Entführung in die ‚andere Welt‘

Christa Agnes Tuczay stellt in ihrer Kulturgeschichte „Geister, Dämonen – Phantasmen“ die Bewohner der übernatürlichen Welt vor

Von Svenja MetzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Svenja Metz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was haben nach unserem klischeehaften Bild niedliche, geflügelte Feen und schleimige, monströse, langgliedrige Aliens gemeinsam? Sie sind nicht nur übernatürliche Wesen, sondern – will man Ufologen und Folkloristen glauben – miteinander verwandt, wobei Feen die Vorfahren unserer Besucher aus dem All im 20. Jahrhundert sind. Diese und andere Annahmen über die paranormale ‚andere Welt‘ greift die germanistische Mediävistin Christa Agnes Tuczay in ihrem neuesten Werk Geister, Dämonen – Phantasmen. Eine Kulturgeschichte auf und erklärt sie.

Inspiriert von den Gespenstergeschichten aus ihrer Kindheit richtet die Autorin ihren Blick auf phantastische Wesen und stellt sie hier in den Rahmen der drei monotheistischen Weltreligionen Islam, Judentum und Christentum. Dabei beleuchtet sie nicht ausschließlich die mittelalterliche Vergangenheit, sondern schildert eindrucksvoll, wie sich Funktionen, Praktiken und Vorstellungen über Geister, Dämonen und Phantasmen von der Antike bis in die Gegenwart hinein erstrecken und gewandelt haben. So wird in einem informativen Überblick gezeigt, wie der Geister-, Natur- und Dämonenglaube über die Jahrhunderte hinweg kontextualisiert wurde und in Religionen aufeinander Bezug nahm beziehungsweise nimmt. Naturwissenschaftliche, psychologische und grenzwissenschaftliche Erkenntnismodelle konkurrieren dann schon einmal mit religiösen und esoterischen Glaubenssystemen: Spiritismus, Okkultismus, Besessenheit und Exorzismus sind nur einige der Schlagworte, unter denen Dämonen und Geister beleuchtet werden.

Haus-, Hof-, Wald-, Feld-, Wasser- und Krankengeister oder Krankheitsdämonen, Totengeister oder Wiedergänger, Geister- und Höllenzwänge – die Liste der Geistererscheinungen ist lang, und daran orientieren sich die analytischen Betrachtungen Tuczays. Das Quellenrepertoire bilden zahlreiche Volkserzählungen, Sagen und Märchen; Werke, Autoren, Zauberkünstler und Mystiker, die sich mit der metaphysischen Materie beschäftigt haben sind unter anderem Isidor von Sevilla, Martin Luther, Thomas von Aquin, Platon und Harry Houdini. Beispielhaft finden hier das mittelalterliche Heldenepos Eckenlied, Heinrich Institoris Kramers Hexenhammer, Hans Jacob Christoffel Grimmelshausens Simplicissimus, die dem historischen Faustus zugeschriebene Magia naturalis et innaturalis und Johann Wolfgang von Goethes Erlkönig in unterschiedlicher Ausführlichkeit Erwähnung. Auch werden bekannte und auch weniger bekannte Geschichten genannt: Der Schrätel und der Wasserbär, Der dankbare Wiedergänger und Die kleine Seejungfrau werden zum Teil in groben Zügen wiedergegeben und machen Lust auf mehr. Von besonderem Interesse sind außerdem die regionalen Geistergeschichten und historischen Exkurse wie etwa die vom Winzenburger Hütchen-Geist bei Hildesheim oder dem schlesischen Berggeist ‚Rübezahl‘.

