Wenn das Innerste zerfällt

In ihrem Erinnerungsbuch Starke Sonne, schwacher Mond rekonstruiert Molly McCloskey das Leben ihres an Schizophrenie erkrankten Bruders und reflektiert dabei die eigene krisenhafte Vergangenheit

Von Paula BöndelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Paula Böndel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Molly McCloskey, die vielfach ausgezeichnete amerikanische Autorin, die seit 1989 in Irland lebt, noch im Kindesalter war, erkrankte ihr vierzehn Jahre älterer Bruder Mike an paranoider Schizophrenie. Als Erwachsene hatte die Autorin keine klare Erinnerung mehr an ihren Bruder vor der Zeit, als sich bei ihm die ersten Anzeichen einer Krankheit bemerkbar machten, die alle Hoffnungen auf ein erfolgreiches Leben, für das er so prädestiniert schien, zerstörte. Über 30 Jahre später erhielt McCloskey von ihrer Mutter eine Briefsammlung, die etwa 40 Jahre ihrer Familiengeschichte umspannt. Zu jener Zeit hatte die Autorin eine Reihe krisenhafter Lebenssituationen hinter sich, in denen sie die Angst durchlebte, ebenfalls an Schizophrenie zu erkranken. 2006 beschloss sie, der Geschichte von Mike nachzugehen, und veröffentlichte 2011 Circles Around the Sun. In Search of a Lost Brother, das im selben Jahr von „The Sunday Times“ zum „Memoir of the Year“ gewählt wurde. Seit kurzem liegt das Buch auf deutsch bei Steidl unter dem Titel Starke Sonne, schwacher Mond in Hans-Christian Oesers gewohnt treffsicherer Übersetzung vor.

McCloskeys Erinnerungsbuch ist nicht ihr erster Versuch, sich schreibend der Krankheitsgeschichte ihres Bruders zu nähern. Sie hatte zuvor bereits Zeitungsartikel über Schizophrenie verfasst und 1994 mit einem Familienroman begonnen, den sie allerdings wieder aufgab. Bei der Lektüre der Briefe spürte sie den deutlichen Wunsch, „zu verstehen, wer Mike gewesen war, bevor er erkrankte, und wer er jetzt war“. „Und ich wollte verstehen,“ – schreibt sie weiter – „wie das, was ihm widerfahren war, sich auf die anderen Mitglieder meiner Familie ausgewirkt hatte und ob und wie es sich mit unseren eigenen Geschichten, Ängsten und psychischen Verwerfungen in Zusammenhang bringen ließ.“

Wer ist Mike McCloskey? Um dies herauszufinden, begab sich die Autorin auf Spurensuche. Auf ihren vielen Reisen – zu jener Zeit lebte sie eine Zeitlang im Kosovo, arbeitete für die Vereinten Nationen in Kenia und ließ sich dann für eine Weile in Paris nieder – dienten die Briefe „als Gedächtnisstütze und als Rohmaterial für Mikes Geschichte“. Die Briefe riefen aber auch die Orte, an denen sie geschrieben wurden, und die Menschen, die in ihnen vorkamen, in der Erinnerung der Autorin wach. In den nächsten Jahren durchforstete McCloskey alte Fotografien, unterhielt sich ausführlich sowohl mit Familienangehörigen, besonders mit ihrer Mutter, als auch mit ehemaligen Freunden und Bekannten ihres Bruders und besuchte die Orte, an denen die Familie gelebt hatte. Aus den vielen Erinnerungen, Korrespondenzen und Bildern, die ihr zur Verfügung gestellt wurden, rekonstruierte sie die Geschichte ihres Bruders, in die auch gleichsam die „Dramaturgie“ der McCloskey-Familie eingewoben ist.

Diese galt als Vorzeigefamilie. Der Vater, Jack, Veteran des Zweiten Weltkriegs und ein bekannter Basketballtrainer, und die Mutter, Nita, eine außergewöhnlich schöne Frau, entsprachen so sehr dem Idealbild der Nachkriegszeit, dass ihnen die Zeitschrift „Ladies Home Journal“ im September 1953 die Titelgeschichte, einen vierzehnseitigen Artikel mit zahlreichen Fotos, widmete. Zu dieser Zeit war Mike drei Jahre alt. Beim Betrachten der Bilder aus seiner Kindheit erscheint es seiner Schwester, „als sei er in einen Sonnenstrahl getaucht“, aber schon lange bevor sie sich intensiv mit seinem Leben auseinanderzusetzen begann, war sie der Überzeugung gewesen, „dass sein Leben früher einmal all das verkörpert hatte, was in der gemeinsamen Anfangszeit meiner Eltern gut und verheißungsvoll gewesen war“. Auch sieht die Autorin in Mikes Geschichte die Geschichte ihrer Eltern und ihrer Familie widergespiegelt: „Er war der Nachkriegstraum und dann der Verlust dieses Traumes, und die Periode seines Zerbrechens war dieselbe Periode, in der uns als Familie alle Gewissheit abhandenzukommen schien.“

Im Herbst 1968 nimmt Mike McCloskey sein Studium an der angesehenen Duke University in North Carolina auf. Er ist das älteste von sechs Kindern, etwas ernst und introvertiert, aber auch beliebt, gutaussehend und ein erfolgversprechender Athlet. Seine Schulleistungen sind so herausragend, dass er Angebote von zahlreichen Colleges erhält. Er entscheidet sich für das Begabtenstipendium der Duke University. Dort möchte er Psychologie studieren und in der Basketballmannschaft spielen.

