Döblin dekonstruiert Shakespeare

Über eine Neuauflage von „Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende“

Von Heribert HovenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heribert Hoven

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Die Emigration war nicht gut“, schreibt Klaus Mann in seiner Autobiographie „Der Wendepunkt“. Und als die Emigranten heimkehrten, mussten die allermeisten erfahren, dass die Lebensumstände keineswegs besser wurden. Die Schriftsteller unter ihnen hatten fast alle Manuskripte im Gepäck, Werke, mit denen sie glaubten, die verlorenen Jahre wieder aufholen zu können, Bücher, in denen sie sich und ihren Lesern den Zustand der Welt und die Ursachen des Unheils zu erklären versuchten.

So auch Alfred Döblin, der Deutschland bereits im Februar 1933 verlassen hatte und nun, im November 1945, im Dienste der französischen Besatzungsbehörde zurückkehrt. Auch er führt umfangreiche Manuskripte mit sich. Er hat den Kopf voller Pläne und erst im August seinen Roman „Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende“ begonnen, den er im Oktober 1946 abschließt. Er ahnt nicht, dass es sein letzter sein wird. Tatsächlich erscheint der Roman erst zehn Jahre später, und zwar in Ost-Berlin, kurz vor Döblins Tod, weil in Westdeutschland kein Interesse an der Veröffentlichung bestand. Allerdings hatte auch der ostdeutsche Rütten & Loening Verlag auf einer Änderung des Schlusses beharrt – doch davon später mehr.

Warum waren die Werke jener Autoren, die noch in der Weimarer Zeit zu den erfolgreichsten gezählt hatten, nach zwölf Jahren Diktatur so unzeitgemäß? Dabei knüpften doch die meisten genau an dem an, was so brutal unterbrochen worden war. Sie bevorzugten weiterhin historisierende Romane in epischer Breite, in denen sie auf einer Metaebene durchaus auch der Gegenwart einen Spiegel vorhielten.

In seinem „Hamlet“ beschreibt Döblin den Verfall einer Familiengemeinschaft. Die Gründe dafür liegen aber nicht so sehr in der Vergangenheit. Der gerade zu Ende gegangene Krieg ist vielmehr der Auslöser. Schwer verwundet kehrt Edward in sein Elternhaus in der Nähe von London zurück. Die lange Rekonvaleszenz führt die Eltern und seine Schwester an seinem Krankenlager zusammen. Seine gesteigerte Sensibilität lässt ihn nach der „Schuld am Krieg“ fragen. Während diese, zumindest politisch, völlig klar ist, geht es ihm dabei allein um die universale Frage, wie das Böse in die Welt kommt. Zugleich – und immer mehr – muss er erkennen, dass der Zusammenhalt der Familie auf einem dunklen Geheimnis beruht. Er will nun, wie Shakespeares Hamlet, das Schweigekartell durchbrechen, auch, wenn durch die entfesselten Wahrheiten eine Katastrophe ausgelöst wird.

Während etwa zur selben Zeit Thomas Mann in der Sagengestalt des „Dr. Faustus“ das Rätsel der deutschen Geschichte zu entschlüsseln sucht, greift Döblin viel weiter aus. Er lässt seine Figuren zu therapeutischen Gesprächsrunden zusammenkommen, wie man sie etwa von Giovanni Boccaccio oder aus Johann Wolfgang von Goethes „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter“ kennt. In tagelangen Sitzungen werden breit gefächerte Exempelgeschichten vorgetragen, die antike und biblische Mythen, spätmittelalterliche Historien und Legenden sowie die Tragödien William Shakespeares („Hamlet“ und „Lear“) zum Thema haben und in denen die „plumpe Wirklichkeit“ bewusst ausgeklammert ist. Im Vordergrund steht vielmehr die Frage, die Döblin bereits in dem 1942 entstandenen Religionsgespräch „Der unsterbliche Mensch“, erschienen 1946, aufgreift und die in gewisser Weise auf die Kantʼschen Probleme – Was ist der Mensch, was soll ich tun, was können wir wissen? – hinausläuft. Bisweilen scheinen in den Kamingesprächen auch die Diskussionen der 1920er-Jahre zwischen Liberalismus und kommunistischem Materialismus wieder aufzuflammen. Die engere Familienproblematik trägt daneben Züge von Sigmund Freuds Psychoanalyse, der Dramen August Strindbergs und gewiss auch der Familiengeschichte Döblins selbst. Bereits diese skizzenhafte Aufzählung macht indes deutlich, warum die  Frage nach den Welträtseln, die einer klassischen Moderne soeben noch so dringlich erschien, den Nachkriegsdeutschen, die Hunger litten und in Ruinen lebten, kaum nahe ging. Dabei lag es auf der Hand, dass sich etwa die Frauen, die gerade dem Grauen der Bombennächte oder den Schrecken der Flucht entkommen waren, kaum mit jenen Rachegelüsten einer biblischen Salome oder einer sagenhaften Medea identifizieren wollten, die Döblins Protagonistin umtreiben. Und in der dann allmählich einsetzenden Aufbruchsstimmung der Währungsunion verstand man wohl nicht den Vater-Sohn-Konflikt, den Döblins Edward/Hamlet zu bestehen hat.

