Berlin-Bashing von vorgestern

Karl Scheffler hat in „Berlin – ein Stadtschicksal“ mehr als einen legendären Satz zu bieten

Von Johannes GroschupfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johannes Groschupf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Berühmt geworden ist Schefflers Schlusssatz, Berlin sei „dazu verdammt: immerfort zu werden und niemals zu sein“. 1910 erschienen, ist dieser Klassiker der Berliner Stadtliteratur nun, mit einem Vorwort von Florian Illies versehen, von Suhrkamp wieder aufgelegt worden. Der Verlag wirbt mit einem Augenzwinkern: „Dies ist das Buch zu Karl Schefflers berühmten Satz.“ Da stellt sich die Frage: Was hat uns dieses Buch nach 100 Jahren zu sagen? Und: Stimmt dieser Satz überhaupt?

Berlin-Bashing hat derzeit Konjunktur. Wer sich für etwas Besseres hält, äußert sich gern abfällig über Berlin. Die Stadt gilt als hässlich, verkommen, unfähig, zunehmend gefährlich, kurzum: als failed City. Dennoch kommen Millionen von Besuchern in die Stadt, um sich dieses Elend anzusehen, hier zu feiern und Berlin großartig zu finden. Großartig eben wegen seiner Offenheit, Unabgeschlossenheit, auf die auch Marketingprofi Florian Illies in seinem Vorwort verweist. Er setzt Schefflers Berlin-Tadel in die Gegenwart fort: „Hipness ist das Manna, das diese Stadt wie ein Begrüßungsgeld an alle ausschüttet.“

Schefflers Buch ist eine Polemik: Wo er zuspitzen kann, da spitzt er zu. Das macht die Lektüre stellenweise zu einem Vergnügen, oft jedoch auch zu einem Ärgernis. Es  ist ein Buch der raschen und scharfen Urteile, der fixen Zuweisungen und Unterstellungen, auch eine Kampfschrift voller krasser Fehlurteile und mit einigen abstoßenden rassistischen Untertönen. Schefflers Grundthese: Berlin sei Kolonialstadt und diesem Schicksal niemals entkommen. „Auch jetzt ist Berlin noch eine Grenzstadt und liegt nach wie vor an der östlichen Peripherie der deutschen Kulturzone.“ Bereits hier klingt ein deutschnationaler Überlegenheitsdünkel durch, wenn er auf das Umland blickt: „das alte Kolonialland, den Wenden und Polen, der untüchtigeren slawischen Rasse, Stück für Stück entrissen“. So schön die Beschreibung des „endlosen Ostlandes“ geraten ist, so leicht gerät Scheffler in Gefahr, Ton und Urteil zu überspannen. „Das Klima sogar mutet östlich an, schon ein wenig wie Steppenklima.“

Diese Sucht, seine Urteile auf die Spitze zu treiben, macht es dem Leser schwer, Scheffler tatsächlich ernstzunehmen, etwa wenn er die Eigenart des Berliners fassen möchte.

So schreibt er über die Berlinerin: „… im Grunde ihres Wesens ist sie kalt und von einer fast herzlos praktischen Gesinnung. Nicht herzlich, aber sentimental; profan, sachlich und doch affektiert; anspruchsvoll, aber furchtbar ungebildet.“ Vermutlich kennt jeder eine Berlinerin, auf die dies unbedingt zutrifft. In seiner Pauschalisierungslust aber wird es witzlos und teilweise bösartig. Über die Berliner Männer sagt er:

Über alle Männerantlitze ist gleichmäßig die Maske des Materialismus gebreitet. Man sieht es mit erschreckender Deutlichkeit, daß hinter diesen Stirnen keine höhere Idee, kein von der Geschichte gleichmäßig erzogener Wille wohnt, daß alle schönen Gefühle im Winterschlaf der Zeit liegen, daß diese Mienen zerfurcht sind im Erhaltungskampf, abstoßend geworden unter dem Einfluß der Lebensangst und Lebensgier, geschwollen und verknittert unter den Antrieben eines heftigen Sklavenwillens.

Schefflers Schlussbild zum Berliner lautet denn auch: „Von früh bis spät rennt ein überarbeitetes Kolonistenvolk durch die Gassen, das von Würde nichts weiß.“ Eher scheint, dass hier die überzogenen Urteile durch die Gassen rennen, weil der Verfasser von Recherche und Erfahrung nichts weiß.

