Auf dem Ozean des Lebens

Aus Yann Martels als unverfilmbar geltenden Roman „Schiffbruch mit Tiger“ hat Meisterregisseur Ang Lee einen sinnlich-meditativen Film mit allegorischem Mehr(Meer)-Wert geschaffen: „Life of Pi“.

Von Nathalie MispagelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nathalie Mispagel

Was ist Leben? Wie funktioniert Überleben? Welcher Gott mag der Beste sein? Wo stehen Mensch und Tier im grenzenlosen Universum? Diese und ähnlich existenzielle Fragen hat Yann Martel in seinem 2002 mit dem Booker Prize ausgezeichneten Roman aufgegriffen… und auf kunstvolle Weise nicht beantwortet. Oder eher: Er hat viele Antworten gefunden, die sich zu einer grandiosen Abenteuergeschichte verdichten. Sie wiederum lässt sich als philosophische, mit theologischen wie zoologischen Reflexionen angereicherte Parabel auf das Dasein als Existenz im Angesicht des Todes lesen.

Ein solch behutsamer Ansatz für derart tiefgreifende Themen läßt aufmerken. In einer Zeit politischer, kapitalistischer und religiöser Maßlosigkeit, wird die grundlegendste aller Wahrheiten gerne verleugnet: Egal wie selbstherrlich die Menschheit sich gebärdet – wir sitzen tatsächlich im selben Boot! Dass es ein Rettungsboot sein könnte, wird immer zweifelhafter. Dass der Schiffbruch bevorsteht, hingegen wahrscheinlicher. Zeit also, sich neu oder erneut mit einer Story bzw. deren Verfilmung auseinanderzusetzen, die das Leben in seinen spirituellen Perspektiven wie in seiner paradoxen vorhersehbaren Unberechenbarkeit profund auslotet.

Dabei beginnt alles überaus idyllisch. Pi (Suraj Sharma) lebt mit seinen Eltern und Bruder Ravi im indischen Pondicherry, wo der Vater einen Zoo leitet. Als Pi 17 Jahre alt ist, wandert die kleine glückliche Familie nach Kanada aus. Dort kommt sie jedoch nie an, weil ihr Frachter während der Überfahrt in einem schweren Sturm sinkt. Nur Pi überlebt die Havarie. Zusammen mit Richard Parker muss er sich ein Rettungsboot teilen. Und das bedeutet die eigentliche Herausforderung – denn Richard Parker ist ein ausgewachsener bengalischer Königstiger.

Eingebettet in die Rahmenhandlung – ein Schriftsteller (Rafe Spall) lässt sich von dem inzwischen erwachsenen Pi (Irrfan Khan) dessen Lebensgeschichte berichten – wirkt jenes Szenario geradewegs ungeheuerlich. Dennoch: „Ich weiß, was Sie wollen.“, schreibt Yann Martel einmal, „Sie wollen eine Geschichte, die Sie nicht überrascht. Eine, die Ihnen bestätigt, was Sie schon wissen. Eine, die Sie nicht weiter und nicht tiefer blicken lässt, eine, die Sie nicht mit neuen Augen betrachten müssen. Sie wollen eine zweidimensionale Geschichte. Eine leblose Geschichte. Die Dürre der Wirklichkeit, in der keine Saat aufgeht.“ „Life of Pi“ ist keine solche Geschichte.

Welcher Gott mag der Beste sein?

Mit dem eigenen Leben ist das eine komische Sache. Meist achtet man nicht besonders darauf, aber sobald es einem zu entgleiten droht, wird es plötzlich wichtig. Geradezu unentbehrlich. Neben den an Bord befindlichen Wasservorräten, Konserven sowie Survival-Utensilien ist es auch das einzige, was Pi in seinem winzigen Boot mitten im gewaltigen Pazifik verbleibt. Für dieses Leben wird er alles (auf)geben: seine ethischen Ideale als Vegetarier, seine Aversion gegen das Töten, seine Angst vor Richard Parker. Er und Pi ähneln einander, sind sie doch beide im Zoo aufgewachsen und besitzen wenig Welterfahrung. Der Zoo in Pondicherry erscheint als sonnendurchflutetes Paradies, auf dem Meer wartet hingegen die erbarmungslose Wirklichkeit. Hier zählt allein die ideelle bzw. spirituelle Haltung. Der Geist bestimmt über Sein und Sterben.

Schon in Yann Martels literarischer Vorlage spielt dieser Aspekt eine zentrale Rolle. Zum Verdruss seines atheistischen Vaters beginnt Pi als Kind, sich für Religionen zu interessieren und findet sowohl im Hinduismus wie im Christentum und Islam Bereicherung. Später auf See, gewissermaßen im Kampf mit den Elementen, muss sich jene außerordentlich gewagte Konfessionen-Kombination als geistige Kraftquelle bewähren. Pi’s über 200-tägige Odyssee auf dem Ozean wird solcherart auch zu einer Auseinandersetzung mit Gott. Nicht im dogmatischen Sinne, sondern als transzendente Wahrnehmung des eigenen Ichs in der Unendlichkeit von Wasser und Himmel.

Und der beste Gott? Jeder!

Wo stehen Mensch und Tier im grenzenlosen Universum?

Kameramann Claudio Miranda findet hierfür sinnlich-schöne, hyperrealistische Bilder, intensiviert von vollendeter VFX-Technik. Einmal sitzt Pi nachts auf seinem kleinen, aus Schwimmwesten und Paddeln gebauten Floß, wo er wenigstens auf Seillänge einen Sicherheitsabstand zum Tiger im Rettungsboot halten kann. Unter ihm phosphoresziert der dunkle Ozean dank tausender Quallen. Wie schwimmende Planeten spiegeln sie den Sternenhimmel wider, der sich als sanftes Zelt über Pi, Richard Parker und ihr einzigartiges Fatum wölbt. Tatsächlich sind Mensch und Tier schicksalhaft aneinandergekettet. Aus der Anwesenheit des Raubtiers zieht Pi seine Kraft zum Überleben, und auch wenn der Tiger stets eine wahrlich lebensgefährliche Bedrohung für ihn bedeutet, ist er gleichzeitig sein Symbol für die Verbindung zwischen allem Lebendigen.