Die Jahre, die er an der Universität verbringt, sind auch die Jahre, in denen die USA von gravierenden sozialen Veränderungen geprägt werden: Demonstrationen für die Rechte der schwarzen Bevölkerung und Proteste gegen den Vietnamkrieg sind an der Tagesordnung. Mit dem Fortschreiten des Kriegs nehmen sie an Radikalität zu, mancherorts eskaliert die Gewalt. Es ist auch die Zeit des Drogenkonsums und des Drogenmissbrauchs. Mike beginnt, in großen Mengen Dope zu rauchen. Seine akademischen Leistungen sind immer noch hervorragend, und eine Zeitlang führt er eine Art Doppelleben, zugleich „kichernder Kiffer und sittenstrenger Sohn“. Seine Eltern bemerken die Veränderung in seinem Verhalten, schreiben dies aber dem „Geist der Zeit“ zu. Erst als er 1973, ein Jahr nach seinem Abschluss an der Universität, von monatelangen Streifzügen nach Hause zurückkehrt und ein bizarres Verhalten an den Tag legt, konsultieren sie einen Psychiater. Der diagnostiziert Schizophrenie.

Dieses „hässliche Wort, das Wort, das ihren Sohn fortan definieren, beschreiben und umschreiben wird“, stellt die Eltern vor die schwierige Frage: „Was ist passiert?“ Während der Vater Mikes Zustand auf den Missbrauch von harten Drogen zurückführt, fragt sich die Mutter, ob die Ursachen für seinen Zusammenbruch dem familiären Umfeld oder gar ihrem eigenen Verhalten geschuldet sein könnten. Für Mike markiert die Diagnose den Beginn eines Lebens zwischen Klinikaufenthalten, ziellosem Umherstreifen sowie gescheiterten Versuchen, die Kontrolle über sein Leben wiederzuerlangen. Zwar führen die Antipsychotika zunächst zu einer Stabilisierung, was der Familie Anlass zur Hoffnung gibt, dass er allmählich genesen wird, doch Mike wird nicht wieder gesund. Zur Zeit der Entstehung des Erinnerungsbuchs seiner Schwester lebt er mit anderen psychisch erkrankten Menschen in einer Wohngemeinschaft zusammen, die von einem Sozialarbeiter betreut wird.

Molly McCloskey erzählt das Leben ihres Bruders in chronologischer Folge; eingewoben in diese linear verlaufende Geschichte ist auch die Geschichte ihrer Eltern, deren Ehe nach 28 Jahren zerbrach, sowie Ereignisse aus dem Leben ihrer anderen Geschwister, besonders ihres Bruders Steve, dem es nach einer Periode schweren Alkoholmissbrauchs gelang, sein Leben wieder in geordnete Bahnen zu lenken. Ebenfalls eingebettet in die Chronologie der Ereignisse ist die Geschichte ihrer eigenen „Dämonen“, die die Autorin lange Zeit verfolgten und sie an der Beständigkeit ihrer psychischen Gesundheit zweifeln ließ: „Im Herbst 2000 hatte ich mich von der Vorstellung dauerhaft möglicher geistiger Gesundheit verabschiedet und litt entsetzliche Angst, dass es nun tatsächlich damit vorbei war.“

Die Beziehung zwischen der Autorin und ihrem kranken Bruder war ambivalent. Zur Zeit seiner Diagnose ist sie neun Jahre alt, und sie tut das, was viele Kinder tun, wenn sie von einer familiären Situation überfordert sind: Sie verdrängt und erfindet für sich eine erträglichere Version der Geschichte. In ihrer „Welt des Nichtwissens“ fühlt sie sich zu Mike hingezogen und gleichzeitig von ihm abgestoßen. Manchmal quält sie ihn mit kindlichen Streichen oder wünscht sich, er möge einfach verschwinden. Oft fühlt sie sich durch sein sonderbares Verhalten herabgewürdigt. Zeitweise, während sie im Ausland lebt, vergisst sie sogar, dass es ihn noch gibt. Doch holen die verdrängten Gefühle der Kindheit sie später wieder ein. Es folgen Jahre des Alkoholmissbrauchs und der Depression, und immer wieder sieht sie Parallelen zwischen ihrem Leben und dem ihres Bruders.

Molly McCloskey verwebt die verschiedenen Schicksalsfäden zu einer offenen, mutigen und auf leise Art bewegenden Geschichte. Mit Empathie gelingt es ihr, sich in das Leben ihres Bruders einzufühlen, ohne sich anzumaßen, dass sie in seine Gedankenwelt vordringen oder sein Leiden in ganzem Ausmaß darstellen könnte. Sorgfältig, nachdenklich tastend, aber immer präzise und mit höchster Anschaulichkeit formulierend, nähert sie sich einer heute noch rätselhaften Krankheit und führt dabei eindringlich vor Augen, welch zerstörerische Auswirkungen sie auf das Leben ihres Bruders hatte. Starke Sonne, schwacher Mond ist ein Buch, das seine Wirkung langsam entfaltet. Man liest und versteht.

Hinweis der Redaktion: Der Beitrag ist seit dem 12.1.2016 auch bei Literatur Radio Bayern zu hören.

Titelbild

Molly McCloskey: Starke Sonne, schwacher Mond. Eine wahre Geschichte.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Hans-Christian Oeser.
Steidl Verlag, Göttingen 2015.
336 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783869309439

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