Der Mensch an den Grenzen seiner Verlorenheit

In „Skip“ öffnet Katharina Hacker eine Schatztruhe voller Geschichten und Mysterien

Von Ulrike SchuffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrike Schuff

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Er beginnt ganz unspektakulär, wie ein Bericht: „Skip“, der neue Roman von Katharina Hacker, der so heißt wie sein Protagonist, der israelisch-französische Architekt Skip Landauer, der als junger Mann nach Israel ausgewandert ist. Kurz und knapp lässt Hacker ihren Protagonisten und Ich-Erzähler die Lebenswege von Eltern, Großeltern und auch den eigenen beschreiben, ein nüchterner Abriss, der jedoch schnell zur Ouvertüre eines philosophischen Romans wird, in dem die großen Fragen nach dem Leben und dem Tod gestellt werden. Es geht darum, wie man sein Leben verbringen sollte – und wo –, was es heißt, aus dem Leben gerissen zu werden und sterben zu müssen, und wie man den Schritt vom Leben in den Tod bewältigt. Denn nicht nur ist in einem Land wie Israel, wo Terroranschläge zur Tagesordnung gehören, der Tod allgegenwärtig – Skip selbst ist auserwählt (von welchen Mächten auch immer), Sterbende vom Leben in den Tod zu begleiten, ihnen durch seine pure Anwesenheit beizustehen. Ohne zu wissen, wie ihm geschieht, verspürt er den Zwang, an bestimmte Orte zu reisen, etwa Paris oder Amsterdam,  und Sterbenden – meist Opfer größerer Katastrophen oder Unfälle – zu helfen, indem er zum Zeugen ihres Sterbens wird. Das ist das mythisch-mystische Setting der Autorin und der Hintergrund eines Romans, der hauptsächlich in Israel, in Tel Aviv vor dem Attentat auf Jitzchak Rabin spielt, in einer Zeit „vor der Hoffnung“, die sich in den Jahren danach in „Hoffnungslosigkeit“ verwandeln sollte.

Und so wie Skip – unfreiwillig – zwischen Leben und Tod wandelt, als eine Arte „Bote“ oder „Mittler“, so steht er auch sonst im Leben eher im Vagen, Unwägbaren, im Dazwischen oder in einer Art Leere. Als eingewanderter Israeli, als halber Jude, als nicht leiblicher Vater seiner Söhne, als „ein halber Mann, ein halber Liebhaber, halber Gefährte“ fühlt sich Skip heimatlos, nie ganz zugehörig. Seine Frau Shira behauptet, ihm fehle das echte Interesse an ihrem gemeinsamen Leben und das Bewusstsein, wie kostbar und zugleich gefährdet ihr Alltag ist. Genau diese Nichtzugehörigkeit ist der Ort der Narration – die Suche nach dem, was ein Leben ausmacht.

Gleich zu Beginn erfährt man, dass die Frage „gehen oder bleiben“, die sich viele Israelis  stellen, entschieden ist, sowohl für Skip, der mit seiner Freundin Zipora nach Berlin zieht, als auch für seine Söhne, die nach dem Militärdienst in England studieren. Shira ist zu diesem Zeitpunkt schon vor vielen Jahren an Krebs gestorben. Zwar hat Skip, der von sich selbst behauptet, gar kein richtiger Architekt zu sein, weil er keine neuen Häuser baut, sondern nur alte renoviert und ausbaut, für seine Famile ein schönes Zuhause geschaffen, aber die Entfremdung zwischen ihm und Shira konnte er nicht überbrücken. Die vielen verpassten Gelegenheiten zur Wiederannährung ließ Skip ungenutzt verstreichen. Einige innige Momente gab es zwischen den beiden jedoch auch: zum Beispiel die schweigsame Intimität, in der sie während Shiras Krankheit immer auf derselben Bank in einem kleinen Park nebeneinandersaßen, oder die nächtliche Fahrt auf der Vespa durch die Stadt und das Picknick auf der Baustelle eines seiner Renovierungsprojekte.

Überhaupt sind es die unspektakulären, alltäglichen Dinge, die letztlich das Glück ausmachen:  etwa das gemeinsame Essen mit den Söhnen und Freunden, die Spaziergänge am Strand und das Baden im Meer oder die vielen Mahlzeiten mit den palästinensischen Handwerkern, die Skip nicht nur immer wieder für seine Projekte anheuert, sondern mit denen er sich teilweise auch anfreundet – und so sind die Tage, an denen „nichts Sonderliches geschieht, die glücklichen Tage“. Das wird Skip erst im Rückblick klar, während er in der Gegenwart oft nicht darauf achtet, wie die Tage vergehen. Er verliert nicht nur ihm einst wichtige Menschen, sondern auch sich selbst zunehmend aus den Augen – und sieht dabei, über sich selbst rätselnd, stillschweigend zu.