Vollends abstoßend für heutige Leser (soweit sie nicht im Pegida-Deutschdünkel delirieren) wird Scheffler, wenn er über Berlin als „Sammelpunkt slawischer Elemente“ herzieht. Gemeinsam mit dem „zugewanderten Judentum“ führten sie zu dem „Mischmasch“, das in Berlin herrsche und das zudem „kulturunfähig“ sei. Hier ist Scheffler kein Fechter mehr, der pointierte Treffer setzt, sondern ein Raufbold, der mit schwerem Säbel um sich schlägt.

Dürftig sind Schefflers Erkenntnisse zur Baugeschichte. Zu seiner Zeit war Berlin unbestreitbar eine schöne Stadt, nicht umsonst „Spree-Athen“ genannt. Er aber beklagt „die amerikanistische Art der Stadtanlage“, mit der in den neuen Stadtteilen für die hinzudrängenden Massen Wohnraum geschaffen wurde. „Man kann zehn Jahre in Berlin leben und sich in den nördlichen und östlichen Stadtteilen noch rettungslos verlaufen. In gewissen Gegenden ist man wie in einem steinernen Irrgarten, ohne Anfang und Ende; und die Trostlosigkeit wird durch die Breite der Straßen, durch die Weiträumigkeit nur noch gesteigert.“ Im Grunde sind dies die Tiraden eines Kleinstädters, der sich in der modernen Großstadt nicht mehr zurechtfindet und nun in Bausch und Bogen alles ablehnt: „Was man in der Reichshauptstadt Platz nennt, das ist einfach eine größere oder kleinere Öffnung, auf die ein halbes Dutzend Straßen münden und über der Verkehr kreuz und quer lebensgefährlich dahinbraust.“

Witzig ist Scheffler, wenn er sich am konkreten Detail abarbeitet, etwa wenn er über die Brotsorten spottet, „womit die Stadtbevölkerung sich jahrhundertelang begnügt hat. Das war weder Weißbrot noch Schwarzbrot, sondern ein säuerlich geschmackloses Gemenge, ausgiebig zwar, aber eine Nahrung, die das Essen zu etwas wie zu einem notwendigen Übel macht.“ Neugierig machen die historischen Gerichte: „das beliebte Donnerstagsessen, Pökelfleisch mit Erbsen und Sauerkohl, das Fischergericht, gekochter Aal mit Gurkensalat.“

Scheffler hatte große Verdienste als Kunstkritiker, der dem deutschen Impressionismus, Max Liebermann insbesondere, den Weg bereitet und die wilhelminische Kunstpolitik leidenschaftlich bekämpft hat. Nach dem Ersten Weltkrieg jedoch konnte er mit der Avantgarde nichts mehr anfangen, abstrakte Kunst lehnte er kategorisch ab. Der „Berliner Museumskrieg“ mit Ludwig Justi legt davon beredtes Zeugnis ab. Auch in seiner Berlin-Polemik von 1910 ist allzu oft der Dünkel einer untergehenden Zeit spürbar, der auf die unverstandene neue Zeit nur ablehnend reagieren kann und sich damit zuweilen lächerlich macht. Auf die Literatur bezogen behauptet Scheffler: „Der moderne Dichter lebt und schafft nicht in Berlin; denn er könnte dort nicht zur Ruhe, Sammlung und vor allem nicht in poetische Stimmung kommen.“ Scheffler empfiehlt stattdessen München, das Riesengebirge, Weimar oder die „Nähe einer wahrhaft deutschen Stadt“.

Alles in allem ist dies ein Buch für Party-Unterhaltungen; es reizt zum schnellen Zuspruch oder zum energischen Widerspruch, bleibt aber unergiebig, weil es über weite Strecken doch eher eine Tirade ist als eine Polemik mit Substanz. Denn auch der schmissige Schlusssatz, Berlin sei dazu verdammt, „immerfort zu werden und niemals zu sein“, klingt beim zweiten und dritten Hinhören doch recht hohl.

Titelbild

Karl Scheffler: Berlin – ein Stadtschicksal.
Herausgegeben und mit einem Vorwort von Florian Illies.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2015.
222 Seiten, 21,95 EUR.
ISBN-13: 9783518425114

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