Warum erzählen?

Ein bildreicher Band über „Die besten TV-Serien“ der letzten 25 Jahre

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Da liegt nun dieser schwergewichtige, großformatige und knapp 750 Seiten umfassende Band „Die besten TV-Serien. Taschens Auswahl der letzten 25 Jahre“ auf dem Tisch – und es sind alle drin, zumindest alle, die Rang und Namen haben in jenem Format, das angeblich als neues Paradigma in die Kulturgeschichte eingegangen ist. TV-Serien seien die Bildungsromane des 21. Jahrhunderts (und des späten 20. Jahrhunderts), heißt es allenthalben. Das Erzählen sei, so die mittlerweile weit ins Feuilleton gedrungene These, das Format, in das die moderne Erzählung abgewandert sei. Nicht mehr der Roman, das Königs-Format des 19. und 20. Jahrhunderts, in dem ja andererseits das Inkommensurable des Subjekts seinen Ausdruck gefunden haben soll (Walter Benjamin), sondern die Fernsehserie ist heute Trägerin jenes imaginativen Probehandelns, in dem das moderne Individuum durchspielt, was es unter welchen Umständen hätte tun können.

Dass TV-Serien, dass überhaupt das Fernsehen zu einer immer wichtiger werdenden Sozialisationskonstante in der modernen Welt geworden ist, ist seit längerem bekannt. Während Dieter Wellershoff um 1970 noch den Roman als zentrales Format gesehen hat, an dem man lernen könne, was man nicht selbst erleben müsse, hat der Medienwissenschaftler Roger Silverstone 1998 bereits die visuellen Medien zur zentralen Instanz erhoben. An den Nachmittagsserien lernen junge Leute heute, was es heißt, zu lieben und zu hassen, während die junge Heldin einer Erzählung von Alexandra Kollontai um 1920 an den Romanen lernen musste, was Liebe heißt.

Ein Blick auf die von Jürgen Müller zusammengestellten „besten TV-Serien“ zeigt, weshalb heute die visuellen Medien, und vor allem solche Serien, diese Aufgabe übernehmen.

Dass sie verlässlicher sind und in vielem vertrauter als noch Familienmitglieder, ist dabei nur ein Aspekt – wobei ein verlegter Programmplatz schon einmal das Vertrauen nachhaltig erschüttern konnte, bis dann Netflix seine Serien gleich staffelweise ins Netz stellte und damit auch das normale TV-Sehverhalten nachdrücklich veränderte. Statt wöchentlicher Dosen nun Crash-Kurse in Regierungsbildung und Niedergangszenarien, Ermittlungen und Comedy, oder auch in den neuen Formen der Kampagnenführung. Das ist großartig, aber auch anstrengend. „Fun“ ist kein Stahlbad, aber es braucht schon Durchhaltevermögen, die Staffel einer Serie in einem durchzusehen – was bei einer Serie wie „24“, die hier gleichfalls zu finden ist, eigentlich unabdingbar ist (aber wer kann sich das schon erlauben).

Doch damit fehlt eine wichtige Komponente in der Gewohnheitsbildung von Alltag: der in der Saison regelmäßig wiederkehrende Termin, auf den sich ein gesamter Wochenablauf einstellen mag. Am Beispiel Anderer lernen ist schön, aber die sollen sich wenigstens an ein paar Regeln halten, zum Beispiel, wann sie dran sind.

Aber die Serie ist nicht nur – wenn überhaupt – wegen ihres wiederkehrenden Charakters derart attraktiv geworden, sondern auch und vor allem, weil sie sich als lehrreiche (nicht belehrende) Instanz erwiesen hat. Wenn das fiktionale Erzählen als Probehandeln Ersatz- und Entlastungsfunktion hat – und zugleich zur zentralen Sozialisationsinstanz heranwachsen kann –, dann muss es in direkter Beziehung zum Alltag und zum Weltverständnis seiner Rezipienten treten. Das ist im Übrigen ein Argument dagegen, dass das passive Fernsehen vollständig vom reziproken und bidirektionalen Format abgelöst werden wird, dann fiele nämlich die Entlastungsfunktion vollständig weg. Es sei denn, die Armierung etwa des friedlichen Verwaltungsbeamten im Spiel mit einem Waffenarsenal würde als Entlastung verstanden.

Großerfolge wie „Sex and the City“ weisen auf einen Bruch in der kulturellen Entwicklung hin. Analog zum mondänen Roman der 1920er-Jahre und zum mondänen Film, der bis heute Erfolge feiert, warf die urban-hedonistische Serie um eine Zeitungskolumnistin und ihre Freundinnen sämtliche seriellen Konventionen über den Haufen. Sie band ihre (wahrscheinlich meist weiblichen) Zuschauer an sich und bot ihnen zugleich ein Traumland weiblicher Selbstbestimmung im fernen Manhattan. Zudem als Modenschau konzipiert, übernahm die Serie die Selbstkommentierung weiblicher Existenz am Beginn des 21. Jahrhunderts. Und das auch noch amüsant?

Aber ein Blick auf Serien wie „Breaking Bad“, „Game of Thrones“ oder „House of Cards“ zeigt bereits, dass solche Serien nicht nur Unterhaltung sind, sondern den Blick auf die Realität mitbestimmen können. Selbst solche Mystery-Serien wie die legendären „Twin Peaks“, „Lost“ und „Akte X“ (nicht im Band) oder das auf der Vampir-Konjunktur aufsattelnde „True Blood“ sind nicht einfach nur phantastische Geschichten, im Unterhaltungsgenre erzählt, sondern gehören in das große Arsenal der diversen stellvertretenden Bewältigungsformen, mit denen in der Moderne auf komplexe und widersprüchliche Anforderungen reagiert wird. Dass „True Blood“ eine Variation echter Liebe inklusive Sex behandelt, lässt sich schnell nachvollziehen. „The Walking Dead“ mag da schon härterer Stoff sein, aber seit George A. Romero ist die Nähe von Zombiefilmen zur Kulturkritik unbestreitbar. Manchmal kann man eben auch alles gleichzeitig haben, Gänsehaut, Bestätigung und Empörung zusammen.

