Apokalypse im Dorf

Nis-Momme Stockmann führt in seinem Debütroman „Der Fuchs“ in seelische Abgründe

Von Stefan TuczekRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Tuczek

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Chaos und Ordnung, Schönheit und leidenschaftliche Opposition, Liebe und Leidenschaft. Was bedeuten diese Begriffe noch in unserer heutigen Gesellschaft: Sind sie nicht längst abgegriffen und vollständig sinnentleert? Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass genau in diesem Moment jemand diese Rezension liest, danach essen geht und hinterher zum Sport? Wie hoch, dass irgendwo jemand den Fernseher einschaltet und seine Lieblingssendung schaut, oder dass jemand genau dieses Buch, Nis-Momme Stockmanns „Der Fuchs“, in die Hand nimmt und anfängt zu lesen? Oder hat dies alles gar nichts mit Wahrscheinlichkeit zu tun, sondern ist vorherbestimmt von einer übergeordneten Macht, von gelangweilten Göttern? Nis-Momme Stockmann erzählt in seinem Debütroman von eben diesen Möglichkeiten der Realität, in der alles vorherbestimmt zu sein scheint oder alles einfach sinnlos vor sich hin existiert.

Für Finn Schliemann geht im wahrsten Sinne des Wortes die Welt unter: Als der Deich bricht, wird das Dorf Thule überschwemmt. Finn rettet sich mit seinem Freund Baumann und dessen Freundin Jütte im letzten Moment auf das Dach von Baumanns Haus. Was sich vielleicht noch nach einem Routinefall für den Katastrophenschutz anhört, entpuppt sich schnell als Apokalypse: niemand kommt zur Hilfe, die Menschen sterben, die Welt scheint vollständig unter Wasser zu stehen. Ist diese Katastrophe ein Zufall? Oder wurde sie nicht bereits von Finns Jugendfreundin Katja prophezeit? Während Finn auf dem Dach ausharrt, versucht er sich daran zu erinnern, wie alles angefangen hat; er macht sich Gedanken, wie es zu dieser Katastrophe gekommen sein kann und wo der Anfang von Allem liegt.

Finn wächst als Außenseiter im Dorf Thule auf. Sein Vater hat angeblich Suizid begangen, indem er sich den linken Arm abgeschnitten hat. Sein Bruder ist geistig behindert und Finns Mutter eine gebrochene Frau. Seine einzigen Freunde sind der hyperaktive Albino Tille, der übergewichtige Diego, dem ein Zeh fehlt, und der riesige Baumann, der nur Teil der Gruppe ist, weil er dafür verantwortlich ist, dass Diego den Zeh verloren hat. Physisch und psychisch werden sie immer wieder von den örtlichen Rowdys – den Baschis – gequält. Als Finn auf der Flucht vor den Baschis von der geheimnisvollen Katja gerettet wird, wird sein Leben auf den Kopf gestellt: Plötzlich mutiert das graue und langweilige Dorf Thule zum Austragungsort eines uralten Konflikts von Göttern. Immer wieder taucht ein Symbol – eingeritzt in Steinen und Grabsteinen, als Tätowierungen, auf uralten Bildern – im Dorf auf: zwei Kreise, die sich den Mittelpunkt teilen und von dem aus ein Strich den Radius markiert. Menschen sterben ohne sichtlichen Grund einen gewaltsamen Tod. Und immer wieder taucht ein Agent des Büros – der Klingenmann – auf und versucht den abgetrennten Arm ausfindig zu machen. Mitten in diesem Geschehen befinden sich Katja und Finn, die nach Katjas Vorstellungen eine bedeutende Rolle in allem zu spielen haben. Oder ist all dies nur ein Spiel von ihr, die langsam den Bezug zur Realität verliert und Finn mit sich zu ziehen versucht?

