Die Grimms von A bis Z

Ein Begleitbuch zur GRIMMWELT in Kassel erschließt den Kosmos der beiden Brüder

Von Simon TrautmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simon Trautmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im September 2015 eröffnete auf dem Kasseler Weinberg die GRIMMWELT: ein neuer Zugang zu Leben, Werk und Wirkungsgeschichte der Brüder Grimm bis in die Gegenwart. Hier wird Wissen generationenübergreifend in sinnlich-spielerischer Form vermittelt und verhandelt. Dass die Grimms nicht nur Märchensammler waren, sondern als Mitbegründer der Germanistik wesentlich zu unserer Sprachidentität beigetragen haben und sie auch politisch aktiv waren, ist nur wenigen bewusst. Die Kuratorinnen der GRIMMWELT wollen das Bild der Brüder komplexer und widersprüchlicher machen. Ihr Ausstellungskonzept lehnt sich an eine Struktur an, die von den Grimms selbst entwickelt wurde: die alphabetische Ordnung des Deutschen Wörterbuchs. Mit einem Glossar von A bis Z mit 26 Wörterbucheinträgen (von Ärschlein bis Zettel) eröffnet dieses lexikografische Modell jenseits der historisch-chronologischen Logik eine Vielfalt von Perspektiven. Dementsprechend frei können sich die Besucher durch die Ausstellung bewegen und sie aktiv mitgestalten.

In Zusammenarbeit mit den Ausstellungsmacherinnen Annemarie Hürlimann und Nicola Lepp hat die Stadt Kassel ein Begleitbuch herausgegeben, das der Struktur der GRIMMWELT folgt, dabei die Lemmata aber nicht thematisch, sondern von A bis Z ordnet. Zu Stichwörtern wie „Dornenhecke“, „Quitte“ oder „Rotkappe“ haben namhafte Autoren unterhaltsame wie informative Essays verfasst, die Leben und Werk der Grimms nicht nur kulturhistorisch oder literarisch kommentieren, sondern Gegenwarts- und Zukunftsreflexionen bieten. Gewissermaßen fungieren die Lemmata als Kristallisationspunkte, von denen aus sich der Grimmsche Kosmos zwischen Historisierung und Aktualisierung erschließt. Die Herausgeber verstehen das Buch als eine Einladung zum Blättern in sämtliche Richtungen, so, wie man in einem Wörterbuch lesen würde. Durch die Rezeption dieses Lese- und Bilderbuchs entsteht wie in der Ausstellung ein Zeichenraum, in dem die Grimmsche Arbeit an der Sprache und das Eintauchen in phantasievolle Imaginationen erfahrbar werden. Dabei kann sich der Leser ein eigenes Bild von den Brüdern machen und zugleich tritt ihm der enorme Reichtum der deutschen Sprache vor Augen.

Der Katalog gibt Einblick in den Entstehungsprozess sowie in Inhalte der GRIMMWELT und eignet sich damit zur Vor- und Nachbereitung eines Besuches; er ist jedoch unabhängig davon für alle Grimm-Freunde von Interesse. Die bibliophile Aufmachung mit farbigem Buchschnitt und vielen faszinierenden Abbildungen (zum Beispiel von handschriftlichen Notizen, Fotografien, persönlichen Dingen aus dem Arbeitsalltag beziehungsweise dem Familiennachlass der Grimms) macht Lust, den Band immer wieder in die Hand zu nehmen und einen subjektiven, sinnlichen Zugang zu den Ideen der Brüder zu finden. Auch der dritte, unbekannte Bruder, der Maler Ludwig Emil Grimm, wird im Buch gewürdigt. Zu sehen sind seine comichaften Zeichnungen, die das Leben der Grimms karikieren. Geisteswissenschaftliche Themen derart neu aufzubereiten, stellt gewiss eine große Chance dar, wie Geschäftsführerin Susanne Völker konstatiert. Allerdings wird die teils sehr dichte, ambitionierte Präsentation wie das Begleitbuch doch eher ein entsprechend vorgebildetes Publikum anziehen.

Eine Welt ohne Grimms Sammlungen?