Dass dies bei den Krimi-Serien immer schon der Fall gewesen ist, bleibt davon unberührt, auch wenn sie notwendig in verschiedene Richtungen weisen und verschiedenen Interessen gehorchen. Hermeneutischer Optimismus und teils ironische Diskussionen von Rechts- und Schuldproblematiken gehen hier Hand in Hand. Da mag es auch schon einmal vorkommen, dass ein Serienkiller zum Sympathieträger wird wie in „Dexter“. Aber daran kann man lernen, dass ein Thema im Genre insgesamt durchgespielt sein muss, bevor es dann als abgehandelt gelten kann (wenn so etwas überhaupt möglich ist).

Dazu scheinen die Comedy-Serien wie „Two and a half man“ oder „The Big Bang Theory“ das Gegenprogramm zu bilden, aber – inklusive aller Geschmacklosigkeiten – lassen sie sich als ironisch bis klamaukhaft überbordende Dauerkommentare zu den gesellschaftlichen Verhältnissen und Klischees der Gegenwart lesen, zu denen sich Zuschauer je nach Geschmack verhalten können.

Damit das möglich ist, gehen solche Serien eben auch einen Schritt auf die Zuschauer zu: In ihnen wird geliebt, verachtet und gehasst, wie es im Normalleben auch der Fall ist (oder dort nachlebbar werden kann) – auch wenn hier zugleich getötet oder in anderer Weise vernichtet wird, was im Weg steht. „Game of Thrones“ oder „House of Cards“ sind zum Beispiel dabei nicht minder informativ wie der Schnitt der Shakespeare-Dramen. Um Macht geht es in beiden Erzählungen, und Gewalt ist nur eines ihrer Mittel, neben Intrige und Humor – was eben Aufschluss gibt über ein bestimmtes Verständnis politischer Prozesse. Zugleich lernen Zuschauer, dass in einem komplexen Kontext ein Einzelner nicht alles beherrschen kann, zumal es zahlreiche Akteure gibt, die konträre Aktivitäten entfalten. Das ist nicht immer schön, aber lehrreich. Sie lernen, dass Handeln vor allem eines ist: symbolisch aufgeladen. Und dass es immer Interessen dient. Wenn sich die Leute das nicht mal merken!

Diese oder andere exemplarische, ja als Experimentalanordnungen anzuschauende Figurationen kennzeichnen die TV-Serie, die zugleich immer auch das Spiel der andeutungsreichen Hinweise spielen muss, die gelegentlich ins Leere führen – also auch noch etwas wie den unzuverlässigen Erzähler einführen.

Aber dennoch, auch wenn es vielleicht unwahrscheinlich klingt: Die TV-Serien sind unter anderem gerade deshalb erfolgreich, weil sie nicht erzählen, was geschehen ist, sondern ganz vormodernen Prinzipien folgen. Sie erzählen, was aus irgendeinem Grund plausibel ist.

Das Wie ist ihnen dabei aber nicht egal: Sie folgen einem Erzählprinzip, das sie selbst in den Erzählkosmos eingeführt haben, denn sie sind nicht vollständig seriell strukturiert, nicht einmal chronologischen Regeln folgen sie notwendig. Dabei sind sie meist episodenintern realistisch aufgebaut, soll heißen, sie erzählen vergleichsweise konventionell. Erst in der Anordnung und Abfolge der Episoden kommt das avantgardistische Montage-Prinzip vollständig zum Vorschein. Und erst im Blick auf das Gesamte wird erkennbar, welche Assoziationsleistungen Zuschauer vollbringen müssen, um einer Serie zu folgen, deren Erzählrahmen Wochen, Monate oder Jahre umfasst. Sie sind voller Auslassungen und Verweise, die ins Leere führen. Und trotzdem scheinen sie dabei aussagekräftig zu sein.

Auch wenn jede Auswahl der besten TV-Serien aus den letzten 25 Jahren auf Kritik stoßen muss, ist man doch zugleich dankbar dafür, zumal dann, wenn sie derart großzügig und informativ angelegt ist, wie in diesem Fall. Umfangreiche Bildstrecken und eingehende Einführungstexte geben den Blick auf die jeweilige Serie hinreichend frei. Ein Glossar genannter Texte öffnet zudem den Blick auf größere Zusammenhänge, Themengebiete und Motivlinien. Bemängeln mag man, dass die US-amerikanischen Serien dominant sind, während etwa britische und deutsche Formate fehlen. Nun sind die deutschen Sender bei den Serien eher marginal, aber warum etwa die englische Serie „Cracker“ (im Deutschen unter „Für alle Fälle Fitz“) fehlt, verwundert. Gelegentlich wäre es auch schön, wenn nicht alle naselang irgendeine Serie nur Maßstäbe gesetzt hätte. Zum einen, weil das auf Dauer ein bisschen ermüdet, und zum anderen, weil das terminologisch zu den No-Go-Areas gehört, in die sich kein Texter verirren sollte. Sonst aber gibt es nichts zu meckern. Warum auch?

Titelbild

Jürgen Müller (Hg.): Die besten TV-Serien. Taschens Auswahl der letzten 25 Jahre.
Taschen Verlag, Köln 2015.
744 Seiten, 49,99 EUR.
ISBN-13: 9783836542722

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