salim Abdulhussain handle. Angesichts solcher Verwicklungen klingt es fast wie ein Witz, wenn der an Lungenkrebs erkrankte Erzähler in Das Fenster im fünften Stock berichtet, er schreibe an einer Magisterarbeit über fantastische Literatur: „ein Genre, das in der Literatur unseres Landes fehlte“. Blasims Geschichten sind geprägt von solchem Sarkasmus.

In einer Besprechung kritisierte der Arabist Stefan Weidner, das Buch liefere „einen Horrorfilm, in welchem der Schrecken zum Selbstzweck wird“. Dezent formuliert Blasim mit Sicherheit nicht, und im unverhüllten Schrecken liegt eine der Stärken seines Buches. Der abgetrennte Kopf ist ein sinnbildliches Leitmotiv für ein Land, dem Geist und Kultur abhandenkommen, was die Menschen in den kopflosen Irrsinn treibt.

Blasim spielt mit der grotesken Überzeichnung, zugleich hält er sich von jeglicher Skandalisierung fern, weil seine absurden, rabiaten Geschichten letztlich vor brutalem Voyeurismus gefeit sind. Sie benennen Vorgänge mit drastischen Mitteln, malen sie aber nicht ungebührlich aus. Eine Reflexion über das Schreiben im Irak mündet in die Einsicht, es sei „widerlich, ständig nach neuen Erfahrungen und neuen Orten zu suchen, um das immer Gleiche zu erzählen“ (Der Geschichtenmarkt). Und doch ist genau das der „Krebs, von dem ich nicht weiß, wie ich von ihm geheilt werden kann“, wie der Erzähler in Alis Tasche sagt.

In diesem Sinn hat auch die ungehobelte, zuweilen unfertig wirkende Erzählform ihre Berechtigung. Schönes hat Hassan Blasim nicht zu erzählen, nur schier unerträgliche Alpträume, die anderen Gesetzen als denen eines angenehmen Lebens folgen. Die Wahrheit ist ein vom Himmel gefallener, zersplitterter Spiegel, wie es beim Mystiker Dschalal al-Din Rumi heißt.

Titelbild

Hassan Blasim: Der Verrückte vom Freiheitsplatz. Und andere Geschichten über den Irak.
Übersetzt aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich.
Verlag Antje Kunstmann, München 2015.
256 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783956140587

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