Skip ist ein sperriger Held, der nicht recht zu fassen ist, so wie er selbst sich nicht richtig zu fassen bekommt. Einer, der sich große Fragen stellt – zum Beispiel die, wie das richtige Zusammenleben aussehen könnte – und doch seine Freunde einfach „vergisst“, dessen großes Talent es ist, Häuser zu gestalten, in denen Menschen gut und zufrieden leben können, Häuser, in denen er erfüllt und glücklich ist, solange sie Baustellen sind, in denen er selbst aber nicht wohnen wird und die letztlich bloße Anlageobjekte im Zuge einer rasanten Gentrifizierung sind – erst in Tel Aviv, später auch in Berlin. Der Protagonist leidet unter den Lücken und „Fehlstellen“ der Erinnerung, da sich nicht herausfinden lässt, was geschehen ist. Einiges jedoch will er auch gar nicht so genau wissen, beispielsweise, was aus dem palästinensichen Arzt geworden ist, der Shira während ihrer Krankheit so sehr geholfen hat und der unter anderem wohl deshalb im Gefängnis saß. So sind es vielleicht eher Auslassungen beziehungsweise die Verdrängung, die es möglich macht, dass Gaza (mit seinen köstlichen, bitteren Oliven, den süßen Melonen) zum Inbegriff der Sehnsucht wird für den „halben“ Israeli, der am Strand von Gaza begreift, „wie das Land gemeint war“ – allerdings ist es auch hier, wo er beinahe ertrinkt. So gehört das Auslassen zwar zum Helden – „Skip. Der, der einen Schritt auslässt, hüpft“ –, aber nicht zum Roman selbst, der ja genau diese Auslassungen und Widersprüche als solche thematisiert.

In einem Interview sagte Katharina Hacker, dass es auch persönliche Erinnerungen an ihre Zeit in Israel (von 1990 bis 1996) waren, die in den Roman eingeflossen sind: „Das ist wie so eine kleine Truhe, die man mit sich trägt. Und in der man Sachen aufbewahrt. Und irgendwann macht man sie auf und sagt: ‚Das möchte ich wirklich noch einmal beschreiben‘“. Die Bilder dieser Erinnerung lassen eine vergangene Epoche lebendig werden. Mit großer erzählerischer Kraft lässt Hacker Geräusche, Gerüche und Geschichten erstehen, den Lärm der Stadt, ihr immerwährendes „Gemurmel“. „Überall gab es Geschichten“, heißt es an einer Stelle, „solche, die man erzählt bekam, solche, die man selbst miterlebte, wieder andere, die sich nur andeuteten“. Auch die mythisch-überhöhten Figuren sind Bestandteile dieses poetischen Szenarios: der „Schutzgeist“ Matijahu, der Vorbesitzer des Hauses in Newe Zedek, die Katze, die nur manche Menschen sehen können, der sterbende Esel auf dem ehemaligen Müllberg, der philosophierende Fischhändler Chajim, der sich außer für Fische für das Geheimnis der ersten Morgenstunden interessiert, „für das Zwielicht und die Dunkelheit gerade vor dem Zwielicht, für das, was dem Menschen geschah, wenn er an die Grenzen seiner Verlorenheit stieß“.

Genau an dieser Grenze bewegt sich der Roman, der manche der Lücken (in Skips Wahrnehmung und Erinnerung) schließt, andere erst schafft und manche so stehen lässt, wie die letzte, noch immer nicht ausgepackte Kiste aus Skips Elternhaus, die verschlossenen, frankierten und nie abgeschickten Briefe Skips und nicht zuletzt das ungeöffnet bleibende Schreiben mit dem Ergebnis des Vaterschaftstests, der zeigen sollte, ob Skips Söhne wirklich seine Söhne sind. „Immer überwiegen die unbeantworteten Fragen“, stellt Skip fest. Und das sollen sie wohl auch.

Hinweis der Redaktion: Der Beitrag ist seit dem 29.12.2015 auch bei Literatur Radio Bayern zu hören.

Titelbild

Katharina Hacker: Skip. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015.
384 Seiten, 21,99 EUR.
ISBN-13: 9783100300652

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