Stockmann beschreibt recht plastisch und eingehend die graue Welt des Dorfes, in der alles öde und langweilig ist. Niemand der Bewohner hat eine wirkliche Perspektive im Leben oder ist in irgendeiner Weise besonders. Es sind die üblichen Säufer und Kleingärtner, die um jeden Preis die vermeintliche Idylle des Dorfs aufrechtzuerhalten versuchen. Doch unter dieser lauert das Grauen und das Böse des Alltags: Tille wird regelmäßig von seinem Vater misshandelt und in einen Schuppen eingesperrt. Lupp, der Onkel der Baschis, trainiert seine Neffen zu wahren Monstern: Er lässt sie mithilfe von Stacheldraht und Käfigen Tiere foltern, sie müssen sich gegenseitig verprügeln und werden von ihm gequält – Brandnarben von Zigaretten und andere Verletzungen zeugen davon. Die Baschis wiederum quälen die anderen Kinder im Dorf, indem sie mit Nagelbrettern und Gaspistolen auf sie losgehen. Es ist das Grauen der Akzeptanz der anderen, die davon wissen und nichts unternehmen, das uns Stockmann vorführt. Das Böse schwelt unter der Oberfläche des Normalen. Stockmanns Thule ist nur eine Projektionsfläche für die Entwicklungen, die in jeder x-beliebigen Stadt, in jedem Dorf stattfinden – Thule bildet im Kleinen die Entwicklungen des Großen ab. Dabei verweigert sich Stockmann vollständig der Guten-Laune-Literatur: Es geht ihm eben nicht darum, eine heile und intakte Welt zu zeigen, sondern eben die Schattenseiten unserer Gesellschaft und dies zum Teil auf radikale Art und Weise – gerade dies macht seinen Debütroman so lesenswert.

Aus der Kinderperspektive von Finn stellt er die Frage nach dem Sinn von alledem: Hat überhaupt irgendetwas Sinn, sei es nur deswegen, weil es eine höhere Instanz gibt, die alles vorherbestimmt hat und das Böse auf der Welt aufgrund eines Plans benötigt – oder ist alles wirklich sinnlos? Und hier setzt Stockmanns Spiel mit der Realität ein – was ist real und was nicht –, denn er beantwortet die Frage nach dem Sinn des Seins sowohl positiv als auch negativ: Immer wieder lässt er seinen Protagonisten darüber reflektieren, ob sein Leben nicht vorherbestimmt ist, ob er nicht nur einer von vielen ist, die normiert werden für das Leben oder ob nicht alles sinnlos ist und sich jeder Erklärung entzieht. Seine Jugendfreundin Katja hat darauf eine andere Antwort als er: Für sie stellt sich erst gar nicht die Frage nach dem Sinn von alledem, denn für sie ist alles eine riesige Verschwörung des Büros, das den Gott Marduk befreien will, der von seinen Göttereltern Tiamat und Abzu eingesperrt wurde. Dabei repräsentiert Marduk die absolute mathematische und symmetrische Ordnung, während Tiamat zwar für das Chaos steht, dies aber eine andere, eine ästhetischere Form von Ordnung ist. In diesem Kampf soll es also um die Etablierung von Ordnungen gehen, wobei das Büro bis jetzt die Oberhand hat und die Ordnung vom Marduk überall zu etablieren versucht. Für Katja ist der Kampf gegen dieses Büro auch ein Ausdruck von leidenschaftlicher Opposition, eine Verneinung der Normalität.

