Rache hat keine Eile

Der Ire Seamus Smyth thematisiert in einer grandios-zornigen Vergeltungsgeschichte den Missbrauch in katholischen Waisenhäusern

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Irland der späten 1950er-Jahre ereilt ein Zwillingspaar das gleiche Schicksal wie viele Kinder ihrer Zeit und ihres Landes: Weil die Familie, in die die Brüder hineingeboren werden, bitterarm ist, gibt man sie in ein katholisches Waisenhaus. Allerdings übersteht nur einer der beiden Jungen die Zeit unter den Klosterbrüdern. Der andere stirbt an den körperlichen und seelischen Misshandlungen, die in der christlichen Einrichtung an der Tagesordnung sind. Red Dock, wie sich der überlebende Zwilling nennt, schwört deshalb Rache an allen, die er für den Tod des Bruders mitverantwortlich macht. Und er hat es keineswegs eilig, seinen raffiniert ausgeklügelten Plan in die Tat umzusetzen.

Seamus Smyth, 1952 in Belfast geboren, wurde auf den Missbrauchsskandal in der irischen katholischen Kirche durch eine Sendung im Fernsehen aufmerksam. Über Jahrzehnte hinweg waren Tausende von Kindern in vom Klerus betriebenen Waisenhäusern, Erziehungsheimen und Arbeitsschulen systematisch ausgebeutet, misshandelt und sexuell missbraucht worden. Nachdem der Skandal 1999 ans Tageslicht gekommen war, entschuldigte sich der irische Premier öffentlich bei den Opfern. Aber erst die ein breites Echo in der Bevölkerung findende Fernsehdokumentation „States of Fear“ sorgte dafür, dass die Vorgänge von einer Untersuchungskommission aufgeklärt wurden.

Aus der Frage, die sich wohl viele Iren damals stellten, wie es möglich war, dass Familien ihre Kinder an Institutionen auslieferten, in denen Jungen wie Mädchen auf brutal-rücksichtlose Weise ihrer Würde und ihres menschlichen Fühlens beraubt wurden, entwickelte Smyth den Plot seines zweiten Romans „Spielarten der Rache“. Red Dock verlässt das Waisenhaus mit einem Vergeltungsplan im Kopf, an dem er seit seinem neunten Lebensjahr gearbeitet hat. Skrupel- und gewissenlos benutzt er, um sein grausames Vorhaben in die Tat umzusetzen, dieselben Methoden, mit denen man ihn einst als Kind brach und in seiner Menschlichkeit zerstörte. Gerade diejenigen, die ihn seinen Peinigern auslieferten, sollen dabei genauso leiden, wie er gelitten hat. 

„Spielarten der Rache“ verflicht drei unterschiedliche Erzählperspektiven miteinander. Da ist zum einen diejenige von Red Dock. Der nach seinem Waisenhausaufenthalt in die Unterwelt Dublins Abgetauchte erscheint darin mit allen Wassern gewaschen. Coolness und Abgebrühtheit prägen die Art und Weise, wie er die Leser anspricht: „Sie wollen Millionär werden? Dann Finger weg von der Erwerbsarbeit. Fünfzig Jahre im Hamsterrad und bevor Sie sich versehen, gräbt irgendein Arsch ein Loch und schmeißt Sie hinein.“ Die zweite Erzählstimme ist die von Lucille Bell, die von Red als Baby entführt und auf denselben Weg gebracht wird, den er hinter sich hat. Sie ist das Instrument seiner Rache und nicht zufällig ausgesucht: Ihr Vater hat Red Dock und seinen Bruder einst als Polizist im Waisenhaus abgeliefert. Nun braucht er Lucille, um der Justiz eine Schuldige für die Taten zu präsentieren, mit denen er sich an den Überlebenden seiner eigenen Familie rächt – einem älteren Bruder und zwei älteren Schwestern.

Dritter und Letzter im Bund der Ich-Erzähler ist schließlich Cornelius Hockler, ein Serienmörder, der im selben Waisenhaus aufwuchs wie die Dock-Zwillinge. Weil er sich als Künstler sieht und seine weiblichen Opfer, nachdem er sie auf grausamste Weise getötet hat, malt und die dilettantischen Bilder sogar Galerien anbietet, hat ihm die Sensationspresse den Namen „Picasso“ gegeben. Durch Zufall kreuzt er Red Docks Pfad der Rache und wird von diesem kaltherzig instrumentalisiert.

Die deutsche Übersetzung von Seamus Smyths schockierendem Buch haben Ango Laina und Angelika Müller nach dem irischsprachigen Originalmanuskript des Autors vorgenommen. Es trägt den schlichten Titel „Red Dock“. Auf welch abenteuerlichen Wegen Frank Nowatzki, Chef des kleinen, aber feinen PULP MASTER Verlages in Berlin, an Text und Autor gekommen ist, erzählt er in seinem informativen Vorwort, dem auch zu entnehmen ist, dass „Red Dock“ irischen Verlagen bisher offenbar zu heiß war. Für Leser hierzulande aber hält das Buch, das nicht einen positiven Helden hat, die Entdeckung eines Autors bereit, der nach eigenem Bekunden das Krimigenre nur als Transportmittel benutzt, um auf gesellschaftliche Missstände in seiner Heimat aufmerksam zu machen. Und das tut er auf eine Weise, die man nicht so schnell vergisst.         

Titelbild

Seamus Smyth: Spielarten der Rache.
Übersetzt aus dem Englischen von Ango Laina und Angelika Müller.
Pulp Master Verlag, Berlin 2014.
266 Seiten, 13,00 EUR.
ISBN-13: 9783927734616

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