Von der Revolution zur praktischen Politik

Die „Lebenserinnerungen“ des Carl Schurz beschreiben eine eindrucksvolle deutsch-amerikanische Entwicklungsgeschichte

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zu Carl Schurz‘ Tode schrieb Mark Twain einen Nachruf: den Verstorbenen verglich er, was bei Twain Ausdruck großer Hochachtung war, mit den Lotsen auf dem Mississippi. Sie waren es, die die schweren Dampfschiffe sicher durch die Untiefen des Wassers lotsten, ihnen brachte man Vertrauen entgegen, auf dass sie den richtigen Weg fanden. „Ich möchte nur“, so endete Twains am 26. Mai 1906 in Harper’s Weekly erschienener Nachruf, „dieses kurze Wort der Huldigung und Verehrung für ihn sprechen als von einem dankbaren Schüler in Staatsbürgerschaft an den Lehrmeister, der nicht mehr ist“.

Twains Lotsenbruder und Lehrmeister Carl Schurz war ein Amerikaner aus deutschen Landen. Genauer, aus preußischen Landen, denn Liblar, ein Ort unweit von Köln, wo Schurz 1829 geboren wurde, gehörte seit dem Wiener Kongress 1815 zur preußischen Rheinprovinz. Gestorben war er 77-jährig in New York. Sein Leben repräsentiert eine deutsch-amerikanische Tradition, die heute zumindest in Deutschland beinahe völlig vergessen ist. Schurz gehörte zu den vielen Enttäuschten, die nach dem gescheiterten demokratischen Aufbruch 1848/49, in Deutschland symbolisiert durch die Paulskirchenversammlung, und der gewaltsamen Wiederherstellung der Fürstenherrschaft in Europa, ins Exil nach Amerika gegangen waren. Dort schien möglich, was in der ‚alten Welt‘ unmöglich war – eine aufgeklärte, freie demokratische Republik: Ubi libertas, ibi patria („Wo die Freiheit ist, dort ist mein Vaterland“). Unter diesem Motto engagierten sich viele der Auswanderer für den Staat, in dem sie eine neue Heimat finden wollten. Man nannte sie die „Forty-Eighters“. Unter ihnen spielten die „Dutch“, die Deutschen, eine hervorgehobene Rolle. Im Bürgerkrieg standen sie an der Seite des Nordens für ein Ende der Sklavenhaltung des Südens, im zivilen Leben beeinflussten sie in vielerlei Funktionen die öffentliche Meinung und Politik der Vereinigten Staaten. Bis heute sind ihnen in den USA Gedenkorte gewidmet. So auch besonders Carl Schurz: An ihn, der es bis zum Senator und US-Innenminister brachte, erinnert in New York das 1913 errichtete Carl-Schurz-Memorial mit der Inschrift „Carl Schurz / Soldier – Statesman / Philanthropist / 1829–1906“. Gestaltet wurde die überlebensgroße Bronzestatue des Geehrten ebenfalls von einem Immigranten. Der Bildhauer Karl Bitter war einstmals aus Österreich nach Amerika gekommen.

Die „Lebenserinnerungen“ des Carl Schurz erschienen in deutscher Sprache erstmals 1906. Von den fast zeitgleich erschienenen „Reminiscenes“ der amerikanischen Ausgabe unterschieden sie sich durch gewisse ‚pädagogische Kürzungen‘ fürs deutsche Publikum, die die Tochter Agathe Schurz vorgenommen hatte. Sie sind nun in der vorliegenden neuen zweibändigen Ausgabe der „Lebenserinnungen“ im Anmerkungsteil sorgsam aufbereitet und sinnfällig verbunden mit Auszügen aus der Korrespondenz von Schurz und weiteren Texten, die sich auf die geschilderten Ereignisse beziehen. Die „Lebenserinnungen“ umfassen im ersten Band die Jahre der Kindheit und Jugend bis 1852. Der zweite Band beginnt mit der Ankunft Schurz‘ in Amerika und endet im Jahr 1870, nachdem er zum Senator des Staates Missouri gewählt worden war. Ein dritter Band war vorgesehen.

Schurz ist ein ausgezeichneter Erzähler und so sind die gesamten Lebenserinnerungen eine angenehme Lektüre. Sprachgewandt weiß er die unmittelbaren Ereignisse immer wieder mit allgemein reflektierenden Passagen zu politischen Grundsatzfragen, Interpretationen, Haltungen oder auch seiner eigenen Intentionen zu verknüpfen. So erfüllt er in diesen Aufzeichnungen einen Anspruch, der ihm auch im politischen Leben wichtig war: Er schafft Transparenz. Ein Beispiel: Eine Unterhaltung mit Bismarck, den er im Jahre 1866 trifft, gibt Schurz in weiten Teilen in direkter Rede wieder, um den „Inhalt seiner Reden in knapper Form“ wiederzugeben. Zugleich bemerkt er aber: „ich erhebe keinen Anspruch darauf, seine Redeweise getreu wiedergegeben zu haben“. Indem Schurz seine Erzählweise offenlegt, kann er ihre Bestandteile als literarisches Werkzeug dramaturgisch einsetzen – in diesem Fall, um die besondere Atmosphäre der Gesprächssituation mit dem damals schon berühmten Zeitgenossen zu vermitteln: „Es lag ein eigenartiger Zauber in der Gegenwart des Riesen, der bei aller Größe doch so menschlich erschien“.