Noch nicht, muss man sagen. Zuerst musste die Leserschaft den oft religiös angehauchten Natureskapismus der inneren Emigranten, die trostlose Kahlschlagliteratur und noch viele weitere literarische Moden verkraften, den französischen Existentialismus, den magischen Realismus der Südamerikaner und Ingmar Bergmans Beziehungsdramen entdecken und bis zu den historischen Exkursionen der Gegenwartsautoren vordringen, um empfänglich zu werden für Döblins narrative Spielfreude, für seine erfrischende Ironie, mit der er ebenso wie mit seiner schnörkellosen Alltagssprache die bekannten Mythen und Tragödien ganz modern dekonstruiert. Erst heute stoßen posttraumatische Belastungsstörungen und Sexualneurosen auf ein allgemeines Interesse. Bereits 1945 regte demgegenüber das Foto eines verwundeten Soldaten auf Krücken aus der Los Angeles Times, das den Umschlag der vorliegenden Ausgabe illustriert, den Seelenarzt Döblin zur künstlerischen Auseinandersetzung an. Der Glaube an die Katharsis-Wirkung der Kunst allerdings, mit der der gläubige Konvertit den Zynismus seiner Zeit zu überwinden hoffte, und das Vertrauen in die Versöhnungsfähigkeit einer allumfassenden Liebe, die der langen Nacht ein Ende beschert („Die Liebe höret nimmer auf“), mag dem heutigen Leser etwas abhandengekommen sein.

Dem Ostberliner Verlag, der den Roman schließlich doch veröffentlichte, erschien der Schluss, in dem sich Edward, versöhnt mit seiner Familie, vor der Welt ins Kloster zurückzieht, nun doch zu eskapistisch. Deshalb ging Döblin erneut ans Werk und entließ seinen Helden zukunftsfroh in „die wimmelnde und geräuschvolle Stadt“, womit wohl auch an den erfolgreichen „Alexanderplatz“-Roman angeknüpft werden sollte.

Anders als sein großer Konkurrent Thomas Mann, dem zu Lebzeiten mehrere Gesamtausgaben seiner Werke und überdies der Nobelpreis, den Ludwig Marcuse nach der Lektüre des „Hamlet“ auch für Döblin einforderte, zuerkannt wurden, erhielt dieser im wieder gemeinsamen Fischer Verlag erst lange nach seinem Tod eine Gesamtausgabe, in deren „Hamlet“-Band nunmehr beide Schlussversionen vereint sind. Gegenüber den rund 600 Textseiten fallen diese, vom Leseerlebnis her gesehen, kaum ins Gewicht, da sie gerade einmal zwei (ursprüngliche Fassung) bis vier Seiten (überarbeitete Fassung) ausmachen. Allerdings weist die Herausgeberin Christina Althen in ihrem lesenswerten Nachwort darauf hin, dass das Kloster mit seinem magnum silentium eine andere Konnotation hat als die Todesstarre am Schluss von Shakespeares Tragödie („the rest is silence“). „Hamlet“, so die Döblin-Expertin, „thematisiert das Paradox, wie aus Hass und Gewalt Vergebung und Liebe wachsen soll.“

Titelbild

Alfred Döblin: Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende.
Herausgegeben von Christina Althen und Steffan Davies.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 2016.
637 Seiten, 14,99 EUR.
ISBN-13: 9783596904723

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