Ein spannendes Gedankenexperiment führt der Kulturhistoriker Thomas Macho in seinem den Wörterbucheinträgen vorangestellten Essay durch. Macho wirft die Frage auf, wie die Welt ohne die Grimms aussehen würde. Ein Teil unseres symbolischen Universums, so argumentiert Macho, wäre mit ihnen verschwunden. Liefern die Märchen also einen Beitrag zur kulturellen Identität der Europäer? Hierzu bemerkt der Experimentator treffend, dass die Grimms eine wichtige Brücke zum Altertum geschaffen haben – nicht für kleine Eliten, sondern ganz im Sinne der allgemeinen Volksbildung des späten 18. Jahrhunderts. Auf der Suche nach den Anfängen wurden auch die vergessenen Wurzeln der eigenen Kultur erkundet. Das betraf ebenso die Quellen des Wortschatzes, der im Deutschen Wörterbuch für Macho wie ein vergrabener Goldschatz funkelt. Demnach zielte die Arbeit der Grimms auf die exemplarische Erschließung von Ursprüngen. Durch diesen Brückenbau zur Vergangenheit, so Macho, werde zugleich die Zukunft begehbar. Märchen fungierten wie ein aktives Archiv, das zur Erfindung neuer Lebensstile beziehungsweise Kulturen anstifte und dabei universell verständlich sei. Laut Macho verdankt sich dies neben der Archaik ihrer Mobilität: den Transfers, Überlieferungen und Übersetzungen. Märchen erscheinen als wanderlustige Texte, die oft auch von Wanderungen erzählen. Macho verweist auf eine Feldstudie über wandernde Kurzgeschichten der Gegenwart, die an alte Märchen erinnern und zugleich eine Sammlung narrativer Bausteine künftiger Märchen darstellen, die in verschiedenen Weltregionen ähnlich erzählt werden. Über eine künftige europäische Identität hinausgehend, so kann man Machos These ergänzen, helfen die Grimmschen Werke sogar, ein echtes Weltbürgertum zu bestärken und fördern darüber hinaus den transkulturellen Dialog.

Auch ein „Ärschlein“ gehört zum Sprachschatz

„Dünnscheisz“, „Kotzensohn“, „Pissblume“: im Deutschen Wörterbuch ist auffällig oft ‚anstößiges‘ Vokabular anzutreffen. Nach dessen kulturgeschichtlicher Bedeutung fragt der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger und eröffnet das Grimmsche Alphabet im Katalog mit A wie ÄRSCHLEIN. Jacob Grimms Vorrede zum Wörterbuch ist dabei besonders aufschlussreich, denn diese richtet sich gegen Einwände der ‚feinen Gesellschaft‘: Kein Sittenbuch wird der Leser hier vorfinden, sondern ein wissenschaftliches Werk, das seinem Zweck gerecht werden will. Dementsprechend gibt es ein reiches Vokabular an Kraftausdrücken aus dem ‚einfachen Volk‘ zu entdecken, das ebenbürtig zum deutschen Sprachschatz gehört und teils eine regelrecht poetische Wirkung entfaltet. In dialektischer Manier betrachtet Enzensberger, wie die besitzende Klasse über das ‚gemeine Volk‘ spricht und sich dies sprachpolitisch in Form abwertender Ausdrücke im Wörterbuch niederschlägt. So findet er das Lemma „Pöbel“ bereits bei Martin Luther negativ belegt, bei Heinrich Heine bekommt es gar eine bedrohliche Konnotation. „Abschaum“, „Volkshefe“, „Gesindel“, „Pack“ – auch unter Gebildeten sind abwertende Ausdrücke beliebt, was nachdenklich stimmt. Eine erstaunliche Abwertung hat der „Proletarier“ erfahren, der mit der Zeit zum „Proleten“ und schließlich zum „Proll“ heruntergekommen ist (welcher nicht einmal mehr im Wörterbuch zu finden ist). Die Begriffe „Lump“ und „Lumpen“ haben Karl Marx zum Ausdruck „Lumpenproletariat“ inspiriert. In Zeiten von political correctness wird eine solche Ausdrucksweise vermieden. Politiker bevorzugen euphemistische Formulierungen, durch die soziale Realitäten bloß beschönigt werden. Enzensberger plädiert dafür, die Wörterbücher auszumisten. Er erkennt aber auch die Zweischneidigkeit dieser sprachpolitischen Intervention, wenn er anmerkt, dass es leider oder zum Glück vieles auf der Welt gebe, das hartnäckig weiterlebt und sich allen Versuchen der Verleugnung widersetzt.

