Eine Wiege der Träume

In seinem Buch „Bagdad. Erinnerungen an eine Weltstadt“ erzählt Najem Wali mit nostalgischen Gefühlen von einer verlorenen Kultur

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bagdad ist ein Traum. Von diesem Traum wurde nicht nur der junge Najem Wali heimgesucht, damals, als er in den 1960er-Jahren im Provinzstädtchen Amara aufwuchs. Sein Vater pendelte als Taxifahrer regelmäßig mit einem 1951er Chevrolet in die Hauptstadt und fesselte den Jungen mit Geschichten von unterwegs. Um Bagdad rankten sich die jugendlichen Sehnsüchte. So konnte es kaum verwundern, dass die erste Reise in die Traumstadt zum bleibenden Erlebnis wurde. An der Hand des Vaters ging Najem durch die Raschîd-Straße, besuchte die Mackenzie-Buchhandlung und das Schallplattengeschäft Dschakmadschi: legendäre Orte nicht nur für den Jungen.

Bagdad ist nicht die älteste Stadt des Iraks, auch nicht die sagenumwobenste. Sie steht diesbezüglich im Schatten von Mossul, Erbil oder Ninive. Erst 762 n. Chr. wurde Bagdad unter dem Abbassidenkalifen Dschaffar al-Mansûr gegründet, auf den wenig später der legendäre Harûn al-Raschîd folgte. Sein Name strahlte mitsamt der Märchen aus Tausendundeiner Nacht bis in den Okzident aus. „Vielleicht glaubte ich, Bagdad existiere überhaupt nur in jenen Geschichten“, die von Shehresâd und vom Vater erzählt wurden, schreibt Najem Wali. Auf jeden Fall haben sie einen privaten Mythos genährt, der seiner Jugend nur die eine Richtung anzeigte: nach Bagdad, um zu studieren und in der Welt anzukommen. Dafür herrschte anfangs der 1970er-Jahre ein günstiges Klima: „eine Zeit relativer Freiheit und Fortschrittlichkeit für meine Generation“. Der junge Student, der einen Studienplatz am deutschen Institut erhielt, nutzte die Gunst der Stunde, um sich den Traum von der Universität und zugleich vom eigenen Zimmer zu erfüllen. Am Schreibtisch würde sich auch der Traum vom Leben als Schriftsteller erfüllen – in Verbundenheit mit all jenen Dichtern, die Bagdad je gesehen und von Bagdad geträumt haben.

Ende der 1970er-Jahre löste der Wehrdienst das Studium ab. Er endete wenige Wochen, bevor Saddâm Hussein den Iran-Irak-Krieg anfachte. Die Gefahr, gleich wieder einberufen zu werden, blieb indes virulent. Als sich eine „schiefgegangene Liebe“ zu der Gefahr dazugesellte, „wurde die Stadt eng“. Unter dem Druck der Militarisierung und Bespitzelung verließ Najem Wali 1980 Bagdad. Seit Mitte der 1980er-Jahre lebt er in Deutschland.

Im Kopf wie im Herzen hat Bagdad seine bezaubernde Aura erhalten, so wie sie einst Walter Benjamin mit der „Ferne so nah“ umschrieb. Von fern blickt Wali zurück auf der Suche nach „Momenten der Geschichte […] nicht als Geschichte, sondern als eine Nostalgie, die hier seit Jahrhunderten hockt, begraben unter der Erde und zwischen Reihen einsturzgefährdeter Ruinen“. In der Erinnerung an die wenigen Jahre, die er tatsächlich in Bagdad gelebt hat, verwandelt sich die Stadt in eine Projektion, in der sich Träume und Sehnsüchte bündeln. Vergleichbares gilt für die literarischen Referenzen, die Wali zu seinen Zeugen aufruft: John Dos Passos, Max Frisch und Annemarie Schwarzenbach. „Bagdad war ihr eine fixe Idee“, heißt es von letzterer. Sie träumte von Bagdad, um aus der Stadt aus unterschiedlichen Gründen umgehend wieder zu fliehen. Und Vergleichbares gilt auch für die arabisch-jüdischen Autoren, die hier geboren wurden, doch auswandern mussten. 1951 wurden die Juden aus dem Irak vertrieben: ein Exodus aus dem Paradies, nicht aus der Gefangenschaft. Die Werke von Samir Nakkâsch, Shimon Ballas und Sami Michael – allen voran dessen Roman Viktoria, der 1995 ins Deutsche übersetzt wurde – gedenken einer faszinierenden, wunderbaren Stadt, auch wenn oder gerade weil sich zwischen „poetischer“ Erinnerung und „realer“ Anschauung Lücken offenbaren. Bei allen dreien ist im Exil eine „Zerrissenheit zwischen zwei Identitäten“ zurückgeblieben, die eindringlich nach der persönlichen Zugehörigkeit fragt.

Auch Najem Walis Erinnerungen bewahren eine Faszination, die aus der Ferne nicht zu stillen ist. Mit der Nostalgie als Antriebskraft beschwört er den Traum von einer Stadt, die den Islam schon zu Zeiten der Abbassiden mit größter Offenheit, Toleranz und Lebensfreude praktizierte. Illustriert wird dies durch die Bilder aus dem Fotoarchiv des Autors. Sie zeigen junge Menschen in damals modischen Schlaghosen, eng geschnittenen Hemden und flatternden Röcken. Kein Vergleich mit der tristen Gegenwart in der von Fundamentalisten besetzten Stadt.

Bezüglich dieser Abbildungen muss sich der Band allerdings eine energische Kritik gefallen lassen. Speziell die historischen Aufnahmen von Bagdad erfüllen im mickrigen Kleinformat keinen ihrer Zwecke. Unwillkürlich schrumpft die städtische Topographie auf Liliput-Größe zusammen, so dass Walis enthusiastische Beschreibungen darin kaum wiederzuerkennen sind.

Titelbild

Najem Wali: Bagdad. Erinnerungen an eine Weltstadt.
Übersetzt aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich.
Carl Hanser Verlag, München 2015.
413 Seiten, 25,90 EUR.
ISBN-13: 9783446249226

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