Besonders der erste Band, in dem Schurz zunächst mit der Schilderung seiner Kindheits- und Jugendjahre sehr aufschlussreiche Einblicke in den Lebensalltag der Menschen, die sich in der Rheinprovinz noch an die neue preußische Obrigkeit gewöhnen mussten, zu vermitteln vermag, entwickelt sich im weiteren Verlauf zu einer wahren Abenteuergeschichte. An der 1848er-Revolution beteiligte sich der junge Bonner Student mit politischer Begeisterung, die ihn auch in Bekanntschaft mit führenden Protagonisten jener Zeit brachte, darunter Gottfried Kinkel, der langjährige Freund, oder aber auch mit dem Kölner Redakteur der Neuen Rheinischen Zeitung, Karl Marx. Doch bald schon erlebte Schurz, wie der jugendlich-optimistische politische Aufbruch unter den massiven Druck der fürstlich-preußischen Reaktion zu einer lebensgefährlichen Sache wurde. Der gescheiterte Sturm auf das Siegburger Zeughaus verlief noch glimpflich. Schurz entkam der preußischen Obrigkeit und floh in den deutschen Südwesten, wo die Sache der Revolution schließlich endgültig verloren ging. Rastatt, letzter Hort der Revolution, muss sich der militärischen Übermacht der Preußen ergeben. Schurz schildert eindringlich die letzten Stunden in der Festung, wo viele der Aufständischen bereits wissen, dass sie ihr Leben durch die Erschießungskommandos der Preußen verlieren werden. Doch Schurz gelingt im letzten Moment eine abenteuerliche Flucht. Der erste Band der „Lebenserinnerungen“ hat aber noch einen weiteren Höhepunkt zu bieten: Die tollkühne Befreiung Gottfried Kinkels aus dem Spandauer Gefängnis. Die Schilderung dieser Befreiungsaktion, die zum einen den jungen Schurz zu einer zeitgenössischen Berühmtheit machte, und zum anderen eine ausgemachte Blamage für den preußischen Staat bedeutete, ist eine wahrhaft fesselnde Lektüre.

Der zweite Band beginnt mit der Ankunft des Exilanten und seiner Frau in Amerika. Schurz‘ Erzählweise klingt jetzt abgeklärter. Anders als im ersten Band verliert der erzählerische Zugriff  etwas von seiner Unmittelbarkeit. Die Distanz zu den Ereignissen ermöglicht dem Autor indes wohlbedachte Kommentierungen und Einordnungen. Den Lesern erschließt sich so jeweils ein größerer Zusammenhang zum Verständnis der Ereignisse. So verfolgt man interessiert den Werdegang des jungen Schurz, der in der neuen Heimat schnell ein politisch-rhetorisches Geschick entwickelt, mit dem er – unterstützt von der einflussreichen „dutch community“ – zunehmend politisches Gehör findet. Es sind die alten Ideale, für die Schurz sich einsetzt. Im Zentrum steht dabei das Engagement gegen das Unrecht der Sklaverei, wie es in den Südstaaten existiert. Das politische Ziel der Abschaffung der Sklaverei verbindet ihn mit der neu gegründeten Partei der Republikaner und ihrem führenden Repräsentanten Abraham Lincoln. Als dieser 1861 zum Präsidenten gewählt wird und daraufhin die Südstaaten aus der Union austreten, kommt es zum Bürgerkrieg. Schurz, zwischenzeitlich im diplomatischen Dienst der US-Regierung tätig, nimmt schließlich als General an diesem Krieg teil. Weite Teile des zweiten Bandes der Lebenserinnerungen schildern die berühmten Schlachten, an denen Schurz teilgenommen hat. Er schildert die Kriegsereignisse nicht als Heldengeschichte, sondern betont vielmehr die politische Notwendigkeit dieses Krieges. Denn er dient einer wichtigen Sache – der Abschaffung der Sklaverei. Dieses Ziel ist für Schurz von zentraler Bedeutung für die Glaubwürdigkeit der amerikanischen Republik. Und dafür kämpft er. Er lässt aber keinen Zweifel daran, dass der Preis hoch ist. Der Krieg schafft Opfer und in eindrucksvollen Passagen beschreibt der Autor das Leid der Soldaten und die fürchterlichen Folgen des Krieges für die Zivilisten in den Kriegsgebieten. 

Am Ende siegt zwar die gute Sache, aber vieles bleibt unvollendet. Hier beginnt das politische Alltagsgeschäft, in dem Schurz ein Akteur ist. Die „Lebenserinnerungen“ des Carl Schurz machen deutlich, dass die alltägliche Politik eine schwere und immer wieder Rückschläge erleidende Pflicht ist. Aber sie ist lohnend, wenn sie getragen wird von einer politischen Überzeugung, einer republikanischen Haltung für Freiheit und die demokratisch verfasste Republik. Das ist jener homo politicus, der den freiheitlich-demokratischen Staat immer wieder neu gestaltet. In diesem Sinne sind die „Lebenserinnerungen“ ein beeindruckendes Plädoyer für die Demokratie als Staats- und Lebensform. Sie belegen zudem eine wertvolle deutsch-amerikanische Tradition, die von beiden das Beste ihres Verständnisses von Politik in ein konstruktives dialektisches Verhältnis zusammenführt: Idealismus und Pragmatismus.

Titelbild

Carl Schurz: Lebenserinnerungen.
Mit einem Essay von Uwe Timm. Herausgegeben von Daniel Göske.
Wallstein Verlag, Göttingen 2015.
1239 Seiten, 39,00 EUR.
ISBN-13: 9783835315822

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