Das „Glück“ bleibt zu wünschen

Auf die Suche nach dem Glück im Grimmschen Kosmos begibt sich der Autor und Filmemacher Alexander Kluge. Er veranschaulicht, dass das Wort im Deutschen Wörterbuch und in den Märchen nicht im heutigen umgangssprachlichen Sinn verwendet wird. Das Lemma „Glück“ weist auf den Ursprung im Schicksal oder auf Geschick hin. Und auch in den Märchen bedeutet Glück nicht die Abwesenheit von Unglück. Die Grimms betonen damit das Zufallsprinzip: Wünsche wirken in den Märchen nie rein positiv, sie verwandeln sich immer auch in ihr Gegenteil. In diesem Zusammenhang ist der Begriff der Arbeit omnipräsent: sich Mühe geben, alles verlieren, was erarbeitet wurde, faul sein und auf eine Glückssträhne vertrauen et cetera. Kluge verortet den historischen Kern der Märchen daher im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert – von der agrarischen Gesellschaft zur Industrialisierung mit ihrer modernen Arbeitswelt. So erscheint Hans im Glück als Antipode des Fortschritts, der die häusliche Harmonie dem Verdienst vorzieht. Für Kluge sind Grimms Märchen konservativ und er fragt, was heute an deren Stelle getreten ist. Zwar werde es nicht die Gestalt der Märchen haben, aber es wäre lohnend, wie die Grimms Geschichten zu sammeln, in denen die Wünsche Geltung haben und die man als Wandergeschichten fortspinnen könnte. Im Märchen ufern die Wünsche aus, doch die heutige Beschneidung von Wünschen führt zu einer umso stärkeren Wirkung, was Kluge an der extremen Gier in der Finanzkrise belegt. Glück im Märchen hingegen bedeute, dass sich die guten und bösen Leidenschaften gegenseitig mäßigten. Die Frage des Glücks ist in den Märchen frei beweglich, sie kann sich auf alle vertrauenswürdigen Werte (zum Beispiel Treue oder Hoffnung) gründen. Treffend resümiert Kluge, dass Glück hier das Gegenteil von etwas Allgemeinem darstelle. Die Märchen halten Glück in der Realität für selten, in der Welt der Wünsche ist es jedoch allgegenwärtig.

Die „Phantasiegestalt“ macht das Leben begreifbar

Nach anderen Wahrheiten in den Grimmschen Märchen sucht Siri Hustvedt unter dem Lemma „Phantasiegestalt“. Märchenfiguren begleiten die US-amerikanische Autorin und Literaturwissenschaftlerin bereits seit ihrer Kindheit. Sie liebte es, in die Figuren hineinzuschlüpfen, sich in einen Jungen oder ein Tier zu verwandeln und die Gestalten mit eigenen Ängsten und Wünschen auszufüllen. Für Hustvedt schlägt in den Märchen, in Tierfiguren oder Dingen, der Puls einer geheimnisvollen Lebenskraft. Weil in den Geschichten alles lebendig und wandelbar ist, fungieren sie strukturell als Erkenntnisform des Lebens: Die verzauberten, veränderlichen Körper der Märchenfiguren zeugen von der Seltsamkeit der Wandlungen im Leben realer Menschen – mithin von sich ständig ändernden Gefühlen, von Geburt, Kindheit, Erwachsensein, Älterwerden und Tod. Hustvedt macht deutlich, dass die Phantasiegestalt der Märchen durch ihre rhythmische Form hilft, unerklärliche Ereignisse wie Krankheiten oder Unfälle einordnen zu können. Märchen liefern Muster und Bedeutungen von Metamorphosen; deshalb ereignet sich das Leben in ihnen kreisförmig und in unbestimmten Zeiten. In dieser Art von Wiederholung finden wir eine sinnvolle Form. Gleichwohl ist diese Erkenntnis so neu nicht, ein Blick auf Ernst Cassirers Symbolische Formen oder Roland Barthes’ Begriff vom Mythos wäre hier sicher lohnenswert.

Titelbild

Annemarie Hürlimann / Nicola Lepp (Hg.): Die Grimmwelt. Von Ärschlein bis Zettel.
Sieveking Verlag, München 2015.
272 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783944874234

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