Besonders hier, wie auch schon die genannten Bezugsquellen zeigen, offenbart sich die fachliche Stärke der Mediävistin. Verbindungen zu den modernen Medien und Genres wie Science-Fiction, Horror oder Fantasy, die, wie sie selbst schreibt, Lust am schönen Gruseln und eine Faszination des Grauens lebendig halten, werden allerdings ebenso geknüpft. Besonders im vorletzten Kapitel trägt Tuczay dem modernen filmisch-phantastischen Supranaturalismus Rechnung und verweist auf Bekanntes (beispielsweise The Haunting, The Fog, Ghost Whisperer, Poltergeist, X-Files, The Exorcist I-III). Zudem werden auch Harry-Potter-Fans angesprochen, wobei jedoch der angeregte Leser enttäuscht wird: Denn über Kurzhinweise wie den, dass Dobby ein Hauskobold sei, dessen Gestalt sich zuweilen in der Rezeptionsgeschichte ändern könne, kommt das Buch leider nicht hinaus. Der Schwerpunkt bleibt beim mittelalterlichen und neuzeitlichen Gespenster- und Dämonensujet.

Diese Analysen sind zwar durchaus unterhaltsam und interessant, die Lektüre selbst gestaltet sich jedoch etwas schwerfällig. Kompakt wiedergegebene etymologische, religiöse, grenzwissenschaftliche und historische Informationen sowie viele Quellenangaben und -bezüge schaffen zuweilen den Eindruck eines detaillierten Lexikoneintrags. Besonders zu Beginn des Buches fühlt sich der Leser von den vielen (Basis-)Informationen zu Dämonen und Geistern erdrückt, sodass der Überblick, der sich auch im Vorwort und in der Einleitung nur andeutungsweise eröffnet, fehlt und man orientierungslos im Text herumirrt. Das Bedürfnis zurückzublättern, um selbst Bezüge herzustellen, kann hier und da reizvoll sein, doch hätte man sich insgesamt eine größere erzählerische Gestaltung des Stoffes erhofft. Einzig die vielen kleineren narrativen Passagen lockern den dichten Informationsgehalt auf. Hinzu kommt, dass auf ein Sachverzeichnis ganz verzichtet wurde. Das macht das Buch zu einer Mischung aus wissenschaftlichem Nachschlagewerk und Unterhaltungsliteratur; eine eindeutige Richtung und ein entsprechend nachvollziehbares Konzept wären wünschenswert gewesen.

Die erhoffte Überblicksdarstellung über die Entwicklung des Geister- und Dämonenglaubens über die Jahrhunderte hinweg gelingt Tuczay leider erst im letzten Kapitel. Indem sie die filmische Rezeption des Geister- und Dämonensujets als Bedürfnis nach „den modernen Surrogaten des Religiösen“ erklärt, resümiert sie zugleich, wie sehr Menschlichkeit, Religion und Übersinnliches Hand in Hand gehen, um „Trost, Welterklärung, Gedenken an die Verstorbenen, Sieg des Guten über das Böse, aber auch [die] Wiederherstellung einer gewissen Ordnung“ zu erfahren. Die bereits in ihrem Vorwort und in der Einleitung angedeuteten Inhalte werden so letztlich zu einem übersichtlichen Bild zusammengefügt.

Was bleibt sind anregende Einblicke in die religiöse Ursprungs- und Kulturgeschichte des Geister- und Dämonenglaubens. Moderne Vorstellungen, die durch Massenmedien weite Verbreitung finden, werden von Tuczay erklärt, ergänzt und zum Teil revidiert. „Geister, Dämonen – Phantasmen“ stellt damit trotz der bereits geschilderten Mängel eine gute, zum Teil unterhaltsame Einführungsliteratur dar. Wer tiefer in die ‚andere Welt‘ eindringen möchte, kann sich an die vielen genannten Märchen, Volkserzählungen, Sagen und an die weiterführende Literatur halten.

Tuczays anfänglich gewünschter Blick über den europäischen Rahmen hinaus, auf orientalische und asiatische Kulturen, könnte ein mögliches Zukunftsprojekt darstellen, auf das es sich zu hoffen lohnt, sofern dieses konstruktiver umgesetzt wird.

Titelbild

C. Tuczay: Geister, Dämonen – Phantasmen. Eine Kulturgeschichte.
Marix Verlag, Wiesbaden 2015.
252 Seiten, 5,00 EUR.
ISBN-13: 9783737409728

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