Finn steht dieser Erklärung der Sinnhaftigkeit der Realität recht skeptisch gegenüber, aber er zieht mit Katja mit, zum einen, weil er in sie verliebt ist, aber auch, weil ihre Verschwörungstheorie einen Sinn in die Welt bringt, an dem er so oft zweifelt. Gleichzeitig wird er durch Katjas Erklärung zu etwas Besonderem: Er, der sich klein und unnütz fühlt, der sich so sehr wünscht, der Normalität zu entkommen, wird auf einmal zu einer wichtigen Person. Und hier fängt Finn an, zwischen Selbstüberschätzung respektive Größenwahn und Unterschätzung seiner selbst zu pendeln. Das erschwert die Einschätzung der Figuren, die immer wieder zwischen diesen Polen pendeln, aber das macht sie eben auch so interessant, weil man nie weiß, woran man gerade ist. Und so, wie man sich der Figuren unsicher ist als Leser, so changieren die angesprochen Erklärungen der Welt: Immer wieder werden dem Leser Hinweise darauf gegeben, dass Katja verrückt ist und sich den Götterkampf ausdenkt, während an anderer Stelle das alles widerrufen wird, und die Götter und Agenten selber zu Wort kommen oder andere unbeteiligte Figuren plötzliche unerklärliche Phänomene wahrnehmen. Dass Stockmann sich auch hier verweigert, ganz eindeutig zu sein, und dem Leser immer nur changierende Teile von möglichen Erklärungen gibt, alles als ein riesiges Puzzle aufbaut, darin mag die unerhörte Spannung liegen. Denn als Leser will man wissen, welche Wahrnehmung der Realität richtig ist, ob Finn und Katja einfach nur verrückt sind oder doch eben nicht.

Egal welcher Erklärung man recht geben will, man wird erkennen, dass der Götterkampf eine perfekter Sinn-Überbau für Katja und Finn ist, das heißt egal ob real oder nicht, die Erklärung für all das Leid auf der Welt als Resultat eines göttlichen Plans zu sehen, gibt für die beiden einen Sinn in derselben, die sonst schwer zu ertragen wäre – für Katja wird dadurch die Misshandlung durch ihren Stiefvater, der Hutmacher ist und eine erstaunliche Ähnlichkeit mit dem Klingenmann aufweist, erträglicher, und für Finn bekommt der Tod des geliebten Vaters einen Sinn – er musste beseitigt werden, weil er eine Gefahr für das Büro darstellte. Denn im Dorf ist man sprachlos gegenüber dem alltäglichen Bösen: Niemand redet über die offensichtlichen Misshandlungen, man akzeptiert sie. Dort, wo man darüber nicht sprechen kann, baut man sich eine Welt, in der man diese Traumata verarbeiten kann, um der (vermeintlichen?) Sinnlosigkeit Sinn zu geben.

Stockmann porträtiert zerbrechliche Kinderseelen, die am Abgrund stehen, aus dem einem nichts entgegenhallt, nur die Leere. Gleichzeitig entfaltet sich der Kulturpessimismus des Autors, der deutlich macht, in was für einem System wir leben, das dies zulässt. Ein System, das einfach über Problem hinweggeht und sie zu beschönigen versucht. Dies erkennt auch Finn recht früh, wenn er feststellt, dass sich nie etwas ändern wird – das Problem liegt am System, dass sich zwar mitverändert, aber letztlich im Kern das gleiche bleibt. Die einzige Lösung: Das System vernichten oder sich selbst dem System entziehen, indem man sich in ein Erdloch legt und nichts mehr macht. Denn das System ist ein menschliches und der Mensch ändert sich nicht; er begeht Verrat an sich, indem er seine potenziellen Fähigkeiten und Möglichkeiten nicht wahrnimmt und so bleibt wie er ist – dies ist der Verrat am Guten und die Hinwendung zum Schlechten. Augustinus, Friedrich Joseph Wilhelm Schelling und Arthur Schopenhauer lassen grüßen. Diese Erkenntnis wird den Leser beunruhigt zurücklassen und ihn zum Nachdenken animieren. Vielleicht besteht noch Hoffnung, für unsere Gesellschaft und für den Einzelnen.

Aber vielleicht ist doch alles sinnlos – vorneweg Stockmanns Roman. Dann ist er ein schönes Beispiel für einen Neo-Dadaismus, in dem man nicht immer alles erklären muss, noch weniger die Realität. Stockmann hat mit „Der Fuchs“ einen Roman geschrieben, den man nicht sofort fassen kann, der über mehre Erzählebenen ein dualistisches Konzept von Sinnlosigkeit und Sinnhaftigkeit aufbaut und der mit vielen Erkenntnissen und Einsichten aufwartet.

Titelbild

Nis-Momme Stockmann: Der Fuchs. Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2016.
720 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783498061531

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