Viele Top-Shots akzentuieren jene keineswegs esoterische, eher metaphysische Erkenntnis von einer konstitutiven Einheit. Manchmal ist das Meer derart glatt, dass sich Wolken wie in einem Spiegel reflektieren und nicht mehr zu sagen ist, wo das eine endet und das andere beginnt. Alles ist ein Firmament, eine Welt, ein Universum. Tiefe sowie Weite der Natur erwecken keinen horror vacui, zeugen stattdessen von einer geradezu körperlich spürbaren, vollkommenen Geschlossenheit. Unterstützt von Mychael Dannas mal symphonischem, mal exotisch-meditativem Soundtrack und der eindrucksvoll zelebrierten 3D-Technik entsteht eine halluzinatorisch schwebende, kontemplative Atmosphäre der Zeitlosigkeit.

Und wo stehen dabei Mensch und Tier? Ganz nah beieinander!

Wie funktioniert Überleben?

In diesen Momenten ist „Life of Pi“ größte Kinokunst, weil der Film es schafft, rund 380 Seiten Literatur in ein einziges Bild fließen zu lassen. Sprache wird zur Raumpoetik. Ohnehin zeichnet sich das hochästhetische Werk durch den Anspruch aus, seine ausgefeilte CGI-Technik der Narration unterzuordnen. Allein Richard Parker ist ein bewundernswertes Beispiel für künstlich generierten Naturalismus. Das Drehbuch von David Magee wiederum bleibt hinter dem Originalroman zurück. Explizit der Überlebenskampf auf hoher See wird nicht mit dem gleichen rational-realistischen Impetus geschildert, weshalb der Film viel eindeutiger als Allegorie zu verorten ist als das Buch. Das mag eine legitime Interpretation sein, nimmt der Story aber an Kraft.

Überleben ist eine blutige, unmittelbare Angelegenheit, die wenig mit Moral zu tun hat. Dafür viel mit Pragmatismus. Es liegt nicht an Menschen- bzw. Tierliebe, dass Pi beginnt, Richard Parker mit Fisch zu füttern. Vielmehr will er ihn zähmen, um so eine Grundlage für gegenseitigen Respekt zu schaffen. Der Tiger ist dem Jungen an Kraft vollkommen überlegen, doch Pis Verstand und speziell seine Entschlossenheit sind unnachgiebiger. Es kommt eben nicht nur auf die Ratio an, wie Yann Martel zu bedenken gibt: „Vernunft ist der beste Werkzeugkasten. Mit nichts kann man sich so gut einen Tiger vom Leibe halten. Aber übertreiben Sie es mit der Vernunft, und Sie schütten das ganze Universum mit dem Bade aus.“

Und wie funktioniert also das Überleben? Mit einer Mischung aus physischer Härte und seelischem Willen.

Was ist Leben?

„Life of Pi“ mag recht wenig Plot besitzen, passt allerdings mit der Thematisierung von äußeren wie inneren Grenzerfahrungen und der Darstellung einer (auch emotional) transzendierten Welt gut in das bemerkenswerte Œuvre von Ang Lee (u.a. „Eat Drink Man Woman“,1994; „Tiger & Dragon“, 2000; „Brokeback Mountain“, 2005). Die einfühlsame Poesie seiner Inszenierung in den stillen Sequenzen und die vitale Energie in den heftigen, etwa während des spektakulären Schiffsunglücks, lassen einen wieder an die Magie des Kinos glauben. An jenen kostbaren Augenblick, wenn sich Ergriffenheit und Erschütterung vereinen.

Den erlebt Pi, als er sich endgültig von Richard Parker verabschieden muss: „All of life is an act of letting go but what hurts the most is not taking a moment to say goodbye.“ Jetzt kann er nur noch von seinem Freund-Feind erzählen, wobei manch ein Zuhörer diese Tiger-Story nicht recht glauben will. Deshalb tischt Pi, der nach seiner Rettung in ein mexikanisches Krankenhaus gebracht wurde, zwei Mitarbeitern des japanischen Verkehrsministeriums einen anderen, scheinbar authentischeren Bericht auf. Doch Glaubwürdigkeit ist noch lange nicht dasselbe wie Wahrheit. Und Wahrheit nicht Wirklichkeit. Irgendwo mittendrin ist Pis phantastisches Abenteuer angesiedelt. Irgendwo zwischen seinem auf mathematische Unendlichkeit verweisenden Namen, zwischen Monaten in Meereseinsamkeit, psychedelischen Visionen unter Sternen, einem aus dem lumineszierenden Ozean emportauchenden Wal und einem Tiger auf See.

Und was ist nun Leben? Leben ist ein Rettungsboot mit einem Tiger als Reisegefährten. Leben ist ein Tiger, der sich ohne umzuschauen im Dschungel verschwindet. Leben ist ein Dschungel, der von prallem Grün in das dezente Schwarz-Weiss von Schrift auf Papier übergeht. Leben ist… die Geschichte, die darüber fabuliert wird.

„Life of Pi“ (U.S.A. 2012)
Regie: Ang Lee
Darsteller: Suraj Sharma, Irrfan Khan, Tabu, Rafe Spall
Laufzeit: 127 Min.
Verleih: 20th Century Fox Home Entertainment
Format: DVD / Blu-ray

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

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