Gedächtnis und Gemeinschaft

Ein Sammelband stellt das KZ Bergen-Belsen in vergleichender Perspektive vor

Von Constanze FiebachRSS-Newsfeed neuer Artikel von Constanze Fiebach

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auch wenn das ehemalige Konzentrations- und Kriegsgefangenenlager Bergen-Belsen seit über 60 Jahren „weltweit ein Symbol für die schlimmsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte“ ist, so sind die Forschungen, was dort geschehen ist und welche Funktion dieser Ort auch heute noch erfüllt, nicht beendet. In ihrem Sammelband „Das soziale Gedächtnis und die Gemeinschaften der Überlebenden. Bergen-Belsen in vergleichender Perspektive“ stellen die Herausgeber Janine Doerry, Thomas Kubetzky und Katja Seybold die Ergebnisse der gleichnamigen Tagung im Februar 2011 vor. Bereits die 32 Seiten umfassende Einleitung bietet nicht nur eine Einführung in den vorliegenden Band, sondern gibt darüber hinaus einen guten Überblick zu Thema und Forschungsstand.

In den insgesamt 13 Aufsätzen ist der Blick nicht ausschließlich in die Vergangenheit gewandt, sondern richtet sich ebenso auf die Gegenwart: In vier Abschnitten beschäftigen sich die versammelten Beiträge mit folgenden Themen: „Geschlechterspezifische Existenzbedingungen und Identitätsdiskurse“, „Überlebendengedächtnis und nationale Mythen“, „Internationale Überlebendenverbände“ sowie „Erinnerungsgemeinschaften und Gruppengedächtnisse“. Die Autoren zeigen auf, aus wie vielen Perspektiven der Holocaust bis heute betrachtet werden kann und sollte. Sie bringen neue Erkenntnisse ans Licht und beleuchten Aspekte des Lagers Bergen-Belsen und darüber hinaus der Shoah, die in der bisherigen Forschung größtenteils außer Acht gelassen wurden wie beispielsweise die geschlechterspezifischen Mortalitätsraten in Konzentrationslagern (Beitrag von Andrea Rudorff und Claus Füllberg-Stolberg). Dass bestimmte Aspekte bisher kaum Beachtung fanden, war teils den geschichtlichen Umständen geschuldet, denn das „soziale Gedächtnis der Überlebenden“ war „zunächst weitgehend verdrängt. Die meisten Überlebenden waren in der Nachkriegszeit zunächst vor allem mit dem Aufbau familiärer, beruflicher und sozialer Normalität beschäftigt“. Ebenso trugen und tragen bis heute die „Konflikte […] von Erinnerungspolitiken“ seit 1989/90 dazu bei, dass „die gemeinschaftliche Erinnerungsbildung der Überlebenden verschiedener Konzentrations- und Kriegsgefangenenlager“ ein bislang wenig beachteter Aspekt der Nachgeschichte der Verfolgung und Vernichtung durch die Nationalsozialisten ist.

Obwohl der überwiegende Teil der Autoren in der Geschichtswissenschaft beheimatet ist, kann dieser Sammelband interdisziplinär nutzbar gemacht werden, da sich die Verfasser den „Wechselbeziehungen zwischen einzelnen Überlebenden, kleineren Gemeinschaften und übergreifenden Verbänden einerseits und den Faktoren Geschlecht, nationale Erinnerungskulturen, transnationale Erinnerungspolitik und Gruppengedächtnis andererseits“ zuwenden, womit sie ein breites Spektrum an Themengebieten abdecken. 

Neben der Frage der Erinnerung geht es im Sammelband auch um die Frage des Vergessens. Konflikte innerhalb der Erinnerungskulturen werden ebenso sichtbar gemacht wie Gründe für die Durchsetzung beziehungsweise Nichtdurchsetzung bestimmter Erinnerungen. Zudem werden die unterschiedlichen Entwicklungslinien nationaler Erinnerungspolitiken diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs deutlich. Auch das junge Phänomen der medialen Präsenz von Zeitzeugen wird mit einbezogen. Der Sammelband bietet vielfältige und facettenreiche Informationen, die weit über die Geschichtswissenschaft hinaus von Bedeutung sind und einen wertvolle Beitrag zur Holocaust-Forschung leisten.

Titelbild

Thomas Kubetzky / Janine Doerry / Katja Seybold (Hg.): Das soziale Gedächtnis und die Gemeinschaften der Überlebenden. Bergen-Belsen in vergleichender Perspektive.
Wallstein Verlag, Göttingen 2014.
288 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783835311893

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